02. April 2024 | Feature

Ein Aufzug in Abidjan

Neue Ausgabe von IRS aktuell zur Geschichte des Auslandsbaus

Geschmückt mit dem Gütesiegel „Made in Germany“ haben Bauunternehmen während des gesamten 20. Jahrhunderts die Globalisierung des Bauens vorangetrieben und davon profitiert. Die neue Ausgabe des Magazins IRS aktuell widmet sich der Geschichte des Auslandsbaus. In ihrem Eingangsbeitrag reflektiert IRS-Nachwuchsgruppenleiterin Monika Motylińska die Aktivitäten der Freigeist-Nachwuchsgruppe „Conquering (with) Concrete“, auf der die Ausgabe zum Großteil basiert.

Made in Germany – in Abidjan?

Auf dem Weg zu einem Projektworkshop entdeckte ich beim Betreten eines Aufzugs in einem der Business-Hotels in Abidjan – der Wirtschaftshauptstadt der Elfenbeinküste und einem der wichtigsten Finanzzentren Westafrikas – ein Schild mit der stolzen Aufschrift „Since 1880 Germany“. Der Hinweis kam vom Hersteller des Aufzugs, Glarie, einem chinesischen Unternehmen aus Suzhou. Unterfüttert wird dieser Claim nur durch nicht nachprüfbare Aussagen auf der Unternehmenswebsite, die in mutigem Englisch behauptet: „With German noble demeanor, we build legendary artistic quality“, und die im weiteren Verlauf auch auf Schloss Neuschwanstein Bezug nimmt. Der Name des Unternehmens taucht allerdings in keiner der bisher von uns ausgewerteten historischen Quellen auf. Dieser Verweis auf Qualität und Vertrauenswürdigkeit in Verbindung mit „Germanness“ mag rätselhaft erscheinen. Doch wie unsere Recherchen in den letzten fünf Jahren gezeigt haben, ist daran nichts zufällig. Überall auf der Welt finden wir Spuren der tatsächlichen oder vermeintlichen Präsenz deutscher Akteure, sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit, seit dem späten 19. Jahrhundert.

Diese Beobachtung der Prävalenz des Labels „Made in Germany“ in der gebauten Umwelt war der Ausgangspunkt für das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Conquering (with) Concrete. German Construction Companies as Global Players in Local Contexts“, das von der VolkswagenStiftung im Rahmen eines Freigeist-Fellowships gefördert und vom IRS kofinanziert wird. Das Projekt läuft von Januar 2020 bis Dezember 2024, eine Verlängerung ist geplant. Wir kombinieren theoretische Ansätze und Methoden aus der Architektur-, Stadt- und Globalgeschichte, der Wirtschaftsgeographie wie auch der Sozialanthropologie und nutzen den Blick auf deutsche Bauunternehmen als Prisma, um die lokalen Auswirkungen des globalen Bauens in verschiedenen zeitlichen und räumlichen Kontexten zu untersuchen.

Diese Forschung zielt darauf ab, einige der wichtigsten Machtstrukturen und eingefahrenen Paradigmen in der Geschichte der gebauten Umwelt aufzudecken – und damit zu verstehen, wie unsere Straßen, Häfen und Krankenhäuser letztlich entstanden sind. Zu den offensichtlichen Rätseln, vor denen wir stehen, gehört die Frage, wie es zu einer Welt kommen konnte, in der das Bauen mit Beton die (fast) unbestrittene globale Norm ist, trotz des Wissens um seine dramatischen ökologischen und sozialen Kosten. Derzeit schließen drei Promovierende ihre Dissertationen im Rahmen oder in enger Abstimmung mit diesem Projekt ab: Die Stellen von María Jeldes und Paul Sprute werden durch das Freigeist-Fellowship finanziert. Juliane Richter ist an der Bauhaus-Universität Weimar beschäftigt, aber mit unserer Forschungsgruppe assoziiert.

Vom Architekturexport zum Auslandsbau

Der Begriff des Auslandsbaus markiert für uns eine Abkehr von einem Begriff, der in der historischen Forschung am IRS bisher verwendet wurde, nämlich dem des Architekturexports. Diese Forschung hatte die Aktivitäten von Planern, Ingenieurinnen und Architekten hervorgehoben, die am Transfer architektonischer Entwürfe und Bautechnologien aus Deutschland (insbesondere der DDR) in andere Länder, oft im „Globalen Süden“, beteiligt waren. Wir erweitern diese Perspektive  um mehrere Dimensionen: die vielfältigen Organisationen und Netzwerke, die am Bau beteiligt sind, die Rolle  der Baumaterialien – ihre Eigenschaften, Stärken und  Grenzen, ihren Fußabdruck in Form von Materialströmen und Infrastrukturanlagen –, den Einfluss lokaler  Bedingungen wie Klima und Boden, die Handlungsfähigkeit, die Interessen und das Wissen der Akteure in den  Zielländern, die Auswirkungen von Großereignissen wie  Krisen und Kriegen sowie die langfristigen Hinterlassenschaften von Bauprojekten. Zusammengenommen ergibt sich ein verwirrenderes und zerklüfteteres Bild als die recht klare Vorstellung vom Architekturexport.

Das Phänomen, dass Baufirmen und Zulieferer wie Material- und Maschinenlieferanten über ihre Herkunftsländer hinaus tätig werden, ist keineswegs typisch deutsch. Es entstand um 1880, parallel zur Industrialisierung der Bauwirtschaft, mit der wirtschaftlichen und politischen Expansion von Akteuren aus dem „Globalen Norden“ (mehr zu dieser Terminologie auf Seite 31), die mit den aktuellen oder aufstrebenden Imperialmächten wie Großbritannien, Frankreich, den USA und eben Deutschland verbunden waren. Zement, Eisen und Holz sowie Verarbeitungsmaschinen, Arbeitskräfte und technisches Wissen waren die notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung imperialer Infrastrukturen wie etwa von Eisenbahnprojekten. Koloniale Expansion und Bauwesen waren eng miteinander verwoben. Dabei war die Handlungsfähigkeit der Wirtschaftsakteure nicht durch politische oder sprachliche Grenzen limitiert. Sie folgten ihrer eigenen Agenda der „Eroberung mit Beton“ (und anderen Materialien).

In dieser Hinsicht sind deutsche Unternehmen ein besonders geeigneter Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Netzwerke und Auswirkungen der globalen Bauwirtschaft. Durch den Verlust der deutschen Kolonien als Hauptabsatzmarkt außerhalb Europas nach dem Ersten Weltkrieg waren Firmen wie die Grün & Bilfinger AG oder die Philipp Holzmann AG gezwungen, ihre Strategien anzupassen und Kunden und Auftraggeber anderswo zu suchen. Die Verbindungen zur deutschen Diaspora in Südamerika und die frühen Erfahrungen in Ländern wie Chile, Brasilien und vor allem Argentinien erwiesen sich in der Zwischenkriegszeit als Vorteil. Wie wir herausgefunden haben, ist es keine Übertreibung zu sagen, dass die Hälfte von Buenos Aires in den 1920er- und 1930er- Jahren von deutschen Unternehmen gebaut wurde. Dies wird von María Jeldes in ihrem Beitrag zu dieser Ausgabe erörtert.

(Un-)erwartete Orte

Bei der Beschäftigung mit Bauunternehmen machten wir unerwartete Entdeckungen. Die spannendsten von ihnen waren nur dank der umfangreichen Datenbank möglich, die wir in einem anderen Artikel in dieser Ausgabe vorstellen. Dieses von uns von Grund auf neu entwickelte Instrument ermöglicht die Analyse von zeitlichen Überschneidungen und komplexen Netzwerken – was für die Identifizierung von Großprojekten, die von privaten Unternehmen außerhalb staatlicher Institutionen durchgeführt werden, von entscheidender Bedeutung ist. Hätten wir nur die in den Beständen der Staatsarchive auffindbaren Projekte verfolgt, etwa die im Rahmen von Entwicklungshilfe, wären wir nie auf die größte Einzelinvestition eines Konsortiums deutscher Firmen außerhalb Europas im 20. Jahrhundert gestoßen: nämlich das Eisenerzabbau-Projekt der Bong Mining Company in Liberia. Paul Sprute stellt in seinem Fotoessay dieses Projekt mit neokolonialen Spuren dar.

Die kartografischen Visualisierungen haben sich auch als hilfreich erwiesen, um die Brennpunkte des Engagements deutscher Bauunternehmen zu identifizieren – wie Nigeria, wo Julius Berger, angefangen mit seinem ersten Projekt, der Second Mainland Bridge in Lagos Mitte der 1960er-Jahre, zum größten Bauunternehmen des Landes wurde. Aber auch andere unerwartete Standorte deutscher Bauunternehmen wurden sichtbar. Bemerkenswerterweise wurde das größte Krankenhaus in Subsahara-Afrika in den 1970er- Jahren von der HOCHTIEF AG in Johannesburg gebaut, trotz der Sanktionen gegen das Apartheidsregime in Südafrika. Dies ist eines der Projekte, die ich in meiner kumulativen Habilitation an der Bauhaus-Universität in Weimar analysiere.

Doch der Auslandsbau war nie nur ein kapitalistisches Phänomen. Auch die DDR war an internationalen Bauprojekten beteiligt, vor allem im Kontext des globalen Sozialismus. Hier können wir an unsere frühere Forschung zum Architekturexport anknüpfen und diese erweitern. Juliane Richter erörtert in ihrem Beitrag, wie sich die Kooperationen und Auseinandersetzungen zwischen Akteuren aus dem Ostblock auf den Baustellen in Kuba überschnitten.

Konfrontation mit dem Risiko

Das Bauen in Übersee galt als äußerst anspruchsvoll und riskant – es konnte zum Scheitern, zum Verlust von Kapital, Maschinen oder Leben führen. Ob in deutschen Quellen über den Eisenbahnbau in Tansania aus der Kolonialzeit, in Handbüchern über den Auslandsbau aus der Zeit des Baubooms der späten 1960er- Jahre oder in der jüngeren Diskussion in bautechnischen Fachmedien: Die Überzeugung, dass Bauen im Ausland eine Reihe spezifischer Fähigkeiten wie Einfallsreichtum, exzellente Organisation und eine maskulin konnotierte Abenteuerlust erfordert, zieht sich durch den Diskurs. All dies wird als notwendig erachtet, um der Gefahr von Tropenkrankheiten, Missverständnissen oder – wie von den deutschen Akteuren häufig unterstellt – mangelnder Qualifikation der einheimischen Arbeitskräfte zu begegnen.

Unsere Untersuchung von Archivquellen, die Sammlung mündlicher Überlieferungen und Ortsbegehungen in den Schwerpunktregionen des Projekts tragen jedoch dazu bei, dieses Bild zu nuancieren. Wir konnten beobachten, wie unvorbereitet die deutschen Akteure auf das waren, was sie vorfanden; wie sie durch ihre eigenen Vorurteile und Annahmen über die „Anderen“ eingeschränkt wurden, wie sie völlig leere Behauptungen über die hohe Qualität ihrer Projekte und Produkte aufstellten und nicht zuletzt, wie sie ihre postkoloniale Attitüde in Taten umsetzten und beispielsweise segregierte Arbeiterlager errichteten.

Es erwies sich als sehr schwierig, die Bauunternehmen und ihre Subunternehmen ausfindig zu machen. Wir kamen aber zu dem Schluss, dass dieses Problem typisch für das Baugeschäft ist, sowohl heute als auch in der Vergangenheit. Es ist eine übliche Strategie der Baufirmen, sich unauffällig zu verhalten und nur durch ihre Werbung oder spektakuläre Projekte sichtbar zu werden. Die oben erwähnte Unauffälligkeit des Aufzugherstellers Glarie passt in dieses Muster. Es ist daher nicht verwunderlich, dass historische Forschung zum Auslandsbau sowohl in methodischer als auch in logistischer Hinsicht ein schwieriges Unterfangen ist. Archive von Bauunternehmen sind entweder nicht vorhanden, nicht leicht zugänglich oder – bestenfalls – stark kuratiert. Dies macht es nötig, die offizielle Erfolgspropaganda gegen den Strich zu lesen, um Spannungen, Konflikte und Misserfolge zu erkennen. Dann müssen die offiziellen Diskurse durch Interviews und Ortsbegehungen mit der Situation vor Ort abgeglichen werden.

Der interdisziplinäre Blickwinkel hat sich besonders bei vielschichtigen Fallstudien als hilfreich erwiesen. Finanzströme und globale Produktionsnetzwerke der Projekte werden mit Methoden der Wirtschaftsgeographie analysiert, wie María Jeldes in ihrem Promotionsprojekt zum U-Bahn-Bau in Buenos Aires und São Paulo zeigt. Die Rolle von Bauprojekten als Portale der Globalisierung beleuchtet Paul Sprute in seiner Dissertation über die Geschichte der von deutschen Bauunternehmen gebauten Häfen in Westafrika. Juliane Richter verbindet Ansätze aus der Architekturgeschichte und der Denkmalpflege, um am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen der DDR und Kuba Zirkulationen von Wissen im sozialistischen Kontext der Globalisierung besser zu verstehen. In meiner eigenen Arbeit über deutsche Bauunternehmen und ihre Transaktionsarchitekturen in Subsahara-Afrika schließlich verbinde ich Theorien aus der Architekturgeschichte und der Sozialanthropologie, um gebaute Projekte als Ergebnis kontinuierlicher Transaktionen und Verhandlungen zwischen verschiedenen, oft ungleichen Beteiligten zu interpretieren.

Unsere Arbeit wäre ohne das breite Netzwerk von Kooperationspartner*innen, insbesondere im „Globalen Süden“, nicht möglich gewesen. Wie unsere Erfahrungen zeigen, erweisen sich dabei die deutschen Rechts- und Förderbedingungen als das größte Risiko – worauf ich in meinem Positionsbeitrag auf Seite 34 eingehe. Es gibt nur wenige Orte, an denen ein solch komplexes Forschungsprojekt an der Schnittstelle von Geistes- und Sozialwissenschaften möglich gewesen wäre. Das IRS in Erkner ist mit seinem interdisziplinären Profil und seinem Interesse an Räumlichkeit und Zeitlichkeit die ideale Gastinstitution. Am IRS erhielt das Team, das im Rahmen des Freigeist-Projekts zusammenarbeitet, einen formellen organisatorischen Status als permanente IRS-Forschungsgruppe mit dem Namen „Geschichte der gebauten Umwelt“ innerhalb des Forschungsschwerpunkts „Zeitgeschichte und Archiv“. Dieser Status unterstreicht unser Bestreben, unsere Forschungsagenda über den Rahmen des ursprünglichen Projekts „Conquering (with) Concrete“ hinaus zu erweitern.

Der Ausstieg aus dem Aufzug

Alle Zwänge und Risiken eines anspruchsvollen Forschungsprojekts hielten uns nicht davon ab, die interdisziplinäre Forschung zur globalen Geschichte der gebauten Umwelt weiter zu verfolgen. Der Glarie-Aufzug mit seiner „legendären künstlerischen Qualität“, der angeblich „seit 1880“ aus Deutschland stammt, war ein Zufallsfund auf dem Weg zum Auftaktworkshop des deutsch-flämisch-ivorischen Projekts „Constructing Transport Architecture in West Africa“, kurz CTRAAF. Dies ist eines der Spin-off-Projekte der Freigeist-Forschungsgruppe, das den Blickwinkel von den globalen Auftragnehmern auf eine Vielzahl lokaler Akteure verlagert, die am Bau von Verkehrsinfrastruktur beteiligt sind. Darüber hinaus fließen unsere Beobachtungen zur Rolle der Auftragnehmer in das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Netzwerk zur (post-)kolonialen Wirtschaftsgeschichte und in die Postdoc-Forschung von Ksenia Litvinenko zur mobilen Architektur im Zusammenhang mit Rohstoffprojekten in Westsibirien ein. Diese Vielfalt an Forschungsperspektiven ist notwendig für eine interdisziplinäre globale Geschichtsschreibung der gebauten Umwelt. Diese begann damit, dass wir die Propaganda vom Erfolg des Auslandsbaus in Frage stellten.

Text: Monika Motylińska

Weitere Beiträge aus dieser Ausgabe werden in den kommenden Monaten online veröffentlicht und hier verlinkt.


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