23. Juli 2024 | Feature

Digitalisierte Stadtplanung: Ein neues Nord-Süd-Gefälle?

Die Nutzung digitaler Tools in der baulichen Planung ist inzwischen weltweit gelebter Standard. Das hat die Planungspraxis grundlegend verändert – und verstärkt potenziell bereits bestehende Ungleichheiten zwischen dem „Globalen Norden“ und dem „Globalen Süden“. Zu diesem Ergebnis kommt das Team des IRS-Projekts „Digitale städtebauliche Planungen“.

Die Arbeit von Planungsbüros weltweit, wie die praktisch aller anderer Branchen auch, stützt sich inzwischen selbstverständlich auf digitale Technologien. Dabei geht es jedoch nicht nur um die üblichen digitalen Kommunikations- und Organisationssysteme, die in allen Büros genutzt werden. Planungsbüros nutzen spezifische Anwendungen, mit denen Räume datengestützt abgebildet, modelliert, analysiert, visualisiert und auch – zunächst im Modell, später in Wirklichkeit – verändert werden. Eine Reflexion über diese Art der Digitalisierung und ihre gesellschaftlichen Folgen ist dringend geboten, findet aber noch viel zu wenig statt. Am IRS haben wir in den letzten Jahren intensiv die Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen untersucht. Der Fokus lag dabei auf sozial-räumlichen Transformationen, also auf der Veränderung konkreter Räume und ihren sozialen Dimensionen. In einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration von Räumen“ der Technischen Universität Berlin widmeten wir uns von 2018 bis 2021 den „Digitalen städtebaulichen Planungen“. Geleitet von der Autorin dieses Textes waren daran mit Martin Schinagl und Sophie Mélix noch zwei weitere Mitarbeiter*innen am IRS beteiligt. Die beiden letzteren legten zusätzlich Dissertationen zu dem Thema vor. Unsere Kernfrage, auf die wir in unserem Projekt Antworten suchten, lautete: Gibt es globale Gemeinsamkeiten bei aktuellen Planungspraktiken, die auf die Digitalisierung zurückzuführen sind, und die unabhängig von verschiedenen kulturellen Kontexten auftreten?

Forschung in Afrika, Europa und Nordamerika

Erste Literaturanalysen zeigten uns bereits zu Beginn des Projektes, dass es sich beim digitalisierten Planen tatsächlich um ein globales Phänomen handelt – gute Voraussetzungen also, um die Auswirkungen der Digitalisierung in verschiedenen Weltregionen zu untersuchen. Wir waren uns dabei bewusst, dass spezifische Stadtplanungskulturen, nationale Planungssysteme, aber auch übergreifende kulturelle Spezifika Planungspraktiken prägen können. Unsere Kernfrage war deshalb in diesem Spannungsfeld zwischen globaler Verbreitung und lokaler Spezifik verortet. Um möglichst unterschiedliche kulturelle Kontexte berücksichtigen zu können, wählten wir vier Städte in drei Ländern aus: New York City (USA/Nordamerika), Frankfurt am Main und Berlin (Deutschland/Europa) sowie Lagos (Nigeria/Afrika). Insgesamt haben wir in den genannten vier Städten über mehrere Wochen empirische Daten erhoben. Wir sprachen mit über 50 Planer*innen und Expert*innen, und besuchten zwei Dutzend private Planungsbüros und öffentliche Planungsbehörden, die wir teilweise auch bei ihrer Arbeit beobachten durften. Alle der von uns ausgewählten Einrichtungen verfügen über langjährige Erfahrungen mit digitalen Tools und haben zahlreiche Stadtplanungsprojekte damit durchgeführt. Zusätzlich werteten wir für unsere Analyse Dokumente aus.

Digitalisierung in der Planung – weltweit, aber zeitversetzt

Wenig überraschend stellte sich schnell heraus, dass die USA, und insbesondere New York City, in Sachen digitaler Planung schon seit den 1990er-Jahren Vorreiter sind; gefolgt von Deutschland, wo seit den 2000er- Jahren mit digitalen Werkzeugen experimentiert wird. Nigeria zählt hingegen zu den Spätentwicklern, hat in den 2010er-Jahren aber deutlich aufgeholt und entwickelt sich innerhalb Afrikas recht dynamisch. Das Land nimmt damit innerhalb Afrikas eine Vorreiterrolle ein. Insgesamt konnten wir feststellen, dass an den vier untersuchten Orten der Einsatz von digitalen Tools – wie etwa von geographischen Informationssystemen (GIS) – im Planungshandeln weit verbreitet und auffallend ähnlich ist, und das, obwohl die kulturellen Kontexte so unterschiedlich sind.

Geographische Informationssysteme sind umfassende Datenbanken, in welchen Daten nicht nur thematisch sortiert, sondern räumlich verortet sind. Diese Systeme gestatten neben der Erfassung von Geodaten auch deren Analyse und Darstellung in Form von Karten oder 3D-Szenarien. Dafür müssen die räumlichen Gegebenheiten natürlich zunächst einmal grundlegend erfasst und kartiert worden sein. Hier stellten wir zwischen Lagos und den anderen drei Städten Unterschiede fest: Während in den USA und Europa bereits umfassende Datenbanken bestehen und aktuell deren Vernetzung und Verbesserung vorangetrieben wird, steht in der Mega-City Lagos die Datenerfassung noch am Anfang. Für diese Ersterfassung werden nicht etwa Vermessungsteams losgeschickt, sondern Drohnen.

Was wir außerdem herausfanden: Die Planungspraxis findet oft nicht (mehr) vor Ort statt. Zunehmend werden Planungsprojekte translokal, also arbeitsteilig und standortübergreifend, oft sogar global verteilt, bearbeitet. Dies erfordert nicht nur die Ausstattung mit den gängigen digitalen Technologien an allen beteiligten Standorten, sondern etwa auch gemeinsame Serverstrukturen und VPN-Tunnel. Die hohen Kosten, die für die Anschaffung und Wartung der beschriebenen digitalen Tools anfallen, spielen in Nigeria noch immer eine Rolle, während sie in den Städten des „Nordens“ bereits eingepreist sind.

Digitale Daten ersetzen Präsenz vor Ort

Getrieben und ermöglicht wird dieses translokale Vorgehen durch die „Datafizierung“ von Räumen. Die digitale Erfassung von immer mehr Räumen mit verschiedensten Parametern hat bereits – zumindest in der nördlichen Hemisphäre – in größtem Ausmaß stattgefunden. Die Bereitstellung und Vernetzung dieser digitalen Daten in GIS-Datenbanken hat die Planungspraxis schon heute stark verändert: Planende verlassen sich zunehmend auf Daten und strukturieren Räume auf deren Basis weiter – teilweise ohne, dass sie selbst schon einmal vor Ort waren. Überwiegend technisierte Konstruktionen von Raumwissen durch GIS und digitale Kartendienste ersetzen zunehmend Begehungen und physische Präsenz.

Der Mangel an direkter Interaktion mit den räumlichen und kulturellen Kontexten der geplanten Räume wird – so vermuten wir – in Zukunft zunehmend standardisierte und rationalisierte Planungsergebnisse hervorbringen. Für Länder des „Globalen Südens“ könnten solche Entwicklungen einen Verlust an Kontrolle und Autonomie bedeuten, und zwar darüber, wie ihre eigenen (Stadt-) Räume geplant und gestaltet werden.

Untermauern lässt sich diese Deutung am Beispiel des Unternehmens Kohn Pedersen Fox (KPF), wie Martin Schinagl herausarbeitete. 1976 in New York City gegründet, hat sich das Unternehmen inzwischen zu einem typischen Global Player in der Welt der räumlichen Planung entwickelt. In dem Unternehmen arbeiten heute mehr als 700 Mitarbeiter*innen an neun Standorten in der nördlichen Hemisphäre, darunter in London, Shanghai und Berlin. So soll eine kontinuierliche und schnelle Bearbeitung von Projekten im Zeitablauf über den Globus hinweg ermöglicht werden. Die Standorte der Planungsprojekte und -gebiete von KPF sind – und auch das ist typisch – im Gegensatz zu den Arbeitsstandorten weltweit verteilt und umfassen durchaus auch solche im „Globalen Süden“.

Ein neues altes Gefälle

Als wir die Niederlassungen und die Projektstandorte der von uns untersuchen Planungsbüros näher betrachteten, wurde dieses räumliche Muster noch einmal deutlicher: Es zeigten sich vernetzte und weitreichende Aktivitäten, und damit eine globale Verteilung der Planungspraxis. Gestützt auf digitale Infrastrukturen können Global Player mit bis zu mehreren tausend Mitarbeitenden eine weltweite Reichweite erreichen und komplexe und kapitalintensive Projekte umsetzen. Die Verteilung zeigt dabei aber gleichzeitig auch räumliche Disparitäten auf: Die digitalisierte Planungspraxis erfolgt zunehmend nur in eine Richtung: vom „Globalen Norden“ in den „Globalen Süden“. Einen Global Player aus Lagos gibt es (bis heute) nicht.

Was also sichtbar wurde, und im Übrigen auch in zahlreichen Interviews erwähnte wurde, ist ein deutliches „Nord-Süd-Gefälle“ bei der digitalen Planung. Damit ist das, was die Digitalisierung in der Planungspraxis eigentlich ermöglicht, nämlich das gemeinsame Erarbeiten von Raumwissen und Planungsideen über große Distanzen hinweg, unter den Planungsakteuren weltweit ungleich verteilt. Die Digitalisierung der Planungspraxis an sich hat dominante, teilweise hegemoniale oder postkoloniale Machtstrukturen und Ungleichheiten auf globaler Ebene nicht überwunden. Stattdessen wurden sie reproduziert. Es bleibt abzuwarten, ob Länder des „Globalen Südens“ diese ungleich verteilte Planungspraxis künftig als eine Form der „digitalisierten Kolonialisierung“ durch Länder des „Globalen Nordens“ wahrnehmen werden.

Leider war es auch uns nicht möglich, uns intensiv mit unseren Fachkolleg*innen aus Nigeria zu unseren Daten, Befunden und Schlussfolgerungen auszutauschen – ganz anders als wir es angestrebt und geplant hatten –, denn die COVID-19-Pandemie hat unsere Forschungen, gerade in Nigeria, stark eingeschränkt. Die Erforschung der Auswirkungen der Digitalisierung muss auch daher fortgesetzt, und die Debatte über ihre Auswirkungen auf sozialräumliche Transformationen weltweit geführt werden.

Text: Prof. Dr. Gabriela Christmann

 

Der Sonderforschungsbereich 1265 „Re-Figuration von Räumen“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Das IRS ist über den Forschungsschwerpunkt „Ökonomie und Zivilgesellschaft“ am SFB beteiligt, dessen Koordination bei der Technischen Universität Berlin liegt. Der SFB läuft seit 2018 und befindet sich in seiner zweiten Förderphase (2022-2025). Das Projekt „Digitale städtebauliche Planungen: Planerisches Handeln und materiell-physische Anordnungen“ (2018-2021) wurde am IRS im Rahmen des SFB bearbeitet.


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