17. Dezember | 2020

Das IRS und die Krise

Als im März 2020 der Lockdown zur Eindämmung der Coronapandemie begann, wurden die Arbeitsroutinen des IRS, wie die vieler anderer Einrichtungen auch, massiv aus dem Takt gebracht. Doch schnell etablierte sich ein neuer Modus des Arbeitens: Mit Homeoffice und Online-Kommunikation konnten nicht nur Schreib- und Organisationsaufgaben bewältigt werden – auch für Veranstaltungen und teils sogar für empirische Forschung bewährte sich virtuelles Arbeiten. Und manche Forschungserkenntnisse kamen schneller zur Anwendung als gedacht.

Am 26. Februar 2020 schrieb Verena Brinks an ihr Projektteam, sie habe an diesem Tag zum ersten Mal das Wort „Coronakrise“ in den Medien gelesen. Als sich in den Wochen davor die von der WHO gerade als „SARS-CoV-2“ benannte Krankheit zunächst in China und dann in immer mehr Ländern ausgebreitet hatte, hatte das Wort gewissermaßen in der Luft gelegen. Krisenstäbe waren eingerichtet worden. Ein wachsendes Bedrohungsempfinden, Handlungsdruck und grundlegende Unsicherheit über das Verhalten des neuen Virus wie auch über Möglichkeiten ihm zu begegnen herrschten – alles Definitionsmerkmale einer Krise. Brinks, Juniorprofessorin an der Universität Mainz und Alumna des IRS, forscht gemeinsam mit IRS-Forscherin Tjorven Harmsen und IRS-Direktor Oliver Ibert im BMBF-Projekt „RESKIU“ über die Rolle von Beratung in Krisen. Von Oliver Ibert wird das IRS außerdem im Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ vertreten.

Die Coronakrise wurde von Erkner aus also von Beginn an durch die Brille der sozialwissenschaftlichen Krisenforschung betrachtet. Dennoch kam die Wucht, mit der die Coronakrise den Alltag in Deutschland veränderte, auch für das Institut überraschend. Am 16. März, als absehbar war, dass das gewohnte Muster von Präsenzarbeit, reger Reisetätigkeit, internationalen Gastaufenthalten und gut besuchten Veranstaltungen nicht zu halten war, richtete auch das IRS einen Krisenstab ein. Dieser schickte das Institut umgehend in den Notbetrieb, was für fast alle Beschäftigten bedeutete: Homeoffice. Bis auf Hausmeister und Empfang blieb das IRS-Gebäude von da an leer, lediglich der Krisenstab selbst kam zunächst täglich zusammen, um, wie es im Krisenmanagement heißt, „vor die Lage zu kommen“.

Den Betrieb sichern

20 „Updates“ hat der Krisenstab seither per Mail an alle Beschäftigtenn verschickt, unzählige Einzelprobleme bearbeitet, von der Vereinfachung von internen Antragsprozeduren bis zur Verlängerung von Stellen und Projekten. Aus dem strengen Notbetrieb, der fast keine Präsenzarbeit und keine Präsenzveranstaltungen erlaubte, stieg das IRS im Juni in einen „gelockerten Notbetrieb“ um, der sehr eingeschränkt und unter Einhaltung eines Hygienekonzepts Präsenzarbeit gestattet. Weitere Lockerungsstufen auf dem eigens ausgearbeiteten Stufenplan konnten bislang nicht erreicht werden – zu instabil ist die Lage, zu dynamisch entwickeln sich in jüngerer Zeit die Infektionen. Und doch hat das IRS in dem dreiviertel Jahr seit Beginn der Coronakrise (zumindest in Deutschland) wertvolle Lektionen gelernt, die das weitere Handeln des Instituts prägen werden.

Die Öffentlichkeit erkannte in den Wochen des Lockdowns mit neuer, hoffentlich anhaltender Wertschätzung, dass nicht nur Katastrophenschutz und Rettungsdienste, sondern auch beispielsweise Supermarktangestellte und Pflegekräfte zu den absolut unverzichtbaren Leistungstragenden der Gesellschaft gehören. Eine vergleichbare Erfahrung machte das IRS in den ersten Wochen des Lockdowns, als die Sicherung von Verwaltungsabläufen und der IT-Infrastruktur sowie das Gebäudemanagement zu den dringlichsten Aufgaben des Krisenstabs zählten und die entsprechenden Fachkräfte essenzielle Präsenzarbeit leisteten. Der Umstand, dass Verwaltungsprozesse noch unzureichend digitalisiert waren, erwies sich als große Hürde. Diese Baustelle wird das Institut angehen.

Den allgemeinen Ansturm auf Laptops und Webcams zu Beginn des Lockdowns bekam auch die IT des IRS zu spüren. Besonders die Hardware-Ausstattung des Instituts, die nicht für mobiles Arbeiten als Regelfall ausgelegt war, wurde zum Flaschenhals. Anspruchsvoll gestaltete sich auch die Suche nach Videokonferenz-Diensten, die stabil laufen und den verschiedensten Ansprüchen an Team- und Außenkommunikation genügen. Insgesamt lief der Umstieg auf virtuelle Formate in der hausinternen Zusammenarbeit jedoch erstaunlich gut. „Bei uns läuft die Teamkommunikation sogar besser als zuvor“, sagt Wolfgang Haupt, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“. Vor dem Lockdown seien Team-Treffen auf Grund der hohen Termindichte schwierig zu organisieren gewesen. „Jetzt treffen wir uns spontaner und deutlich öfter online.“ Die IRS-Leitung gab ihrerseits die Devise aus, die Forschenden sollten die neuen Umstände konsequent als Gelegenheit nutzen, um neue Arbeitsweisen zu erproben.

Chancen und Herausforderungen für die Forschung

Als schwierig zu kompensieren erwiesen sich die Einschränkungen durch die Pandemie jedoch bei der empirischen Forschung selbst. Zahlreiche IRS-Projekte, besonders im Drittmittelbereich, sehen intensive Feldarbeit und damit lange Forschungsreisen vor – in Europa, Afrika, Asien und Amerika. „Wir mussten unsere Auslandsfeldforschungen in Nigeria und Estland aufgeben. Es lässt sich nicht alles über Skype-Interviews erheben, vor allem wenn man ethnographisch arbeiten will“, erklärt Gabriela Christmann, die unter anderem das DFG-Projekt „Digitale städtebauliche Planungen“ mit Fallstudien in New York und Lagos leitet. Wie wichtig es ist, sich vor Ort umzusehen, die konkreten Bedingungen selbst zu erleben, betont auch Jana Kleibert, Leiterin der Leibniz Junior Research Group TRANSEDU, die Internationalisierungsstrategien von Universitäten beleuchtet. „Wir hatten gerade die zweite Datenerhebungswelle gestartet, als der Lockdown kam“, schildert Kleibert. „Wir mussten unser Team zurückholen, teilweise mit dem letzten Flug.“ Monatelange Vorbereitungsarbeiten der mehrwöchigen Forschungsreisen nach Frankreich und in die Golfregion seien umsonst gewesen.

Andererseits zeigten sich vereinzelt auch Vorteile von Online-Formaten, etwa im Projekt MaFoCi, das die Klimastrategien mehrerer Großstädte im Ostseeraum vergleicht. „Die langwierige Planung von Dienstreisen ist oft nicht mit dem Arbeitsalltag potenzieller Interviewpartner vereinbar“, sagt Wolfgang Haupt. „Wir vereinbaren Interviews jetzt flexibler online“. Eine Fokusgruppe mit Fachleuten der Stadtverwaltung von Turku (Finnland) sei online sogar deutlich produktiver verlaufen, weil es möglich war, die Wissenschaftlerin live zuzuschalten, die die Vergleichsfallstudie in Groningen (Niederlande) bearbeitete. „Wir waren aber schon an allen unseren Fallstudien-Orten, wir haben Kontakte und kennen die lokalen Bedingungen“, grenzt Haupt ein. „Ich weiß nicht was aus unserer Forschung geworden wäre, wenn der Lockdown im Oktober 2019 begonnen hätte“.

Laufende Projekte nahmen sich des Themas an. Das Team des DFG-Projekts DeReBord, das Alltagspraktiken der Grenzziehung entlang der deutsch-polnischen Grenze untersucht, nahm die Konsequenzen der Grenzschließung in seine Datenerhebung auf. Das Leitprojekt der Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“, das Diskurse um kritische Infrastrukturen am Beispiel der Energiewende und der Klimaanpassung untersucht, erweiterte seinen Blick, um die Debatte um das Gesundheitswesen als kritische Infrastruktur mit abzubilden. In einem Sonderheft der Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie erschienen zwei Artikel von Forschenden des IRS zu sozialräumlichen Dynamiken der Coronapandemie.

Neben Problemen bei der Datenerhebung schlägt auch der organisatorische Mehraufwand für Projektverlängerungsanträge zu Buche. Bei neuen Projekten wird mittlerweile intensiv mit Online-Formaten geplant, auch wenn diese Forschungsreisen letztlich nicht ersetzen können. Methodische Notfalloptionen für den Fall einer lang andauernden Pandemie gehören mittlerweile zur Antrags- und Projektplanung. Thematisch wird die Coronakrise in nächster Zeit eine prominente Stellung in der IRS-Forschung einnehmen. Jüngst bewilligte beispielsweise die Regional Studies Association einen Forschungsantrag für ein Projekt über die Auswirkungen von COVID-19 auf Auslandscampusse von Hochschulen. Weitere Projekte sind in der Beantragung.  Mit Sorge schauen Forschende allerdings auf die künftigen Möglichkeiten sich international zu vernetzen. „Konferenzen fallen weg, vor allem die besonders ergiebigen Flurgespräche am Rand der offiziellen Sessions. Das macht es schwierig sich in der Community zu orientieren“, sagt Matthias Bernt, kommissarischer Leiter der Forschungsabteilung „Regenerierung von Städten“.

Bei Veranstaltungen, die durch das IRS organisiert werden, überwiegt wiederum der Aspekt des kreativen Experimentierens. „Veranstaltungen wie Workshops und Konferenzen lassen sich aus unserer Sicht sehr gut virtuell durchführen, was wir auch tun“, sagt Gabriela Christmann. „Faktisch haben wir nichts, was bei uns für 2020 auf der Agenda stand, abgesagt.“ So richtete Christmanns Forschungsabteilung im September die Abschlusskonferenz des Projekts RurAction zu sozialen Innovationen in ländlichen Räumen online aus, mehrere thematisch verwandte Transferveranstaltungen wurden ebenfalls online abgehalten.

Zentrale IRS-Veranstaltungen wie die IRS International Lecture on Society and Space und das Brandenburger Regionalgespräch wurden auf Online-Formate umgestellt, Video- und Audioaufzeichnungen werden veröffentlicht. Gerade die International Lecture eignet sich dafür. „Wir erreichen mit der Lecture jetzt ein größeres und noch stärker internationales Publikum, und auch mehr Sichtbarkeit in sozialen Medien“, sagt Sarah Brechmann vom Bereich Wissenschaftsmanagement und -kommunikation. Zwei Lectures fanden bisher online statt: Im Mai 2020 sprach der kanadische Journalist Doug Saunders über „Arrival Cities“, im September sprach der britische Geograph Mark Shucksmith über soziale Exklusion in ländlichen Räumen. Im Juni diskutierte außerdem IRS-Forscherin Madlen Pilz im ersten Online-Regionalgespräch mit Stefanie Kaygusuz-Schurmann von der Stadtverwaltung Cottbus und René Wilke, Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), über Ankunftsquartiere in ostdeutschen Städte. Das Gespräch wurde als Audioaufzeichnung im IRS-Podcast Society@Space veröffentlicht. Das Regionalgespräch zu der Frage, ob „Ostdeutschland“ heute noch eine valide Kategorie darstellt, wurde in Form einer Videokonferenz durchgeführt und wird im Videokanal des IRS veröffentlicht.

Kompetenz in der Krisenforschung

Auch die wissenschaftliche Krisenkompetenz fand in der Coronakrise schnell den Weg in die Öffentlichkeit. In „Crisis Calls“ etwa, dem Leibniz-Videopodcast zur Coronakrise, diskutierte Oliver Ibert das Missverhältnis zwischen einer definitionsgemäß globalen Pandemie und der Dominanz nationaler Lösungsstrategien. In einem Interview mit Leibniz-Transfer erklärt er, wie Experten in Krisen handeln und wie wissenschaftliche Expertise in Krisen wirksam wird. In der Deutschen Welle äußerte sich IRS-Forscherin Ariane Sept zur „Stadtflucht“ in der Coronakrise. In zahlreichen Blogs wie dem Corona-Blog der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, dem Blog des Sonderforschungsbereichs „(Re)figuration von Räumen“ und dem Blog des Viadrina Centers „B/ORDERS IN MOTION“ posteten Forschende des IRS außerdem wissenschaftliche Einordnungen, Beobachtungen aus der Forschung und Reflexionen über neue Alltagspraktiken.

In der Summe hat die Coronakrise im IRS starke Lerndynamiken ausgelöst, deren Auswirkungen sich weit über die Pandemie hinaus manifestieren werden – besonders in der Digitalisierung von Abläufen, der Online-Zusammenarbeit und im mobilen Arbeiten. Auch in der Forschung wird die Krise in Zukunft (weiter) stark präsent sein. Dennoch hoffen die IRS-Beschäftigten auf ein baldiges Ende der Pandemie.