04. Dezember 2025 | Feature

„Villenviertel sind ein weitgehend blinder Fleck – gerade wenn es um ihre soziale Bedeutung und langfristige Entwicklung geht“

Interview mit Eva Maria Gajek

„Gute Adressen“ sind vielen ein Begriff. Aber wie wurden sie zu dem, was sie sind? Das Forschungsprojekt „RichMap – Where the Rich Live“ untersucht deutsche Villenviertel des Langen 20. Jahrhunderts. Eva Maria Gajek, Historikerin im Forschungsschwerpunkt „Zeitgeschichte und Archiv“, ist Ko-Leiterin des Projektes.

Liebe Frau Gajek, das Projekt, das Sie seit Mai zusammen mit Kerstin Brückweh leiten, trägt den Kurztitel „RichMap“. Um was geht es da – eine reiche Landkarte oder eine Karte der Reichen?

Beides! Der Titel „RichMap“ spielt mit dieser Doppeldeutigkeit. Es geht um eine Karte, auf der wir Transformationen von Villenvierteln in Ost- und Westdeutschland im 20. Jahrhundert nachzeichnen wollen. Diese Orte werden in der Öffentlichkeit oft mit Reichtum verbunden. Wir wollen uns diese Orte aber einmal genauer anschauen und untersuchen, wie bestimmte Stadtteile zu „guten Adressen“ wurden, wie sie ihren exklusiven Status behaupten konnten oder auch verloren haben, welche Kontinuität und Brüche sich in ihrer Geschichte zeigen – und was das über gesellschaftliche Ungleichheit, urbane Entwicklung und die symbolische Bedeutung von Reichtum erzählt. Dabei soll die Karte aber nicht nur Orte nennen – das wäre datenschutzmäßig auch schwierig -, vielmehr geht es uns um eine Sichtweise auf diese Viertel aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Quellen: von Fotografien und Audiodateien über Archivdokumente und diversen Kartierungen bis hin zu Sozialdaten anreichen und sie damit „dicht“ machen, eine Rich Map also.

Warum ist es wichtig, dass wir uns mit Villenvierteln beschäftigen, und was ist neu daran?

Die Forschung hat sich bislang vor allem mit Großraumsiedlungen, Arbeitervierteln oder marginalisierten Stadtteilen beschäftigt. Diese wurden dabei nicht selten als politisches „Problem“ markiert, auch um soziale Ungleichheit in der Gegenwart zu verstehen und zu begegnen. Villenviertel sind ein weitgehend blinder Fleck – gerade wenn es um ihre soziale Bedeutung und langfristige Entwicklung geht. Zwar wissen wir inzwischen recht viel über ihre Entstehung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber erstaunlich wenig über ihre Transformationen im weiteren Verlauf. Besonders spannend ist das mit Blick auf ostdeutsche Villenviertel, die gleich zwei tiefgreifende Umbrüche erlebten: erst durch die sozialistische Umnutzung in der DDR und dann durch Neuordnungen der Eigentumsverhältnisse, Investitionen oder symbolische Aufwertungen nach 1989. Diese Prozesse sind bislang kaum erforscht, obwohl sie zentrale Fragen von Eigentum, Raumordnung und sozialer Ungleichheit aufwerfen. Denn Villenviertel sind nicht nur als ein Ort zu verstehen, an dem man wohnt, sondern der durch Immobilienbesitz und soziales Kapital Ungleichheitsstrukturen langfristig festschreiben kann. Das ostdeutsche Beispiel zeigt aber auch, dass diese Räume, die auf den ersten Blick stark mit Kontinuität und Homogenität verbunden sind, eben auch Wandel und Heterogenität prägt, und das herauszuarbeiten ist besonders reizvoll.

In RichMap treffen sich geschichtswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Forschung. Was ist jeweils das Interesse der beiden Seiten? Und was ist der Mehrwert einer Kooperation?

Die Geschichtswissenschaft fragt danach, wie sich Villenviertel historisch herausgebildet haben, welche Akteure daran beteiligt waren und wie sich Bedeutungszuschreibungen im Laufe der Zeit verändert haben. Die Sozialwissenschaften in diesem Projekt interessieren sich stärker für gegenwärtige soziale Dynamiken – darunter Nachbarschaften, Exklusionsmechanismen oder symbolische Raumproduktion. In der Kombination können wir historische Tiefenschärfe mit gegenwartsbezogenen Analysen verbinden. Denn viele heutige Ungleichheitsstrukturen haben historische Wurzeln – wer wo wohnen konnte, wer Eigentum behalten durfte oder verlor, hat langfristige Folgen für Stadträume und gesellschaftliche Teilhabe. Die Verbindung von Geschichts- und Sozialwissenschaft hilft also auch, aktuelle soziale Spaltungen besser zu verstehen. Ein zentrales verbindendes Element ist die Karte – nicht nur als Visualisierungstool, sondern auch als methodisches Instrument. Wir fragen: Wie lässt sich Reichtum kartieren bzw. ist das überhaupt möglich? Welche Geschichten und Bedeutungen werden dadurch sichtbar, welche bleiben unsichtbar? Die Entwicklung so genannter dichter Karten („Thick Maps“) ist daher ein gemeinsamer methodischer Innovationsraum, in dem beide Disziplinen produktiv zusammenarbeiten.

In diesem Projekt kooperiert der Forschungsschwerpunkt „Zeitgeschichte und Archiv“ des IRS mit zahlreichen anderen Gruppen und Einrichtungen. Wie würden Sie dieses Netzwerk beschreiben und was bringt jede Seite ein?

Unser Netzwerk ist nicht nur interdisziplinär, sondern auch international aufgestellt. Historiker*innen, Stadtforscher*innen, Soziolog*innen, Geograph*innen und Kartierungsexpert*innen arbeiten zusammen – aus Deutschland, aber auch aus Großbritannien, der Schweiz, Australien und Italien. Diese internationale Perspektive hilft uns, die Besonderheiten des deutschen Stadtraums, seiner Villenviertel und seiner Reichtumskultur besser zu verstehen und vergleichend einzuordnen. Besonders wichtig ist uns auch die Zusammenarbeit mit Expert*innen aus dem Bereich Citizen Science. Denn RichMap will nicht nur analysieren, sondern auch sichtbar machen und den Austausch mit der Stadtgesellschaft fördern. Die Frage, wie wir Wissen über soziale Ungleichheit und Reichtum so aufbereiten, dass es öffentlich diskutiert werden kann, ist für uns zentral. Gerade durch die Verbindung wissenschaftlicher Analyse mit partizipativen Ansätzen hoffen wir, neue Perspektiven auf bekannte Stadträume zu eröffnen.

Was macht konkret das Team am IRS?

Am IRS bündeln wir methodische und theoretische Perspektiven auf Raum und Gesellschaft. Kerstin Brückweh und ich haben die konzeptionellen Grundlagen des Projekts entwickelt und führen diese Arbeit jetzt fort. Wir koordinieren die Netzwerkaktivitäten und arbeiten insbesondere an der Frage, wie man Reichtum historisch und räumlich kartieren kann – in Form sogenannter „Thick Maps“, also dichter, kontextualisierter Karten. Deswegen entsteht hier auch die Dissertation von Lilli Rast zur Methodik dieser Thick Maps. Zudem werde ich selbst ein Buch schreiben, das sich mit der Transformation der Viertel in der langen Perspektive beschäftigt. Dabei interessieren mich nicht nur, wie Brüche im 20. Jahrhundert und Systemwechsel auf den Raum des Villenviertels wirkten, sondern auch wie die Gesellschaft Wissen über diesen Raum erfasste, ihn markierte und wo Grenzen gezogen wurden, und wie ganz unterschiedliche Räume zu einer Vorstellung über „das Villenviertel“ werden konnten. Außerdem sind parallel dazu Fragen der Einbindung und Vermittlung in die Stadtgesellschaften – also Ansätze von Citizen Science, die wir passgenau entwickeln – zentral und die wir am IRS mit verschieden Partnern vorantreiben.

Wie kann man sich so eine „Rich Map“ konkret vorstellen – gab es das schon einmal?

Eine Rich Map ist mehr als eine einfache Karte mit Villenstandorten. Sie verbindet historische Quellen, sozioökonomische Daten, subjektive Erzählungen und mediale Repräsentationen – visuell und interaktiv. Solche dichten Karten zu Villenvierteln gibt es bislang kaum. Wir verstehen sie als methodische Innovation, die über klassische GIS-Kartierungen hinausgeht und verschiedene Akteure in die Produktion einbezieht. Sie wurden aber schon in verschiedenen anderen Kontexten erprobt und deswegen sind auch diejenigen, die bereits damit gearbeitet haben und sich methodisch mit den Herausforderungen auseinandergesetzt haben, Teil unseres Netzwerks.

Was sind die ersten Schritte?

Wir haben damit begonnen, historische Vermögens- und Adressangaben aus der Zeit um 1900 zu kartieren, um erste „gute Adressen“ zu identifizieren. Diese frühen Daten geben uns eine Grundlage, um die Entwicklung einzelner Viertel über die Zeit hinweg zu verfolgen. Gleichzeitig ergänzen wir das durch weitere Quellen aus Archiven – etwa zu Umzügen, Eigentumsverhältnissen oder familiären Netzwerken – und zeichnen auch Infrastrukturen mit ein. Das passiert derzeit vor allem für einzelne Fallstudien wie für Potsdam und Köln. Erste Interviews mit Anwohner*innen und Expert*innen sind ebenfalls in Planung. So entsteht Schritt für Schritt eine dichte Karte, die mehr zeigt als nur Straßennamen: nämlich soziale Dynamiken und langfristige Veränderungen.

Wann wird es etwas zu sehen geben?

Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, weil wir parallel zur inhaltlichen Arbeit auch zentrale Fragen zu Datenschutz, Datenethik und Anonymisierung klären müssen. Wir überlegen sehr genau, welche Informationen wir öffentlich zugänglich machen können – und was als wissenschaftliches Analysetool intern bleiben sollte, auch um Missbrauch vorzubeugen. Trotzdem möchten wir den Entstehungsprozess so transparent wie möglich gestalten. Erste Zwischenergebnisse werden wir deshalb schon während der Projektlaufzeit veröffentlichen und präsentieren – etwa in Form von Vorträgen, Texten oder Workshops. Außerdem ist uns der Dialog mit der Stadtbevölkerung wichtig: Wir planen Formate, um mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen und ihre Perspektiven einzubeziehen. Erste öffentlich sichtbare Resultate – insbesondere in Form von kartierten Daten und Analyseergebnissen – hoffen wir zum Ende des Jahres 2026 präsentieren zu können.

Sie selbst haben ja schon viel zu Eliten, Ungleichheit und Reichtum geforscht. Was hat Sie dazu motiviert, und was bedeutet dieses Projekt für Sie?

Mich interessiert schon lange, wie soziale Ungleichheit nicht nur faktisch existiert, sondern wie sie sichtbar wird – in Debatten, im Stadtraum, in Selbst- und Fremdzuschreibungen. Villenviertel sind dafür ein faszinierender Untersuchungsgegenstand, gerade weil diese Orte eben mit den Vorstellungen über Reichtum verbunden und hier „die Reichen“ stets verortet wurden, obwohl über die konkreten Vermögensverhältnisse der Anwohnerinnen nichts genauer bekannt ist. RichMap bringt damit vieles zusammen, was mich in meiner Forschung begleitet hat: Fragen nach Eliten, Raum, symbolischer Macht und historischer Kontinuität. Zudem ist RichMap für mich auch eine Gelegenheit, Geschichte gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. Gleichzeitig ist es für mich besonders reizvoll, dieses Projekt am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Brandenburg umzusetzen. Das IRS bringt eine ausgesprochen sozialräumliche Perspektive auf gesellschaftliche Transformationen ein und besitzt ein etabliertes Netzwerk mit politischen, kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Dieses Umfeld ermöglicht es, die gesellschaftliche und politische Bedeutung von Eigentum, Raum und Ungleichheit – gerade im ostdeutschen Kontext mit seiner deutsch-deutschen Geschichte der Eigentumsverhältnisse – im Dialog zu diskutieren. Zugleich eröffnet die Leibniz-Gemeinschaft mit ihrer Förderlinie „Kooperative Exzellenz“ für RichMap einen Rahmen, in dem diese Themen interdisziplinär und im Austausch mit anderen Instituten bearbeitet werden können. Das ist insgesamt für mich also ein sehr anregendes Umfeld.

Wie schauen Sie – vor dem Hintergrund Ihrer Forschung – auf den öffentlichen Diskurs um Reichtum hier in Deutschland?

Der Reichtumsdiskurs in Deutschland ist voller Ambivalenzen: Reichtum ist ein Tabuthema, aber gleichzeitig omnipräsent. Die „Reichen“ sind Projektionsfläche und Zielscheibe, aber selten Gegenstand differenzierter Analyse. Gerade deshalb braucht es historische Einordnungen und empirische Forschung. Ich hoffe, dass RichMap hier auch zur Versachlichung beitragen kann – nicht zuletzt durch andere Formen der differenzierten Analyse.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Forschungsprojekt „RichMap – Where the Rich Live“ untersucht die Entstehung und Entwicklung von Villenvierteln in Deutschland im langen 20. Jahrhundert. Im Fokus steht nicht nur, wie bestimmte Stadtteile zu „guten Adressen“ wurden, sondern auch, wie sie diesen Status über Jahrzehnte hinweg bewahren konnten, ihn verloren und – insbesondere im Osten Deutschlands – nach politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen teilweise wiedererlangten. Methodische Innovationen des Projekts sind unter anderem digitale Karten, sogenannte „Thick Maps“ sowie Citzen-Science-Maßnahmen, um die Perspektiven von Anwohner*innen und Stadtbewohner*innen einzubeziehen. mehr info