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Dossier zu Material Constraints in der Architekturgeschichte
Am Beispiel des Bauens zeigt sich sehr direkt, wie Menschen mit ihrer physischen Umwelt interagieren. Die Sozial- und Geisteswissenschaften haben aber Schwierigkeiten, diese Interaktion begrifflich und konzeptionell zu fassen. Eine Gruppe von IRS-Forschenden stellte jetzt einen Ansatz vor, der Baumaterialien ins Zentrum der bau- und architekturhistorischen Forschung rückt.
Wenn es um die Wechselwirkungen zwischen menschlichem Handeln und der physischen Welt geht, hantieren die Sozial- und Geisteswissenschaften mit Begriffen wie Agency und Materialität. Sie bleiben dabei aber mitunter etwas unscharf. Als Alternative haben Wissenschaftler*innen vorgeschlagen, sich mit konkreten Materialien auseinanderzusetzen. Hier setzt die Forschungsgruppe „Geschichte der Gebauten Umwelt“ mit ihrer Arbeit zu Material Constraints an. Monika Motylińska, María Ignacia Jeldes Olivares und Paul Sprute erarbeiteten gemeinsam mit Robby Fivez von der Vrijen Universiteit in Brüssel einen Themenschwerpunkt in einer Ausgabe der renommierten architekturgeschichtlichen Fachzeitschrift „ABE: Architecture Beyond Europe“.
Das Themenheft untersucht, wie verschiedene Baumaterialien dem Prozess des Bauens spezifische und konkret greifbare Bedingungen auferlegen. Dieses Dossier lädt die Leser*innen dazu ein, die prägende Rolle von Materialien in der Architekturgeschichte neu zu bedenken und auch die Beschränkungen anzuerkennen, die Baupraktiken in der Geschichte beeinflusst haben und es bis heute tun.
Die Beiträge legen dar, wie das Zwischenspiel von Material Constraints und Human Agency Architekturpraktiken geprägt hat, soziopolitische Kontexte beeinflusst hat und Innovationen im langen 20. Jahrhundert ermöglicht hat. Somit beleuchtet dieses Themenheft nicht nur die physischen Aspekte von Baumaterialien, sondern bezieht auch ihre sozialen Dimensionen und den weiteren geopolitischen Kontext in die Analyse mit ein. Ein Schwerpunkt liegt auf dem produktiven Moment, der aus dem Zusammenspiel materieller Zwänge und menschlicher Agency entsteht. Über das 19. und 20. Jahrhundert und verschiedene Weltregionen hinweg verbindet diese Ausgabe Diskussionen der Architekturgeschichte, Baugeschichte, der Sozialanthropologie, der Science and Technology Studies sowie der Geschichte von Materialitäten. Das Dossier zeigt damit den Beitrag von interdisziplinären Ansätzen auf, um zu einem umfassenden Verständnis von Architekturprozessen beizutragen.
Die Themenausgabe umfasst Beiträge von Gauri Bharat and Bhavya Jain zur Entwicklung von Wissen zu Betonbauweisen im kolonialen Südasien und von Ewan Harrison, Rixt Woudstra und Iain Jackson zu vorgefertigten sogenannten Arcon-Stahlystemen im sich entkoloniserenden Westafrika. Ksenia Litvinenko, eine am IRS assoziierte Architekturhistorikerin, die ab dem 1. Dezember 2024 für zwei Jahre im Rahmen einer Förderung aus dem Walter-Benjamin-Programm am IRS arbeitet, befasst sich in einem Artikel mit der sowjetischen Geschichtsschreibung über die Ger, die mongolische Jurte. Die ebenfalls am IRS assoziierte Architekturhistorikerin Juliane Richter verfolgt zusammen mit ihrem Co-Autor Alfonso Alfonso González ostdeutsch-kubanische Kollaborationen der Lehm- und Erdzementproduktion in Havanna. Die Ausgabe wird von Monika Motylińskas und Robby Fivez’ Artikel zu Narrativen des Zementmangels in Sub-Sahara-Afrika und Strategien zu seiner Überwindung abgeschlossen.