30. August | 2023

Kritische Infrastrukturierung: Für einen Wissenstransfer, der Transformationsprozesse mitgestaltet

Das Wissenschaftssystem ist heute eine kritische Infrastruktur für evidenzbasiertes Handeln und notwendige gesellschaftliche Transformationen. Um dieser Rolle gerecht zu werden ist eine Neuausrichtung des Wissenstransfers nötig. Zu diesem Ergebnis kommt das Team des IRS-Projekts „Open Region“ in der innovativen Hochschule „InnoHub13“. In einem Policy Paper werden zentrale Thesen und praktische Empfehlungen formuliert, zum Beispiel dass der Wissenstransfer seine Technologiefixierung überwinden und verschiedenste gesellschaftliche Akteure zu gemeinsamen Problemlösungsanstrengungen einladen sollte. Hochschulen brauchen dafür neue Karrierestrukturen und Anreize.

Die innovative Hochschule „Innovation Hub 13 – fast track to transfer“ (kurz „InnoHub13“) hat fünf Jahre lang intensiv an neuen Transferformaten in Südbrandenburg und Nordsachsen gearbeitet. Ein Team des IRS bestehend aus Suntje Schmidt, Julia Stadermann, Tim Rottleb und Erik Ooms hat im Projekt „Open Region: Regionale Problemlagen als Ausgangspunkte von Innovationen“, das Teil des InnoHub 13-Verbunds war, eng mit Forschenden und regionalen Praxisakteuren versucht, Innovationspotenziale in den Problemlagen der Untersuchungsregion zu identifizieren und dabei neue Ansätze des Wissenstransfers zu erproben. Daraus entstand ein Policy Paper des Projektteams, das die zentralen Erkenntnisse und Konsequenzen für den Wissenstransfer, besonders durch regionale Hochschulen, zusammenfasst und Empfehlungen für seine künftige Ausgestaltung gibt. Im Zentrum des Papers steht eine Erkenntnis: In einer Welt, in der immer wieder und künftig noch stärker auf unvorhergesehene Krisen evidenzbasiert reagiert werden muss, in der die Gesellschaft sich kontinuierlich reflektieren, anpassen und kreativ neu erfinden muss, kommt dem Wissenschaftssystem die Rolle einer kritischen Infrastruktur zu: so unverzichtbar für das Weiterleben der Gesellschaft wie Stromnetze und Krankenhäuser. Dabei zählen nicht nur die „harten“ Infrastrukturen wie Testlabore und Institute, sondern auch die „weichen“, sozialen Infrastrukturen, die Forschungs- und Transferarbeit mit Leben erfüllen: etwa wissenschaftliche Fachgemeinschaften, Kooperationsbeziehungen und Alumninetzwerke. Sie sollen zusammenwirken und sich immer wieder neu in die Lösung praktischer Problemlagen und gesellschaftliche Transformationsprozesse einbringen. Hierfür ist auch die Fähigkeit notwendig, eine gewisse Anpassungsfähigkeit zur entwickeln.

Das Paper spricht deshalb von „Wissenstransfer als kritischer Infrastrukturierung“. Um das zu schaffen, muss der Transfer seinen Bias für Technologie und wirtschaftliche Verwertung überwinden. Technologische Innovationen oder Innovationen, die sich unmittelbar in ökonomische Leistungen und Anwendungen übertragen lassen, lösen alleine keine gesellschaftlichen Probleme. Erst im Zusammenspiel mit beispielsweise an Nachhaltigkeit orientierten neuen Praktiken, Routinen und Organisationsformen – sozialen Innovationen – ist damit zu rechnen, dass Transformation im Sinn des Gemeinwohls gestaltet werden kann. Eine viel breitere Akteurslandschaft, von der Stadtverwaltung bis zur Dorfinitiative, muss entsprechend als potenzielle Zielgruppe von Transfer verstanden werden.

„Zielgruppe“ bedeutet dabei nicht, dass diese Gruppen neues Wissen aus der Wissenschaft passiv empfangen und es lediglich anwenden. Stattdessen partizipieren sie aktiv an der Herstellung neuen Praxiswissens. Auch den Bias für lineare Wissensvermittlung sollten Transferverantwortliche entsprechend überdenken. An seine Stelle tritt ein dialogisches Verständnis von Wissenstransfer, in welchem Impulse aus der Praxis genauso zu Lerneffekten in der Wissenschaft führen wie umgekehrt. Denn Akteure in den verschiedensten Praxiskontexten verfügen über je spezifisches Handlungswissen, welches für gelingende Innovationsprozesse genauso benötigt wird wie wissenschaftliche Erkenntnis. Ein praktisches Problem – etwa medizinische Versorgung in dünn besiedelten Regionen – ist dabei mehr als ein Ärgernis. Es kann die Gelegenheit und den Startpunkt für eine oder gar mehrere, insbesondere soziale Innovationen bieten. Schließlich soll Transfer zirkulär organisiert sein, nicht als einmalige Veranstaltung, sondern als auf Dauer angelegtes kollektives Lernen mit wiederholten Feedbackschleifen und gemeinsamem Engagement. 

Dieses Ideal von Wissenstransfer ist nicht grundsätzlich neu. Es wird als Ziel verschiedener hochschul und wissenschaftspolitischer Initiativen anerkannt, wie etwa der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ sowie den „WIR“- und „T!Raum“-Programmen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Um es praktisch zu erreichen, müssen aber noch wesentliche Schritte folgen, die tief in die existierenden Praktiken und Strukturen von Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen eingreifen. Ein solcher Schritt ist beispielsweise eine verbesserte Präsenz in der Region. Die umgebenden Regionen bieten für Hochschulen und Forschungseinrichtungen eine entscheidende Gelegenheitsstruktur für die Beteiligung an sozialen (und anderen) Innovationsprozessen. Während Kooperationen und Partnerschaften mit der regionalen Wirtschaft heute weitgehend etabliert sind, fehlen noch Praktiken, Erfahrungen und Formen des Austausches mit anderen praxisorientierten Kooperationspartner*innen beispielsweise zu gesellschaftlichen Themen. Im Policy Paper wird hierzu sowohl die Einrichtung neuer Foren und Beobachtungsinstrumente als auch die Nutzung bestehender Infrastrukturen wie etwa Hochschul-Präsenzstellen empfohlen.

Eine weitere Herausforderung ist der Aufbau neuer sozialer Beziehungen. Um sinnvoll an einem Problem zu arbeiten, müssen die Beteiligten nicht nur voneinander wissen, sondern sich auch als relevante Partner für ein gemeinsames Vorhaben wahrnehmen. Dazu braucht es eine gemeinsame Sprache und eine geteilte Problemwahrnehmung. Der Aufbau solcher Beziehungen ist zeitund arbeitsintensiv – und liegt typischerweise außerhalb der Möglichkeiten und offiziellen Zuständigkeiten sowohl der Wissenschaftler*innen als auch der Fachleute in den Transferstellen. Das Policy Paper nennt zentral das Konzept der „Community of Practice“. Gemeint sind damit Gruppen von Menschen, die durch ein Anliegen und durch regelmäßige Auseinandersetzungen mit einem geteilten Problem verbunden werden und eine gemeinsame Sprache entwickeln. Sie können quer liegen zu Organisations- und Institutionengrenzen. Damit der Wissenstransfer im beschriebenen Sinn gelingt, ist der Aufbau von solchen problembezogenen Communities nötig. Doch wer hat dafür die Zeit und den legitimierten Auftrag? Die aktuell geltende Projektlogik im öffentlich geförderten Wissenstransfer ist ein wesentliches Hindernis für seine langfristige Wirksamkeit. Am Ende eines Projektzeitraums suchen sich die eingestellten Fachleute neue Jobs, aufgebaute Beziehungen können verfallen oder müssen mühevoll aufrechterhalten werden. Als Erweiterung der gängigen Förderlogik schlagen die Autor*innen des Policy Papers deshalb vor, Mittel für die Explorierung und Anbahnung wie auch Verstetigung von Transferbeziehungen bereitzustellen.

Letztlich, so das Paper, sind jedoch weitreichende Änderungen an den Strukturen des Wissenschaftssystems nötig. Zu den geforderten Änderungen gehört unter anderem, dass bei Berufungen auf Professuren und der Vergabe von Dauerstellen im Wissenschaftssystem das langfristige Engagement für den Wissenstransfer gewürdigt und belohnt wird – gleichberechtigt mit wissenschaftlicher Exzellenz. Hochschulen sollten außerdem Forschung und Lehre für den Transfer öffnen und dialogische Wissenstransferaktivitäten als Gelegenheiten für beides begreifen. Schließlich wird Personalaustausch zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichen Praxiskontexten empfohlen. Auch Menschen, die lange in der Praxis tätig waren und nun nach wissenschaftlicher Reflexion ihrer Praxis suchen, sollen im Wissenschaftssystem willkommen sein – über Promotionsstellen, Lehrtätigkeit und Fellowships.

Die Thesen und Empfehlungen des Policy Papers wurden vom Projektteam gemeinsam mit Praxispartner*innen beispielsweise aus Politik, Verwaltung, Transferbereichen von mehreren Hochschulen, zivilgesellschaftlichen Vereinen, Wissenschaft und Projektträgern in einem Policy Lab im November und Dezember 2022 im Gewerbehof Luckenwalde (Makerspace und Hochschulpräsenzstelle) erarbeitet. Das Lab wurde professionell von der Initiative „Politics for Tomorrow“ angeleitet, die sich auf Innovationen im öffentlichen Sektor spezialisiert hat. Im Zentrum des auf zwei Termine verteilten Labs stand die gemeinsame Erarbeitung von strategischen Leitplanken für ein verändertes Verständnis von Wissenstransfer.

Das Team des IRS brachte dabei seine Erkenntnisse aus seinem Teilprojekt in der innovativen Hochschule „Innovation Hub 13“ und der Kreativitätsund Innovationsforschung des Forschungsschwerpunktes „Ökonomie und Zivilgesellschaft“ ein.

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Referent für Wissenschaftskommunikation