02. Juli 2024 | Ausgewählte Publikation

Den Fokus auf datengestützte Planung legen

Kommentar zu Planungsforschungs-Debatte über „Polyrationalität"

In der Planungswissenschaft entspinnt sich eine Debatte über die Rolle von Wahrheit. Die Kernfrage ist: Soll die Planungswissenschaft akzeptieren, dass es mehrere subjektive Wahrheiten nebeneinander gibt („Polyrationalität")? Oder müssen Planung und Planungsforschung auf einer verbindlichen, wissenschaftlich belegten Wahrheit aufsetzen? Für IRS-Planungsforscher Christoph Sommer liegt der Schlüssel in einem kritischen Umgang mit Daten.

Wie planen, wenn Leute an alternative Fakten glauben und faktisch in alternativen Welten leben? Diese Frage treibt Planer*innen um. Man muss hier gar nicht erst an Klimawandelleugner und ihre politischen Repräsentanten denken. Auch die langsame Reaktion auf den evidenten sozial-ökologischen Transformationsbedarf mag manch einem nur als Ergebnis einer selbstgerechten Realitätsverweigerung erklärlich sein. Im „postfaktischen Zeitalter“ ist die Frage, wie Planung mit multiplen Wahrheiten umgehen kann, offenkundig dringlich – und dementsprechend auch Gegenstand planungstheoretischer Diskussionen. Christoph Sommer hat die Debatte in der Zeitschrift „Raumforschung und Raumordnung“ kommentiert.

Ausgangspunkt der Kontroverse über den Umgang mit multiplen Wahrheiten in der Planung war ein  Aufsatz in der Fachzeitschrift „European Planning Studies“. Darin stellen die Planungswissenschaftler*innen Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker (2023) den theoretischen wie praktischen Umgang mit der gegenwärtigen „brutal plurality of truths“ zur Diskussion. Davy et al. schlagen vor, „Polyrationalität“, also die Akzeptanz verschiedener nebeneinander existierender Wahrheiten, als Modus planerischer Praxis analytisch ernst zu nehmen. Sie werben für eine bedachte pluralistische Planungstheoriebildung. Der Politikwissenschaftler Gerd Lintz (2023) nahm den besagten Artikel von Davy et al. zum Anlass, um in „Raumforschung und Raumordnung“ eindringlich vor einer Art postmodernem Relativismus zu warnen. Problematisch sei der „weite Wahrheits- und Wissensbegriff“ unter anderem deshalb, weil er intersubjektiv überprüfbares Wissen, also den Kern des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, tendenziell abwerte und damit interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Natur-, Ingenieur-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften erschwere. Während die einen also dafür werben, theoretisch wie praktisch zu hinterfragen, wie (vermeintlich objektive) planerische Wahrheiten gemacht werden, betont Lintz die Gefahren eines zu weiten Wahrheits- und Wissensbegriffs.

In seinem Kommentar zu diesem Disput zeigt Christoph Sommer zunächst dessen Parallelen zu den „Science Wars“ der 1990er-Jahre auf. Bei Letzteren ging es – stark vereinfacht gesprochen – um eine Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftssoziologie und Naturwissenschaften. Erstere hinterfragte die Machart wissenschaftlicher Wahrheit, letztere verwahrte sich gegen einen postmodernen Relativismus. In seinem Kommentar zur Debatte geht Christoph Sommer von der Annahme aus, dass (in den Worten des Soziologen Bruno Latour) „alle, sowohl die Wissenschaftler in den ,harten’ als auch in den ,weichen‘ Wissenschaften, Politiker und Anwender, [...] ein berechtigtes Interesse daran haben, eine möglichst realistische Einschätzung dessen zu erlangen, was die Wissenschaften können und was nicht“. Er plädiert dafür, statt eine Grundsatzdebatte im Stil eines Grabenkampfs zwischen postmodernen Theoretikern einerseits und „harten“ Naturwissenschaftlern andererseits zu führen, lieber auf darauf zu schauen, wie planungsrelevantes Wissen produziert wird und welche Aussagekraft es hat. Konkret bedeutet dies, sich mit datengestützter Wissensproduktion zu beschäftigen, die in zunehmendem Maß Planungsentscheidungen vorbereitet, strukturiert und potenziell vorwegnimmt.

Nach Christoph Sommers Auffassung hätte ein radikaler Glaube an die den Daten innewohnende wissenschaftliche Rationalität und ihre handlungsleitende Wirkung („Follow the Science“) das Potenzial, Planung zu entpolitisieren. Es ginge in ihr schließlich nur noch um eine „rationale“ Modellierung konkurrierender Raumnutzungen. Planerische Entscheidungen würden perspektivisch primär „aus den Daten heraus“ legitimiert. Dabei bedürfe es doch einer planungspolitischen Aushandlung gemeinwohlorientierter Raumentwicklungsziele. Deshalb brauche es eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Datenmodellierungen, die von unterschiedlichen Fachrichtungen und Interessensträgern produziert werden. Dieses Vorgehen biete eine doppelte Anschlussfähigkeit: Zum einen kennt die Planungspraxis das Problem, mit unterschiedlichen Denkrationalitäten konfrontiert zu sein. Hier besteht nach Sommers Auffassung Potenzial für fruchtbaren Austausch und gemeinsame Forschung mit Praxisakteuren (transdisziplinäre Forschung). Zum anderen könne ein Dialog über datengestützte Wissensproduktion auch gut mit Vertreter*innen anderer wissenschaftlicher Disziplinen geführt werden.