24. November | 2023

Neue Nachwuchsgruppe erforscht Grenzgedächtnis in Europa

Soziologin Vivien Sommer erhält Förderung aus dem Emmy Noether-Programm der DFG

Lange wähnte sich Europa auf dem Weg der Einigung. Spürbare Mobilitätseinschränkungen an den innereuropäischen Grenzen galten als Relikt der Vergangenheit. Doch in jüngerer Zeit haben disruptive Ereignisse wie die Corona-Pandemie und große Fluchtbewegungen dazu geführt, dass Grenzen wieder mehr zum Thema wurden. Im Gedächtnis der Menschen in Grenzregionen waren sie ohnehin präsent. Eine neue Nachwuchsgruppe am IRS wird ab 2024 in vier europäischen Grenzregionen das Grenzgedächtnis der lokalen Bevölkerung untersuchen und erforschen, wie es im Lauf der Geschichte geprägt wurde.

Die Soziologin Vivien Sommer erhielt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Bewilligung für die Einrichtung einer Nachwuchsgruppe im Emmy Noether-Programm. Die Gruppe wird im Forschungsschwerpunkt „Ökonomie und Zivilgesellschaft“ des IRS angesiedelt. Für zunächst 36 Monate mit der Aussicht auf weitere 36 Monate fördert die DFG mit insgesamt rund 1,6 Millionen Euro das Forschungsvorhaben „Das sozial-räumliche Gedächtnis der europäischen Grenzen: Dispositive des Erinnerns und Vergessens“. Gemeinsam mit drei Doktorand*innen wird Vivien Sommer untersuchen, wie Grenzen in der Gesellschaft erinnert werden, und welchen Einfluss die Erinnerung an Grenzen auf den gegenwärtigen Status eines vermeintlich grenzenlosen Europas hat.

Nach dem Schengen-Abkommen schienen die internen Grenzen Europas zu verschwinden. Das Abkommen symbolisierte den Weg des Kontinents zu Einheit und Integration. Allerdings sind Europas interne Grenzen nicht immun gegen Störungen. Vorübergehende Grenzkontrollen und sogar Schließungen haben deutlich gemacht, dass diese nationalen Grenzen keineswegs vergessen sind. Die COVID-19-Pandemie führte beispielsweise zu Grenzschließungen in europäischen Regionen und zur Wiedereinführung klassischer Grenzkontrollen. Disruptive Ereignisse haben einen tiefgreifenden Einfluss darauf, wie Gesellschaften und Räume sich verändern. Ob es um die Neuordnung von Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg oder die jüngsten Veränderungen aufgrund des Brexits geht, spielen disruptive Ereignisse eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung unserer Grenzen und Grenzregionen. Dies führt zu einer grundlegenden Frage: Wie erinnern wir uns an diese Grenzen, und welchen Einfluss hat diese Erinnerung auf das Konzept eines grenzenlosen Europas?

Gestützt auf die Gedächtnisforschung und die Grenzforschung wird deutlich, dass einzigartige kulturelle und ideelle Räume auf beiden Seiten interner Grenzen in Europa fortbestehen. Diese Grenzen haben sich durch soziales Gedächtnis entwickelt, das sozial-räumliches Wissen und Grenzpraktiken geprägt hat. Das Projekt zielt darauf ab zu verstehen, wie vergangene disruptive Ereignisse, wie Kriege, geopolitische Konflikte und politische Vereinigungen, den aktuellen Zustand der Grenzen beeinflusst haben. Diese vergangenen Ereignisse sind im sozialen Gedächtnis verwurzelt, das mit dem täglichen Leben der Bewohner von Grenzregionen verflochten ist.

Bislang fehlen theoretische Konzepte, die die Bedeutung des sozialen Gedächtnisses von Grenzen für den Alltag der Bewohner*innen erfassen können. Die Nachwuchsgruppe wird diese Lücke mit einer innovativen Studie zum sozialen Gedächtnis in Partnerstädten und Partnerdörfern in Europa schließen. Das Projekt untersucht drei Dimensionen des Gedächtnisses von Grenzen - Erinnerungsrahmen, Erinnerungspraktiken und Erinnerungsmaterialität - in Partnerstädten und Partnerdörfern an vier verschiedenen Grenzen von Nationen, die Teil des Schengen-Raums sind: die polnisch-deutsche Grenze, die schweizerisch-deutsche Grenze, die dänisch-deutsche Grenze und als Kontrast die irisch-nordirische Grenze.

Die Forschungsgruppe wird unter der Leitung von Vivien Sommer einen multiperspektivischen methodischen Ansatz verfolgen, der Experteninterviews mit Erinnerungsaktivist*innen, mentale Karten der Grenzen sowie narrative Interviews und Spaziergänge mit Bewohner*innen kombiniert. Die Daten werden mit einer multimodalen Kodierungsmethode analysiert. Zusätzlich werden kartographische Karten in lokalen Archiven erstellt und interaktive digitale Karten produziert. Das Projekt zielt darauf ab, ein theoretisches Konzept des sozialräumlichen Gedächtnisses von Grenzen zu entwickeln, um die Komplexität des Erinnerns und Vergessens im gegenwärtigen Alltag an den Grenzen Europas zu verstehen.

Für Politik und Gesellschaft kann dieses neuartige Konzept eines Grenzgedächtnisses eine neue Sichtweise zum Verständnis und zur Lösung von Konflikten und Spannungen eröffnen.

 

Das Emmy Noether-Programm

Das Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft eröffnet besonders qualifizierten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit, sich durch die eigenverantwortliche Leitung einer Nachwuchsgruppe über einen Zeitraum von maximal sechs Jahren für eine Hochschulprofessur zu qualifizieren. Das Programm erinnert an Emmy Noether (1882–1935), eine deutsche Mathematikerin, die als eine Begründerin der modernen Algebra gilt. Zahlreiche Phänomene und Theorien sind nach ihr benannt.