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17. Werkstattgespräch zur DDR-Planungsgeschichte am IRS
Bereits seit mehr als 25 Jahren bringen die Werkstattgespräche zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR wichtige Akteur*innen dieses Forschungsfeldes zusammen. Die Tagung versteht sich als ein Ort des Austauschs neuer Methoden, Zugänge und Themen der Erforschung des städtebaulichen und architektonischen Erbes der DDR, als eine internationale, intergenerationelle und interdisziplinäre Netzwerkplattform für Forschende dieses Bereichs sowie als ein Diskussionsforum mit Zeitzeug*innen, die in der DDR-Stadtplanung und -Architektur aktiv waren. Letztere werden als wichtige Quellen für die Reflexion einer noch nicht vollständig abgeschlossenen Geschichte betrachtet, sodass ihre Teilnahme und Gesprächsbeiträge ausdrücklich begrüßt werden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass dieses Jahr leider vom Verlust namhafter Zeitzeug*innen und Forschenden geprägt war. Darunter war auch Thomas Topfstedt, einer der engen Wegbegleiter dieser Gespräche, an den mehrmals erinnert wurde. Die zweitätige Veranstaltung bot am 19. und 20 Mai 2022 in sieben thematischen Sektionen mit 17 Vorträgen ein reichhaltiges Portfolio der DDR-Planungsgeschichte.
Zunächst befasste sich Marie-Madeleine Ozdoba (Deutsche Forum für Kunstgeschichte Paris) mit der bisher nicht aufgearbeiteten Architektur- und Kunstausstellung zum 20. Jahrestag der DDR. Sie unterstrich, dass die Staatsführung Architektur und Städtebau als wesentlichen Bestandteil der sozialen Erzählung der Moderne für politische Zwecke inszenierte. Der visuelle Einstieg in die Tagung wurde mit dem Phänomen der digitalen Philokratie fortgesetzt. Ben Kaden (Humboldt-Universität zu Berlin) und Louis Volkmann (Leipzig/Berlin) entwarfen eine auf der Ikonologie und Textologie basierende „deltiologische“ Methodologie für die Untersuchung von DDR-Postkarten. Trotz einer noch nicht systematisierten und unvollständigen Digitalisierung bietet dieses raumbezogene, massenmedial produzierte und individuell verwendete Bild-Text-Medium eine wertvolle Quelle für die Architektur-, Stadt-, Alltags- und Erinnerungsgeschichte sowie für die Kultur- und Bildwissenschaft. Es eignet sich gleichfalls als ansprechendes Medium zur Sichtbarmachung der Ostmoderne nach außen.
Anschließend thematisierten mehrere Vorträge die architektonische und gestalterische Variabilität und Anpassungsfähigkeit von DDR-Bauten – vor allem der häufig einseitig dargestellten Platten – sowie das gesellschaftliche und politische Umdenken über den Wert und Bau der Altstädte. Anhand eines systematisierenden Diagramms zur Entwicklung des gesamten industriellen Wohnungsbaus in der DDR zwischen 1953 und 1990 gab Philipp Meuser (Berlin/Rhode Island) einen Überblick, der die Genealogie der teilweise gleichzeitig verwendeten DDR-Wohnungsbaugenerationen erläuterte und die technischen Produktionsentwicklungen, ihre logistischen und materiellen Bedingungen und die jeweiligen ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Ansprüche in einen Zusammenhang setzte. Zu Zeiten extremen Wohnungsmangels wurden ab den 1970er-Jahren nicht nur große Neubauprojekte geplant, sondern auch die Instandsetzung und Modernisierung der Innenstädte vorangetrieben, in denen sich ein hoher Anteil der DDR-Wohnungssubstanz befand. Immer häufiger gab es Versuche, die industrielle Bauweise zu umgehen und die Stadterneuerungen am Bestand zu orientieren.
Benjamin Eckel und Constanze Kummer (Kassel) zeigten am Beispiel einer der wenig untersuchten kleineren Mittelstädte, Meißen, wie dieses Umdenken und die wandelbaren Platten in den 1980er-Jahren positiv rezipiert wurden. Mithilfe der aus einem Wettbewerb erarbeiteten Lösungsansätze zur Weiterentwicklung des industriellen Wohnungsneubaus habe der altstädtische Bereich seinen individuellen, identifizierbaren und differenzierten Charakter behalten.
Die Anfänge dieses Paradigmenwechsels am Ende der 1960er-Jahre erforschte Malgorzata Popiołek-Rosskamp (IRS) am Beispiel von Loests Hof in Halle – ein modellhaftes Experiment für die industrielle Ausführung der Sanierung von Altbauten, das aber nie flächendeckend umgesetzt wurde. Bei der Untersuchung konnten Ähnlichkeiten mit dem westdeutschen Umgang mit Altbauten festgestellt werden. In beiden Teilen Deutschlands waren Planungswesen, Bauweise und Produktionsmethoden vom Glauben an den technischen Fortschritt durch Wissenschaft und Rationalisierung geprägt, jedoch gleichzeitig schon der Vergangenheit zugewandt.
Einen Schritt weiter ging Jana Bressler (Kaiserslautern), die von einem europaweiten systemunabhängigen Umdenken sprach. Sie zeigte, dass der Ost-West-Fachaustausch zur Altstadterneuerung stets in beide Richtungen mit unterschiedlicher Intensität und Formen auf deutsch-deutschen sowie internationalen Plattformen stattfand. Auf diese Art wurde die jeweilige Forschung, wenn auch ungleich, rezipiert. So konnte nach der Wende die Zusammenarbeit für die Erneuerung der Altstädte in Ostdeutschland nicht bei null anfangen, was – trotz strukturellen Ungleichgewichts zwischen den Akteur*innen innerhalb der städtebaulichen Hilfsprogramme – schnelle und unkomplizierte Entscheidungen ermöglichte und sie zu einem der „größten Erfolge des Aufbaus Ost“ machte.
Solche Kontinuitäten bis zur Nachwendezeit stellte ebenfalls Bruna Limoli Silva (Leipzig) fest, die sich mit dem wenig bekannten Ideenwettbewerb 1987/88 für das Leipziger Zentrum beschäftigte. Dieses letztlich nie umgesetzte, weil von Anfang an unrealisierbare Projekt dokumentiert die utopische Vorstellung der häufig aus jungen Mitgliedern bestehenden Kollektive vor dem Umbruch. Weit entfernt von der Idee einer Neugestaltung des Zentrums im Stil der Plattenbau-Moderne, schlugen sie eine identitätsstiftende „behutsame“ Umgestaltung vor. Die Pläne waren wichtige Vorarbeiten für die Stadterneuerung Leipzigs in den 1990er-Jahren und beeinflussten langfristig eine neue Generation von Architekt*innen und Planer*innen.
In der Sektion zu spezifischen Bautypologien von wenig erforschten Orten symbolischer Macht wurden der Bau und die vielfältigen Funktionalitäten dieser Gebäude kontextualisiert sowie deren Stellenwert als Quelle sowohl der Architektur- als auch der Herrschafts-, Politik- und Kulturgeschichte hervorgehoben. Ulrich Pfeil (Metz) zeigte, wie die Planung von Sportstätten – bedeutsame und sichtbare Bestandteile der Herrschaftsinstitution und Machträume des 20. Jahrhunderts – in der frühen DDR noch auf der Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal, einer Ästhetik und nach Legitimität war.
Danach nahm Tanja Scheffler (Dresden) die Verwaltungsgebäude des Ministeriums für Staatssicherheit unter die Lupe. Trotz Mangel an Quellenmaterial konnte sie aufzeigen, dass die Gestaltung dieser fast kleinstadtähnlichen, vom Rest der Gesellschaft getrennten und vollgeschützten Ensembles an den Bedürfnissen und Ängsten der Institution sowie an der zeitgemäßen Baukultur ausgerichtet wurde. Durch ihre zentrale Position im politischen System der DDR verfügte das MfS über besonders gute finanzielle und materielle Bedingungen, womit es sich leisten konnte, die Gebäude flexibel zu bauen sowie künstlerisch individuell auszustatten.
Um die Komplexität bzw. die Einflussfaktoren und Abhängigkeiten solcher Planungsgeschichten zu verstehen, schlug Annette Menting (Leipzig) vor, Architektur als Prozess zu begreifen. Dies erläuterte sie anhand der Planungsgenese des zuerst provisorischen, dann etablierten Schauspielhauses Chemnitz. Die Umnutzung des ehemaligen Festsaals eines Altenheims zum Theater nach dem Zweiten Weltkrieg und seine „Rekonstruktion“ nach einem Brand 1976 verankerten sich in einer sich stets entwickelnden Stadtplanung, die von politischen und kulturellen Ereignissen, Zielen sowie von der Konkurrenz anderer priorisierter Kulturbauten geprägt war. Bis heute wird die Bedeutung des Gebäudes als baulich-kulturelles Erbe für die Stadt verhandelt.
Ein weiteres hochsensibles und emotional aufgeladenes Thema ist der Umgang der DDR mit den Kirchengebäuden. Arnold Bartetzky (Leipzig) stellte bei einem Kontextualisierungs- und Quantifizierungsversuch fest, dass hartnäckige Mythen und eine Projektierung auf die Persönlichkeit Ulbrichts bis heute bestehen. Ohne seinen kirchenkritischen Diskurs in Frage zu stellen, ließe sich seine alleinige Verantwortung an der Zerstörung von Kirchen jedoch nicht beweisen. Es handelte sich eher um ein – ähnlich wie in Westdeutschland – für die Zeit typisches Zusammenspiel von lokalen und zentralen Entscheidungen, die von Nutzungsinteressen sowie finanziellen und materiellen Bedingungen abhingen. Dieses identitätsstiftende Narrativ wurde und wird bis heute – wenn auch unbewusst – von damaligen lokalpolitischen oder regimekritischen Akteur*innen instrumentalisiert, um für eine Wiedergutmachung zu mobilisieren oder die eigene Schuld zu verdrängen.
Eine wichtige Rolle bei diesen Prozessen spielte die DDR-Denkmalpflege, die in Ost-Berlin lange darunter litt, dass ihre Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen Magistrat, Bauakademie und dem Institut für Denkmalpflege nicht eindeutig geregelt waren. Bei der Analyse dieses Systems stellte Franziska Klemstein (Weimar) die Aushandlungsprozesse innerhalb (in)formeller Netzwerke und das Engagement bestimmter Akteur*innen vor, die für Abstimmungen notwendig waren.
In der Tat ist es auch für die DDR-Planungsgeschichte essentiell, die Verflechtung und Wechselwirkung zwischen Institutionen und individuellen Akteur*innen zu untersuchen. Ausgehend von den beruflichen Werdegängen zweier berühmter Architekten und Stadtdenker unterschiedlicher Generationen, verfolgte Éléonore Muhidine (Potsdam) die Entwicklung und Herausforderungen des Fachnetzwerks bzw. des Milieus der Architekturkritik zwischen 1945 und 1989 in Ost-Berlin und über die deutsch-deutsche Grenze hinaus. Nachdem Bruno Flierl in den 1960er-Jahren eine Grundlage für den Austausch mit dem Westen setzte, leitete Wolfgang Kil auch nach der Wende eine Reflexion über die DDR-Baukultur und die sich verändernde Ostberliner Architekturszene in die Wege. Ein solch biografischer Zugang ermöglicht es bei bestimmten Akteuren, die Architektur- und Planungsgeschichte der DDR nicht nur auf eine deutsch-deutsche, sondern auch auf eine transnationale Ebene zu erweitern.
Xiaoyan Huang (Dresden) klärte anhand eines bisher wenig bekannten Teils der Biographie Richard Paulicks während seines Exils in Shanghai zwischen 1933 und 1949 auf, wie moderne Entwurfsprinzipien auf die chinesischen Verhältnisse übertragen wurden. Durch seine Teilnahme an der „Planung für Groß-Shanghai“ nach dem Krieg und die Ausbildung einer ganzen Generation von Fachleuten beeinflusste er tiefenwirksam die Stadtentwicklung Shanghais.
Die letzte Sektion zum Städtebau und zur Planungskultur stellte die Rolle der DDR-Planungswissenschaft anhand ihrer Lehre und Grundsätze, ihrer Arbeitsweise sowie die vorhandene Technologie in der praktischen Umsetzung in den Mittelpunkt der Analyse. Harald Kegler (Kassel) reflektierte zuerst die Bewertung von Architektur und Städtebau der Ostmoderne durch die Fachwelt am Beispiel von Halles Stadtgrundriss. Diese Bewertung änderte sich nicht nur je nach wechselnder parteipolitischer Leitauffassung, sondern stand in Zusammenhang mit einem steten disziplinären und kognitiven Lernprozess der Akteur*innen im Austausch mit der Politik und der Stadtgesellschaft.
Maren Weissig (Dresden) konzentrierte sich auf die Auswirkungen des planwirtschaftlich organisierten rural-urbanen Strukturwandels auf den Wohnungsbau und die sozialen Verhältnisse im ländlichen Raum der DDR und fokussierte insbesondere auf die universitär gelehrten und dann in die Praxis umgesetzten maßgebenden Planungsparameter der Besiedlung und Strukturierung. Dabei erwies sich eine strukturalistische Perspektive als aufschlussreich, um die Komplexität dieser Prozesse in einem Gesamtbild zu erfassen.
Einen bedeutsamen Wendepunkt für die DDR-Planungsgeschichte bildete die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung innerhalb von Planungsprozessen, der sich der letzte Vortrag der Veranstaltung widmete. Mit der technologieorientierten Digitalgeschichte der DDR-Stadtplanung eröffnete Jannik Noeske (Weimar) anregende Einblicke in ein bisher wenig erforschtes Feld der DDR-Planungsgeschichte. Er konnte wichtige Eckdaten, Ereignissen, Entwicklungen und Akteur*innen aufdecken, die für den methodologischen Wandel in der Disziplin standen, und stellte erste Thesen vor, die von großem Interesse für die internationale Digitalisierungs-, Architektur-, Wissens- und Innovationsgeschichte sind.
Wie Stefanie Brünenberg und Harald Engler (beide IRS) abschließend zusammenfassten, konnten mit diesem Werkstattgespräch neue, spannende und innovative Methoden, Ansätze und Themen vorgestellt werden, die die Komplexität der DDR-Gesellschaft, Kontaktpunkte und Konvergenzen zwischen Ost und West auf der deutsch-deutschen oder internationalen Ebene sowie Kontinuitäten mit der Nachwendezeit aufzeigten. Die verschiedenen Untersuchungsebenen haben zudem die Wechselwirkung zwischen Strukturen, Institutionen und individuellen Akteur*innen mit ihren Handlungsspielräumen deutlich gemacht. Bemerkenswert waren diverse Hinweise auf die Genderperspektive sowie die intensivierte Einbeziehung der Transformationszeit der 1990er-Jahre, die als wichtig erachtet wurden, neue Forschungsperspektiven eröffnen und auch in der Zukunft ausdrücklich erwünscht sind. Zuletzt stellte sich die Frage, wie lange diese Art direkter Überlieferung und mündlicher Ergänzung der Zeitzeug*innen in der Form noch realisierbar ist. In der Zukunft sollten die Werkstattgespräche ihren Forschungsschwerpunkt so erweitern und das Konzept so anpassen, dass sie weiterhin ein unerlässliches und zugleich fruchtbares Zusammentreffen zur Planungsgeschichte der DDR bleiben.
Dieser Bericht von Liselore Durousset erschien erstmals in H-Soz-Kult (11. September 2022): www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-129488