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„Ohne Druck gibt es kein Lernen“ – ein IRS-Gespräch über Krisen, Lerngelegenheiten und Lernblockaden
Zahlreiche Forschungsteams im IRS beschäftigen sich direkt oder indirekt mit dem Thema Krisen. Künftig soll dieser thematische Fokus weiter ausgebaut werden. Die Coronakrise gab den Anlass dafür, sich zu der Frage auszutauschen, ob und wie aus Krisen gelernt werden kann. Im Sommer 2020 diskutierten darüber per Videokonferenz Tjorven Harmsen, Wolfgang Haupt, Oliver Ibert, Kristine Kern und Elisa Kochskämper. Das Gespräch wird hier verdichtet wiedergegeben.
Sie alle beschäftigen sich in Ihren Forschungen aus unterschiedlichen Perspektiven mit Krisen oder krisenhaften Ereignissen. Was ist eigentlich eine Krise? Und was interessiert Sie daran?
Oliver Ibert: In unserer Krisenforschung arbeiten wir mit drei Merkmalen, die eine Krise kennzeichnen: fundamentale Unsicherheit, Dringlichkeit von Entscheidungen und Bedrohlichkeit – alles Dinge, die wir beispielsweise in der Coronakrise sehen. Ich habe im Zuge der Finanzkrise 2008/09 angefangen, mich für Krisen zu interessieren, weil wir als Wirtschaftsgeographen damals, wieder einmal, nicht nach unserer Expertise gefragt wurden. Ich dachte: Wir brauchen ein allgemein gültiges Verständnis von Krisen und wie sie ablaufen. Das war ein Grund, weshalb ich mich beim Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ eingebracht habe. Ich habe mich außerdem schon meine ganze Karriere über mit Innovation beschäftigt, also mit der Frage: Wie kommt Neues in die Welt? Aus dieser Perspektive finde ich die Ambivalenz von Krisen interessant. Sie sind Wendepunkte zum Besseren oder zum Schlechteren. Sie sind bedrohlich, aber sie können auch Gelegenheiten für Innovation bieten.
Tjorven Harmsen: Ich forsche zu der Frage, wie in Krisen Resilienzpotenziale aktiviert werden, also wie Akteure mit Krisen umgehen und auch daraus lernen können. Wir beschäftigen uns im Team auch mit der Rolle von Beratung und Expertise in Krisen. Dabei schauen wir uns sehr unterschiedliche Arten von Krisen an: Die Fluchtkrise von 2015 ist ein Beispiel für Verwaltungskrisen, die Krise der Porzellanindustrie ein Beispiel für Wirtschaftskrisen und als Beispiel für Umweltkrisen schauen wir uns komplexe Schiffsunglücke an. Dabei beziehen wir uns auf die drei Merkmale, die Oliver Ibert schon genannt hat.
Wolfgang Haupt: Ich beschäftige mich mit städtischen Klimaanpassungsstrategien. Wir arbeiten in unserem Projektteam nicht explizit mit dem Begriff „Krise“, aber natürlich betrachten wir disruptive Ereignisse, die eine Krise auslösen könnten. Konkret untersuchen wir, wie Städte sich auf potenziell zerstörerische Starkregenereignisse vorbereiten, die im Zuge des Klimawandels immer häufiger werden. Es geht also mehr um die strategische Perspektive, um Antizipation und die Frage, wie man eine Krise verhindern kann.
Elisa Kochskämper: Meine Perspektive ist ähnlich. Mich interessiert, welche Rolle Vorbereitung für den Umgang mit Krisen spielt, für die neuen Routinen, die sich in Krisen herausbilden. Die Coronakrise kam unerwartet, der Klimawandel ist dagegen schon lange bekannt, und im Rahmen von Klimaanpassung bereiten sich viele Akteure aktiv auf krisenhafte Zustände vor. Welchen Unterschied macht es, ob man gewarnt war oder nicht? Welchen Einfluss hat eine eher theoretische Vorbereitung im Vergleich zu praktischer Erfahrung? Was ist Lernen im Moment, was ist eher die Anwendung vorhandener Erfahrungen?
Kristine Kern: Ich bin von Haus aus Ökonomin und habe mich schon immer mit Krisen beschäftigt – Weltwirtschaftskrise, Kubakrise, Ölkrise; Umweltkrisen gibt es auch schon lange, man denke nur an Tschernobyl, später Fukushima. In jüngerer Zeit gab es die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, Corona. Es entsteht der Eindruck, dass die Krisen überhaupt nicht aufhören. Aber auch der Kalte Krieg war eine Zeit permanenter Krise. Mich interessiert hauptsächlich, wie Krisen sich gegenseitig beeinflussen. Also beispielsweise die Coronakrise und die Klimakrise. Interessant sind aber auch die Ereignisse, die Politik in neue Bahnen lenken, wie etwa das Reaktorunglück von Fukushima die Energiepolitik verändert hat. Auch in der Klimaanpassung gibt es solche Ereignisse, wenn auch auf einem anderen Niveau. In der Krise werden Institutionen geschaffen, die die nächste Krise verhindern sollen, beispielsweise bei Hochwasserereignissen.
Krise, Katastrophe, Unsicherheit, disruptives Ereignis, wie hält man das auseinander?
Tjorven Harmsen: Wir betrachten Krisenfälle oft mit einem auslösenden Ereignis, das wir als disruptiv bezeichnen. Etwa eine Explosion auf einem großen Handelsschiff, durch die Menschen und Umwelt bedroht werden. Bei der Finanzkrise 2008 wäre das analoge Ereignis beispielsweise die Pleite der Lehmann Brothers-Bank. Unsicherheit besteht mit Blick auf die Frage, wie es nach dem auslösenden Ereignis weitergeht, was zu tun ist, welche Konsequenzen drohen. Auf ein disruptives Ereignis folgen Reaktionsmechanismen, die teils professionalisiert sind. Es gibt Organisationen, die darauf spezialisiert sind, die Folgen solcher Ereignisse zu begrenzen.
Elisa Kochskämper: Eine Katastrophe hat langfristige Auswirkungen. Bei einem disruptiven Ereignis ist das nicht so klar. Es kommt darauf an, wie gut das jeweilige System damit umgehen kann, wie resilient es ist.
Oliver Ibert: Ja, eine Katastrophe ist ein eingetretener Schadensfall. Eine Krise ist dagegen zukunftsoffen, der größte Schaden kann noch abgewendet werden, wenn die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Disruptive Ereignisse wiederum müssen nicht unbedingt eine Krise auslösen. Viele Organisationen beschäftigen sich mit Notsituationen, die regelmäßig auftreten, die „normal emergencies“. Hochwasser gibt es fast jedes Jahr wieder, es gibt auch Schäden, aber es gibt Routinen des Umgangs und meistens wird daraus keine Krise. Erst wenn die Routinen versagen, wenn die Unsicherheit größer wird, ist es eine Krise, die zur Katastrophe anwachsen kann.
Wie kommt es dazu, dass aus manchen Ereignissen eine Krise wird und aus anderen nicht?
Elisa Kochskämper: Eine Krise kann durch mangelnde Koordination entstehen oder dadurch, dass vorhandene Strukturen einfach inadäquat sind. Die Hochwasserereignisse von 2013 in Süddeutschland sind dafür ein Beispiel. Nur weil man weiß, was bei einem Hochwasser passiert, heißt das noch lange nicht, dass man eingespielte, gefestigte Reaktionsweisen hat. In kleineren Kommunen sind die freiwilligen Feuerwehren für den Katastrophenschutz zuständig. Formal müssen die einen Krisenplan haben. De facto ist das aber oft ein DINA4-Blatt mit drei Stichpunkten, das der Feuerwehrchef verwahrt. Wenn er im Urlaub ist, weiß niemand was zu tun ist. Gerade bei Hochwassern kommt noch der Zeitfaktor dazu. Früher waren Hochwasser in erster Linie Flusshochwasser. Die entwickeln sich relativ langsam. Seit einiger Zeit sind Hochwasser aber immer öfter das Ergebnis von Starkregen, die sehr schnell kommen. Die Geschwindigkeit beeinflusst, wie gut die vorhandenen Routinen funktionieren.
Oliver Ibert: Es ist grundsätzlich nicht vorhersehbar wann eine Krise auftritt. Wenn ein Problem lange ignoriert wird, steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass es sich als Krise ungefragt auf die Agenda drängt. Man muss dabei Krisen immer aus der Perspektive der sozialen Akteure denken, die von ihr betroffen sind. Bei einem Hochwasser ist ja nicht der Fluss in einer Krise, möglicherweise aber die Hochwasserschutzbehörde. Ganz dicht am Geschehen sind zunächst meist Organisationen, die direkt damit beschäftigt sind Gefahren abzuwehren – Sicherheitsbehörden oder Notenbanken etwa. Die arbeiten mit Eintrittswahrscheinlichkeiten, Schwellenwerten etc. Sie leben mit der Gefahr. Viel interessanter finde ich aber die Verästelungen von Krisen in andere Systeme. Die Coronapandemie betrifft nicht nur das Gesundheitswesen, sie schlägt auf völlig unvorhergesehene Art durch auf die Luftfahrt, die Fleischindustrie und Kreuzfahrtenanbieter. Die geraten von heute auf morgen in eine existenzielle Krise, ohne sich zuvor damit auseinandergesetzt zu haben.
Es gibt aber auch einen kommunikativen Aspekt. Wenn jemand das Wort „Krise“ verwendet, signalisiert er damit: „Ich beschäftige mich mit einem sehr dringlichen Problem!“ Das Wort „Bildungskrise“ lässt ein Problem im Bildungssystem gleich doppelt so groß aussehen. Wir sehen durchgängig, dass man eine Krise nicht an objektiven Faktoren festmachen kann. Wirtschaftsdaten wie Arbeitslosigkeit können sich über längere Zeit schlecht entwickeln, und dann ist auf einmal ein Krisendiskurs da. Wir sagen, Krisen sind sozial konstruiert und performativ hergestellt. Das macht sie nicht weniger real. Es gibt Akteure, die Krisen ausrufen. Manche Organisationen haben sich darauf verlegt, andere in Reputationskrisen zu stürzen – etwa, wenn Greenpeace gezielt die Umweltsünden eines ganz bestimmten, im Rampenlicht stehenden Unternehmens anprangert. Für dieses sind dann die drei Krisenmerkmale Unsicherheit, Bedrohung und Handlungsdruck sehr real, sie lassen sich nicht ignorieren.
Kristine Kern: Es stimmt, Krisen werden sozial konstruiert. Medien, oder auch Organisationen wie Greenpeace wirken dabei mit, dass ein Ereignis in der öffentlichen Wahrnehmung zur Krise wird. Es gibt aber auch objektiv unterschiedliche Häufigkeiten von Ereignissen. Nehmen wir Kernenergie: Man weiß, dass ein Unglück wie in Tschernobyl oder Fukushima wieder passieren wird, aber ob es jetzt passiert oder in 1000 Jahren, das weiß man nicht. Hochwasser treten häufiger auf, es gibt einen etablierten Umgang damit. Trotzdem gibt es immer wieder Katastrophen wie die Sturmflut 1962, das Oderhochwasser 1997 oder das Elbhochwasser 2002.
Was bedeutet es, aus Krisen zu lernen? Was passiert da?
Kristine Kern: In Krisen kommt es zu Institutionalisierungen: Neue Institutionen, also Regeln, werden eingeführt, um künftig ähnliche Krisen bzw. den Eintritt von Schäden zu verhindern. Die Frage ist allerdings, wer lernen kann und auf welcher Ebene gelernt wird. Ein Hochwasser ist relativ lokal. Es passiert auch verhältnismäßig häufig, sodass es eine lange Geschichte von Institutionalisierungen gibt. Die örtliche Feuerwehr kann beispielsweise aus Hochwasserereignissen lernen. Bei Corona können die Bürgerinnen und Bürger immerhin mitwirken, bei einem Reaktorunglück kaum. Je weitreichender die möglichen Konsequenzen eines Ereignisses sind, desto zentralistischer werden präventive und reaktive Maßnahmen gesteuert, etwa durch nationale Behörden oder sogar internationale Organisationen.
Oliver Ibert: Die hier angesprochenen Lerneffekte finden allerdings alle bei den Organisationen statt, die für Schadensabwehr zuständig sind. Es gibt aber auch andere Varianten des Lernens. In der Schifffahrt hat es beispielsweise eine Professionalisierung des Krisenmanagements gegeben, eine ganz neue Wissensdomäne ist entstanden. Man nimmt in Kauf, dass Krisen eintreten, weil man sie ohnehin nicht gänzlich verhindern kann. Stattdessen gibt es Krisenmanagementfirmen, die sich sogar auf einzelne Phasen oder Teilaspekte von Krisen spezialisiert haben, und deren Aufgabe es ist, zu verhindern, dass aus einer Krise eine Katastrophe wird. Manche Organisationen haben sich darauf spezialisiert, aus jeder Krise ex-post Lehren zu ziehen, die dann wieder im Krisenmanagement angewendet werden.
Dann gibt es noch Lernprozesse, die nicht direkt etwas mit Sicherheit zu tun haben, zum Beispiel digitales Zusammenarbeiten. Zu Beginn der Coronakrise waren wir alle auf einmal im Homeoffice und haben versucht, unsere Arbeitsroutinen aufrecht zu erhalten. Wir haben Meetings durch Videokonferenzen ersetzt und angefangen online zu forschen. Diese Mischung aus Dringlichkeit und Unsicherheit stiftet Lerngelegenheiten. Wir waren gezwungen, Dinge zu probieren, zu improvisieren und dabei auch eine höhere Fehlertoleranz zu zeigen. In der Online-Lehre hat zum Beispiel niemand erwartet, dass alles perfekt klappt. Gesteigerte Fehlertoleranz kann befreien, kann helfen Dinge zu probieren und Erfahrungen jenseits der Routine ermöglichen. Diese werden dann wieder verstetigt, etwa in Lehr-Stundenplänen, die ganz selbstverständlich Online- und Präsenzformate kombinieren. Und in Forschungsanträgen werden jetzt selbstverständlich Online-Erhebungsphasen eingeplant. Das sind Innovationen, für die eine Krise den Anstoß gegeben hat.
Elisa Kochskämper: Vielleicht müssen aber gar nicht unbedingt neue Routinen in der Krise entstehen, damit man von einem Lerneffekt sprechen kann. Krisen können Systemschwächen offenlegen. Es können Dinge in den Vordergrund treten, die lange nicht bearbeitet wurden. Dass beispielsweise Digitalisierung im Arbeitsalltag unzureichend umgesetzt ist, liegt schon lange auf dem Tisch, aber es galt als nicht so dramatisch, deswegen wurde nichts gemacht. In der Coronakrise hat sich gezeigt, dass darin eine Verwundbarkeit liegt. Diese wird jetzt ernst genommen.
Gibt es denn bestimmte Faktoren, die darüber entscheiden, ob aus einer Krise gelernt wird oder nicht?
Tjorven Harmsen: Krisen bieten zwar Lerngelegenheiten, aber gerade in einer hoch professionalisierten Problembearbeitung haben Krisen auch eine Eigendynamik, die zumindest tiefergehende Lernprozesse wieder ausbremst. In Organisationen, die ein disruptives Ereignis verarbeiten, rückt die akute Krise in der Prioritätenliste auf Platz eins. Sie wirkt als Aufmerksamkeitsfänger, wie ein Stressimpuls, der dazu führt, dass Muskeln stärker durchblutet werden. Sobald aber die akute Krise vorbei ist, werden wieder Ressourcen vom jeweiligen Thema ab-gezogen. Die Organisation müsste sich dann aktiv dafür entscheiden aus der Krise lernen zu wollen. Das ist eine Hürde.
Elisa Kochskämper: Was wir aus Forschung zum Politiklernen im Kontext von Hochwasser wissen ist, dass nur unter Druck wirklich gelernt wird. Lernen durch Erfahrung führt zu mehr Ergebnissen als Lernen durch theoretische Auseinandersetzung mit einem Thema. Lernen über räumliche und fachliche Zuständigkeitsgrenzen oder über Politikfelder hinweg funktioniert außerdem eher schlecht. Das heißt: Für die Organisationen, die unmittelbar betroffen sind, bieten Krisen Gelegenheitsfenster zum Lernen. Die Frage bleibt aber, ob neues Wissen wirklich in neue Routinen überführt wird. Welche Konsequenzen genau gezogen werden, hängt letztlich stark vom jeweils herrschenden Diskurs ab, wie auch von den Interessen und Agenden der beteiligten Akteure.
Am intensivsten lernen Mitglieder einer Community of Practice voneinander, also Menschen, die sich in ihrem Alltag mit derselben Art von Problemen beschäftigen. Das funktioniert auch über Distanz hinweg und unabhängig davon, ob jemand persönlich von einer Krise betroffen ist. Bei einer Krise, die an einem bestimmten Ort stattfindet, ist also die Frage, wie die lokale Gemeinschaft sich möglicherweise überlappt mit Praktikergemeinschaften, die wichtige Erfahrungen weitertragen können.
Wolfgang Haupt: In Münster gab es 2014 ein Unwetter, das schwere Schäden verursacht hat. Das hat Aufmerksamkeit erzeugt. Münster gilt als sehr fortschrittlich in der Klimaanpassung, also auch in der Vorbereitung auf Ereignisse wie dieses. Wenn es dort zu schweren Schäden kommen kann, dann sehen andere Kommunen, dass es bei ihnen auch passieren kann. Das ist ein wesentlicher Punkt: Damit Akteure aus einem Ereignis lernen können, das woanders stattfindet, müssen sie einen Bezug zu dem Ort haben. Es muss Referenzpunkte geben, die vermitteln: „Das kann uns auch betreffen“. Tschernobyl lag in der Sowjetunion, das war gefühlt – technisch, politisch – sehr weit weg. Man konnte sagen: „Bei uns kann so etwas nicht passieren.“ Japan ist näher an unserem Selbstverständnis als Industrienation dran, deshalb hatte das Reaktorunglück in Fukushima für unsere Energiepolitik direktere Konsequenzen. Der verrauchte Himmel über San Francisco betrifft uns gefühlt auch direkter als Feuer am Amazonas oder in Sibirien.
Oliver Ibert: Sicher ist entscheidend, ob eine organisationale Einheit dazu bereit ist, neue Lektionen zu lernen, etwa wenn sie sich schon mit dem jeweiligen Thema beschäftigt hat. Die Krise bestätigt dann die Vorbereitung. Die Frage der Bereitschaft hat aber auch eine normative, institutionelle Komponente. In Frankreich ist Atomenergie beispielsweise ein Modernitätssymbol. Das Land bezieht ca. 70% seines Stroms aus Atomenergie. Wenn man so aufgestellt ist, lässt man sich auch nicht von einem Ereignis wie in Fukushima erschüttern. Wichtig ist auch, wie eine Krise erklärt wird. Werden interne oder externe Erklärungsfaktoren herangezogen?
Je mehr eine Krise durch äußere Faktoren erklärt wird, desto weniger wird daraus gelernt. Wenn andere schuld sind oder sogar niemand schuld ist, kann ich keine Konsequenzen ziehen. Je mehr ich aber eine Krise als Konsequenz innerer Unzulänglichkeiten sehe, desto eher bin ich dazu bereit.
Es gibt aber auch die gegenteilige Gefahr, dass Krisen vollends die Logik politischer Steuerung dominieren, dass nichts mehr strategisch und planvoll abgearbeitet werden kann, und dass beim Lernen aus Krisen Einzelereignisse aufgebläht und fälschlicherweise allgemeine Rückschlüsse aus ihnen gezogen werden. Ich finde die Frage spannend, ob es tatsächlich stimmt, dass wir von einer Krise in die nächste schlittern, und dass nur noch im Krisenmodus regiert wird. In welchem Verhältnis stehen alltägliches Politikverständnis und Krisenmanagement? Wie kann ich erfolgreich Krisen als Lerngelegenheiten nutzen und zugleich die politische Steuerungsfähigkeit im Alltag nicht verlieren? Das ist ein Forschungsthema für die Zukunft.
Kristine Kern: Man kann sicherlich Unterschiede zwischen nationalen Kulturen sehen bei der Art wie Risiken bewertet werden. In Deutschland sind Deiche höher als in den Niederlanden. Dafür gibt es keine rationale Erklärung. Auch den Diskurs um das Waldsterben in den 1980ern gab es in Frankreich nicht.
Man muss aber auch konkret auf die Art der Krise schauen. Wenn wir über eine Verwaltungskrise reden, dann ist die Frage, wie eine Verwaltungsorganisation aussehen kann, die Lernen fördert. Es gibt Diskussionen über das Konzept der „agilen Verwaltung“, das völlig andere Strukturen vorsieht, als wir sie haben. Aber auch hier gibt es Unterschiede zwischen Ländern. Stadtverwaltungen in Finnland lernen beispielsweise schneller als in Deutschland. Das liegt womöglich auch daran, dass dort die Digitalisierung weiter fortgeschritten ist. In der Coronakrise wurde grundsätzlich sehr schnell Neues gelernt. Der schwierigere Teil ist aber das Verlernen alter Routinen.
Vor Corona wurde viel über die Klimakrise geredet. Ist es überhaupt sinnvoll, hier von einer „Krise“ zu sprechen?
Kristine Kern: Ich denke, dass es auch Krisen gibt, die länger laufen. Wir wissen seit den 1980er Jahren, dass der Klimawandel ein globales Problem ist. Seitdem gibt es immer wieder disruptive Ereignisse, in letzter Zeit immer mehr. Man kann darüber streiten, ob man von einer Klimakrise sprechen soll, aber es wird in letzter Zeit verstärkt gemacht. Und es sind immer Ereignisse, die den Anlass dazu geben. Das müssen keine Wetterereignisse wie Dürren oder Überschwemmungen sein. Es kann auch die Veröffentlichung des neuesten IPCC-Berichts sein, das Scheitern des Kopenhagen-Klimagipfels, der Abschluss des Pariser Abkommens. Allerdings funktioniert politisches Agendasetting so, dass immer nur ein Krisendiskurs angesagt sein kann und der vorherige verdrängt wird. Bereits 2008 war viel von Klima die Rede, dann kam die Finanzkrise. Aktuell hat die Coronakrise die Klimakrise verdrängt. Aber sie wird wiederkommen, genau wie die Flüchtlingskrise.
Oliver Ibert: Ich finde es irreführend, die langfristige Erderwärmung als Krise zu bezeichnen. Der Klimawandel begünstigt disruptive Ereignisse wie Dürren und Wirbelstürme. Aber der Begriff „Krise“ sollte auf soziale Systeme beschränkt bleiben, die durch ein von außen oder auch von innen kommendes Ereignis herausgefordert werden und darauf reagieren. Eine Krise ist immer ein zeitlich gedrängtes Aufmerksamkeitshoch, das durch die anfangs genannten drei Merkmale gekennzeichnet wird. Der Klimawandel ist aber ein Feld, in dem immer wieder Krisen entstehen. Das kann ein gutes Kriterium für Lernen in der Krise sein: Wenn in einem Feld immer wieder Krisen entstehen, dann lohnt es sich, aus diesen Krisen zu lernen. Und es stimmt, die globale Migrationsfrage ist nicht annähernd gelöst. Hier werden wir noch viele Krisen erleben. Obwohl es eigentlich keinen überraschen kann, werden doch immer wieder Situationen entstehen, die so niemand antizipiert hat, die schnell eskalieren, und in denen schnell improvisiert und gelernt werden muss.
Elisa Kochskämper: Ich kann die Trennung zwischen Krisen als Einzelereignissen einerseits und einem auslösenden Problemfeld oder einer längerfristigen Entwicklung andererseits nachvollziehen, aber ich bin nicht sicher, ob sie wirklich vernünftig ist. Das, was den Klimawandel so krisenhaft gemacht hat, ist doch der seit Jahrzehnten fehlende Umgang damit, also die Abwesenheit von Lernen. Es gibt Modelle des Erfahrungslernens, die mehrere Stärken von Verhaltensänderungen unterscheiden, von „einfach“ bis hin zu „systemverändernd“. Diese Modelle ließen sich eigentlich gut mit der Krisendefinition verbinden, die wir schon diskutiert haben. Dann könnte man Lernen nicht mehr nur als Ergebnis von Krisen verstehen, sondern auch als Einflussfaktor dafür, ob Entwicklungen langfristig immer krisenhafter eskalieren.
Ist die Coronakrise auch eine Chance für den Klimaschutz, etwa wenn Finanzmittel für die wirtschaftliche Erholung konsequent in klimafreundliche Projekte gelenkt werden?
Oliver Ibert: Rhetorisch wird dieser Punkt ja ganz stark gemacht. Ich habe meine Zweifel. Wie hier schon gesagt wurde, lernen wir aus Krisen immer das, was wir bereit sind zu lernen. Eine Krise ist außerdem auch eine Gelegenheit, eine Agenda durchzudrücken, die man immer schon hatte, wie zum Beispiel erweiterte „Notstands“-Befugnisse für Regierungen und Behörden. Insofern kann die Coronakrise einen Impuls für eine langsame Umorientierung geben, die ohnehin schon stattfindet, aber sie wird kein grundlegendes Umdenken bei Akteuren auslösen, die bisher kein Interesse an Klimaschutz gezeigt haben.
Kristine Kern: Die Coronakrise bietet durchaus Chancen für den Klimaschutz, die aber konsequent genutzt werden müssen: Diese Krise hat dazu geführt, dass Deutschland sein für 2020 vorgesehenes Reduktionsziel bei den Treibhausgasemissionen höchstwahrscheinlich einhalten wird, was ansonsten nicht möglich gewesen wäre. Die Coronakrise hat auch das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung beeinflusst. Negativ betroffen ist der öffentliche Verkehr, viele sind aufs Auto umgestiegen, viele aber auch aufs Fahrrad. In Berlin sind Pop-up-Radwege entstanden, die bereits zum Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen geworden sind. Wie dieser Kampf um den öffentlichen Raum ausgehen wird, ist offen. Aber die Krise hat gezeigt, dass Veränderungen zu Gunsten von Fuß- und Radverkehr möglich sind. Das Berliner Mobilitätsgesetz muss jetzt konsequenter und zügiger umgesetzt werden. Gerade im Verkehrsbereich sinken die CO2-Emissionen ja nicht, sondern steigen tendenziell eher. Im Verhältnis von Stadt und Land entstehen neue Herausforderungen: Wenn jetzt verstärkt Städter aufs Land ziehen, kann das den Druck zu mehr Nachverdichtung verringern, die innerstädtische Grünflächen gefährdet – die wir für die Klimaanpassung dringend benötigen. Auf der anderen Seite entstehen neue Pendelverkehre, die vermieden oder zumindest klimaneutral organisiert werden müssen. Und mehr Fläche wird insgesamt verbraucht. Es hängt von der politischen Gestaltung ab, ob die Chance, die in dieser Krise liegt, genutzt wird.