Die sozialen Räume der Coronapandemie

Die Ausbreitung von COVID-19 ist ein räumliches Phänomen. Karten und Statistiken erfassen die Betroffenheitsgrade von Ländern und Regionen, Hotspots werden identifiziert und die Einflüsse von Mobilitätspraktiken wie Urlaubsreisen geprüft. Ein Sonderheft der Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie widmet sich dem Beitrag der Geographie zum Verständnis der Pandemie. Zwei Beiträge aus dem IRS betrachten die Pandemie aus einer sozialräumlichen Perspektive.

Verena Brinks und Oliver Ibert zeigen in ihrem Beitrag „From Corona Virus to Corona Crisis: The Value of An Analytical and Geographical Understanding of Crisis“ am Beispiel des COVID-19-Ausbruchs in Deutschland, was eine räumliche Perspektive auf Krisen beitragen kann. Dazu nutzen sie das TPSN-Konzept (Territory, Place, Scale, Network) des britischen Soziologen Bob Jessop und Kollegen. Dieses Konzept dient dazu, soziale Phänomene entlang ihrer territorialen Dimension, ihrer Ausprägung an konkreten Orten, ihrer Manifestation auf verschiedenen Skalenebenen und ihrer Ausbreitung zu analysieren. Brinks und Ibert machen darauf aufmerksam, dass in den Reaktionen auf die Ausbreitung des neuen Coronavirus verschiedene Ebenen ineinander spielen. So wirken mehrere territoriale Ebenen (Bund, Länder, transnationale Entitäten) bei der Pandemiebekämpfung teils zusammen und geraten teils in Konflikt, auch in Abhängigkeit davon, wie ein Staat organisiert ist (föderal oder zentralistisch). Brinks und Ibert positionieren sich kritisch gegenüber einer territorialen Logik der Pandemiebekämpfung. Sie heben den Widerspruch zwischen einem Problem, das international abgestimmtes Handeln erfordert, und einer zumindest anfangs stark in nationalen Grenzen gedachten Handlungsweise hervor.

Andreas Kuebart und Martin Stabler werteten für ihren Beitrag „Infectious Diseases as Socio-Spatial Processes: The COVID-19 Outbreak In Germany“ die ersten etwa 1000 Infektionsfälle in Deutschland während der ersten COVID-19-Welle aus, um die sozialräumlichen Prozesse zu identifizieren, die das Infektionsgeschehen antrieben. Sie identifizieren drei Hauptdynamiken: regionale Ausbruchsdynamiken durch Superspreading-Events wie Karnevalsfeiern und Club-Partys, die Verbreitung des Virus durch Mobilitätsnetzwerke, insbesondere Tourismus, sowie Ausbrüche in geschlossenen Umgebungen wie Kreuzfahrtschiffen und Altenheimen. Anders als in den gut dokumentierten Ausbrüchen von SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) und MERS (Middle East Respiratory Syndrome) in den 2000er Jahren spielte hierarchische Ausbreitung (über eng miteinander vernetzte Metropolen) dagegen eine deutlich abgeschwächte Rolle, wie auch die Ausbreitung in der Fläche über Gemeinde- und Kreisgrenzen hinweg. Der besonders dramatische Ausbruch im Kreis Heinsberg blieb beispielsweise auf den Kreis begrenzt, Pendlerverflechtungen über die deutsch-niederländische Grenze hinweg führten nicht zu einer räumlichen Ausbreitung des Infektionsgeschehens. Kuebart und Stabler ziehen daraus den Schluss, dass die Schließung von Grenzen, die in den stark verflochtenen europäischen Grenzregionen zu schweren Disruptionen des Alltags und auch der Kooperation in der Pandemiebekämpfung führten, nicht sinnvoll waren. Regional begrenzte Mobilitätseinschränkungen, das Verbot von Veranstaltungen sowie Einschränkungen im Reiseverkehr seien dagegen adäquat gewesen. Ein Denken in Territorien, einschließlich Grenzschließungen, war in der Frühphase der Coronapandemie somit nur insofern sinnvoll, als es zur Unterbrechung verursachender Mobilitätsnetzwerke führte.

 

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