26. Juli 2021 | Feature

„Auf dem Land ist die soziale Komponente wichtiger“

Interview mit Suntje Schmidt zu kollaborativen Arbeitsorten auf dem Land

Coworking Spaces, FabLabs, Maker Spaces und Repair Cafés – sie alle stehen für neue Formen des gemeinsamen Arbeitens, teils wirtschaftlich, teils ideell motiviert, und für eine neue Offenheit des Zugangs zu Arbeitsmitteln, technischen wie organisatorischen. Lange galten sie als städtisches Phänomen, ihre Ausbreitung begann in den großen Metropolen. In jüngerer Zeit finden sie sich zunehmend auch auf dem Land. Ein neues aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 finanziertes Marie Sklodowska-Curie Innovative Training Network (ITN) nimmt jetzt kollaborative Arbeitsorte – so lautet der Überbegriff für die genannten Einrichtungen – in ländlichen und peripheren Regionen in den Blick: Was unterscheidet sie von ihren urbanen Pendants? Wie können sie das Leben und Arbeiten auf dem Land verbessern? Unter der Leitung der Wirtschaftsgeographin Suntje Schmidt beteiligt sich das IRS am ITN CORAL, in welchem 15 Early Stage Researchers an ihren Promotionen arbeiten werden. Im Interview erklärt Schmidt, was von dem Netzwerk zu erwarten ist.

Frau Schmidt, worum geht es in CORAL?

Um zwei Dinge. Einmal geht es darum, aus der Forschungsperspektive zu fragen: Was sind und was charakterisiert kollaborative Arbeitsorte in ländlichen und peripheren Regionen? Welche Rolle spielen sie für Erwerbsarbeit, welches Potenzial haben sie aber auch in einem weiteren Sinn für die regionale Entwicklung? Zum anderen geht es in einem Marie Curie-Netzwerk immer um praxisnahe Ausbildung. In unserem Netzwerk sind kollaborative Arbeitsorte vertreten, die den Blickwinkel des operativen Managements einbringen. Alle 15 Early Stage Researchers (ESR) werden Praxisaufenthalte haben. Sie sollen hinterher sowohl in der Forschung als auch in der Praxis arbeiten können. Diese Praxisorientierung unterscheidet ein ITN etwa von einer Graduiertenschule.

Ländliches Coworking ist ja schon ein Thema in der öffent­lichen Debatte. Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr?

Es werden große Hoffnungen auf diese Orte gesetzt. Dabei steht die ökonomische Dimension im Vordergrund. Aus meiner Sicht können kollaborative Arbeitsorte aber auch zum sozialen Zusammenhalt auf dem Land beitragen, etwa zwischen den Generationen oder auch zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen. Mir fällt das Beispiel Alte Schule Letschin ein – ein Ort im Oderbruch, kurz vor der polnischen Grenze. Dort wurde ein öffentlich getragener Coworking Space in einem alten Schulgebäude eingerichtet. Der Manager hat alle Letschiner eingeladen, alte Schulbilder mitzubringen. Daraus wurde eine Ausstellung gemacht. So ist nicht nur ein Arbeitsort für Zugezogene oder Selbständige aus der Region entstanden, sondern es wurden auch die Alteingesessenen hereingeholt und es entstand ein Begegnungsraum. Darin liegt ein großes Potenzial.

Ist das der Ansatz bzw. der Beitrag von CORAL, auch die soziale Dimension zu be­leuchten?

Der Mehrwert von CORAL ist, dass wir offen herangehen und schauen: Was passiert dort? Welche Dynamiken beobachten wir, was sind die Herausforderungen solcher Orte und wie sehen sie sich selbst? Ein Teilprojekt setzt sich auch mit der Genderperspektive auseinander, dieser Aspekt ist in der Forschung bisher unterbeleuchtet. Letztlich geht es dabei um die Frage von Offenheit und Schließung: Wer ist hier beteiligt, wer ist eher außen vor? Da diese Orte im Diskurs überwiegend positiv konnotiert sind, lohnt es sich auch, kritisch zu fragen, welchen Beitrag sie wirklich leisten und wie der aussieht. Aus politischer Sicht geht es um die Frage: Kann und soll man diese Orte fördern? Wenn ja, wie? Es gibt im Netzwerk ein Work Package mit mehreren Dissertationen, die sich mit Impact beschäftigen; überwiegend qualitativ, dabei geht es um Wert und Bewertung aus Sicht der regionalen Akteure, zum Teil aber auch quantitativ.

Nun ist die Kategorie „kollaborative Arbeitsorte“ sehr breit. Darunter fallen sehr viele unterschiedliche Einrichtungen wie FabLabs, Maker Spaces, Coworking Spaces, Repair Cafés. Kann man diese Vielfalt überhaupt unter einem Begriff zusammenfassen?

Es ist ein sehr diverses Feld, und die Frage der Definition ist nicht endgültig geklärt. Ein Vorhaben in CORAL ist es, eine Art Typisierung für kollaborative Arbeitsorte in ländlichen Regionen zu erstellen. Wir erwarten, darüber herrscht unter den Beteiligten ein Konsens, dass kollaborative Arbeitsorte auf dem Land zwar Ähnlichkeiten mit ihren städtischen Pendants haben, dass sie sich aber auch von ihnen unterscheiden.
Was ist über diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede bekannt?

Wir wissen noch nicht so viel darüber. Ein bekannter Unterschied bezieht sich auf die Art der Ökonomisierung. In Städten findet man inzwischen oft Ketten wie beispielsweise WeWork, die Coworking Spaces errichten. Es sieht momentan danach aus, dass auf dem Land ein größerer Teil der Orte noch bottom-up organisiert wird, aus den Bedarfen der Trägerorganisationen und der Betreibenden heraus. Die soziale Komponente ist stärker, Sozialunternehmertum ist ein großes Thema. Wir erwarten auch hinsichtlich der Arten der dort stattfindenden Aktivitäten Unterschiede zu sehen.

Gibt es in unterschiedlichen europäischen Ländern unter­schiedliche Blickwinkel und Erwartungen an kollaborative Arbeitsorte auf dem Land, etwa als soziale Infrastrukturen?

Nach meiner persönlichen Beobachtung ist der Diskurs in Frankreich, Italien und Griechenland schon etwas länger ausgeprägt als bei uns. Auch die Frage der Förderung wird dort anders gestellt. Ich glaube, dass in Deutschland und Österreich eher ein pragmatischer Zugang herrscht: Jemand sieht eine Gelegenheit, kommt mit der Bürgermeisterin oder dem Clustermanager ins Gespräch, und eine Lösung wird gefunden. Es gibt aber – noch – keine strukturierte Förderung. Es wird jedoch durchaus darüber nachgedacht, ob beispielsweise größere Coworking Spaces im ländlichen Brandenburg geeignet wären, Pendlerströme nach Berlin zu verringern. Es gibt auch die Diskussion, ob wir etwa Coworking Spaces an Bahnhöfen brauchen. Das wird verstärkt durch die Erfahrungen, die wir in der Pandemie gemacht haben.

Welche Auswirkungen hat denn die COVID-19-Pandemie auf die Diskussion um solche Orte?

Es geht hier ja um Orte, in denen Begegnungen geschaffen werden sollen, auch durch spezielle Formate – also genau das, was gerade nicht geht. Projektpartner*innen aus Italien und Frankreich berichten, dass eine ganze Reihe von Orten geschlossen wurde. Wir selbst mussten in der Phase der Vertragsunterzeichnung für CORAL eine neue Partnerorganisation aus der Praxis finden, weil ein Unternehmen im Konsortium die Pandemie nicht überstanden hatte. Andere berichten aber, dass gerade in der Pandemie Orte neu gegründet wurden und besonders gut funktionieren, möglicherweise weil sie genau auf die Bedarfe von ihren Nutzer*innen in der Pandemie eingehen, die ja trotz allem Umgebungen brauchen, in denen sie weiterarbeiten können. Durch die Pandemie ist noch deutlicher geworden, dass es neben einem Büro am Firmensitz und dem privaten Home-Office weitere Orte geben muss, an denen Arbeit sicher und flexibel organisierbar ist. Nur Home-Office geht auf Dauer nicht, wie viele in der Pandemie schmerzlich erfahren haben, aber das klassische Büro wird gerade, auch durch Corona, ebenfalls zunehmend hinterfragt.

Wo steht eigentlich Europa in dieser Diskussion? Sind kolla­borative Arbeitsorte in Europa erfunden worden, oder ist diese Idee von woanders „herübergeschwappt“?

Da gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Manche sehen in den Hacker Spaces des Chaos Computer Clubs den Ursprung dieser Bewegung, manche sehen die Freien Werkstätten der 1970er-Jahre als Ursprung, und manche verweisen auf den ersten Coworking Space in San Francisco. Ich würde sagen, dass durch die Digitalisierung und die Entwicklung zu einer Wissensgesellschaft einfach ein Bedarf nach neuen Arbeitsorten entstanden ist, und deshalb sind gerade in großen Städten fast überall auf der Welt entsprechende Angebote entstanden.

Kommen wir zurück zum ITN CORAL: Warum wird das Thema in der Form eines EU-finanzierten Ausbildungs­netz­werks behandelt und nicht in einer anderen Form?

Es gibt ja ein anderes Format, ein COST-Netzwerk* zur Geographie neuer Arbeitsorte und ihren Auswirkun­gen auf periphere Räume. Daraus ist CORAL entstanden. Der Vorteil der praxisnahen Ausbildung in CORAL ist, dass wir sehr breit und zugleich strukturiert an eine offene Frage herangehen können. Wir bringen die Leute, die schon sehr ausgewiesen sind, mit 15 Nachwuchsforscher*innen zusammen, die neu einsteigen und neue empirische Beiträge leisten. Das ist eine gute Art, ein Themenfeld zu erschließen, über das noch wenig bekannt ist.

Wie würden Sie das CORAL-Konsortium beschreiben?

Das CORAL ITN wird von Vasilis Avdikos von der Panteion University in Athen koordiniert, einem Wissenschaftler, der seit vielen Jahren in diesem Forschungsfeld profiliert ist. Darüber hinaus sind weitere interdisziplinäre wissenschaftliche Expert*innen in das Konsortium eingebunden. Ich empfinde es als einen besonderen Mehrwert von CORAL, dass das Netzwerk interdisziplinär ausgerichtet ist mit einer starken wirtschaftswissenschaftlichen Komponente, auch mit quantitativer Forschung, und zugleich mit einem breiten sozialwissenschaftlichen Anteil. Hinzu kommen die Praxispartner, wie das European Creative HUB Netzwerk, Otelo oder das Impact Hub sowie der Landesverband der Kultur- und Kreativwirtschaft Sachsen e.V. Solche praxisnahe Forschung passt sehr gut zum Leibniz-Motto theoria cum praxi.

Welche Rolle spielt das IRS?

Bei uns werden zwei Promovierende forschen, und zwar zum einen zur Einbettung kollaborativer Arbeitsorte in translokale unternehmerische Ökosysteme und zum anderen zur Rolle der Orte in der Regionalentwicklung, einschließlich der Frage wie ihr Wert bemessen werden kann und inwiefern sie gefördert werden könnten oder sollten. Als Work Package Leader für das WP Training werden wir außerdem den Fortschritt der ESR im ganzen Netzwerk beobachten und begleiten. Wir haben auch die CORAL Schools mitentwickelt, bei denen die Promovierenden sich austauschen, inhaltliche Impulse erhalten und viele wichtige Fertigkeiten für ihre Forschung weiterentwickeln werden, etwa wie man ein Forschungsdesign anlegt oder wie man Forschungsergebnisse adressatengerecht aufbereitet. Insgesamt wird es vier CORAL Schools geben, die durch weitere Workshops und „knowledge exchange days“ ergänzt werden. Wir werden auch zwei ESR aus dem Netzwerk zeitweise bei uns als Gastwissenschaftler*innen begrüßen, denn alle Nachwuchswissenschaftler*innen absolvieren sowohl für ihre Forschung als auch für das praktische Lernen Gastaufenthalte bei anderen Einrichtungen im Netzwerk.

Welche speziellen Kompe­tenzen bringt das IRS ein?

Wir bringen unseren Ansatz der Offenen Region ein, also unser Wissen über Beziehungsnetzwerke in Regionen und über Regionen hinaus. Wir werden in den beiden Forschungsvorhaben zu unternehmerischen Ökosystemen und
zu regionaler Entwicklung, die wir betreuen, nicht nur auf die Einbettung von kollaborativen Arbeitsorten in der Region achten, sondern auch auf ihre Einbettung in weiträumige Beziehungen. Darüber hinaus bringen wir Erfahrungen aus unseren eigenen Arbeiten zu kollaborative Arbeitsorten ein, beispielsweise zur Typisierung von Open Creative Labs oder zur Frage, wie diese Orte zu Resilienz in volatilen Arbeitsmärkten beitragen. Dazu kommt unsere Methodenkompetenz in qualitativer empirischer Sozialforschung und generell unsere raum-zeitliche Forschungsperspektive.

Was will das Netzwerk praktisch erreichen, welchen Wissenstransfer soll es geben?

Zum einen haben wir Praxisorganisationen im Netzwerk, die sich aktiv in alle Phasen des Forschungsprozesses einbringen. Sie werden die Ergebnisse für sich interpretieren und daraufhin ihre eigene Arbeitspraxis reflektieren. Zudem beteiligen sie sich an den Weiterbildungen für die ESRs, beispielsweise zum Projektmanagement oder zur Entwicklung von Geschäftsideen. Am Ende der Laufzeit wird es außerdem zwei Policy Days geben, auf denen wir Ergebnisse mit Vertreter*innen der Lokalpolitik und der Regionalentwicklung diskutieren und aus deren Blickwinkel bewerten.

Was passiert als nächstes?

Gerade haben wir alle 15 ESRs rekrutiert und sie werden im September ihre Arbeit an den Instituten aufnehmen. Ebenfalls im September wird es ein erstes Kennenlerntreffen geben, dann noch digital. Auch die erste CORAL School im Januar werden wir vielleicht noch virtuell abhalten. Die folgenden Treffen und vor allem die Gastaufenthalte sollen aber wieder physisch stattfinden.

Kontakt

Leiterin Forschungsschwerpunkt