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Verkehrswende in Suburbia?
Der Verkehrs- und Logistikbereich ist ein Sorgenkind des Klimaschutzes. Für eine spürbare Verringerung seiner Treibhausgasemissionen werden neue, nachhaltige Konzepte benötigt, die über individuelle E-Mobilität hinausgehen und wirksam Verkehrsströme reduzieren. Solche Konzepte werden aber bislang hauptsächlich im Kontext städtischer Zentren diskutiert; suburbane und ländliche Räume werden zu wenig beachtet. Ein Projektverbund unter Beteiligung des IRS hat deshalb in einem urbanen und einem suburbanen Quartier vergleichend untersucht, unter welchen Bedingungen Menschen neuartige Lösungen in Stadtlogistik und Verkehr akzeptieren und nutzen.
Seit Jahren hinkt der Verkehrssektor beim Klimaschutz hinterher. Während andere Bereiche ihre Treibhausgasemissionen spürbar senkten, liegen die Emissionen beim Verkehr auf dem Niveau von 1990 und gingen erst durch die Corona-Pandemie etwas zurück, wie das Umweltbundesamt im Oktober 2021 mitteilte. Die Menschen im „Autoland Deutschland“ tun sich schwer mit Alternativen zum motorisierten Individualverkehr. Auch der Anstieg des Online-Shoppings und der Paketzustellungen mit emissionsintensiven Transportern trägt zu den anhaltend hohen Emissionen bei. Was sind die Gründe für die geringe Bereitschaft zur Änderungen des Verhaltens bei Mobilität und Logistik? Bei der Ursachenforschung rücken spezifische lokale Bedingungen in den Blick: Distanzen, die überwunden werden müssen, und die unterschiedliche Ausstattung verschiedener Raumtypen – innerstädtisch, suburban, ländlich – mit Verkehrsinfrastrukturen beeinflussen die Chancen für eine Verlagerung hin zu ökologischen Alternativen. Die Forschung trägt diesen räumlichen Unterschieden allerdings bislang zu wenig Rechnung. Die Mobilitäts- und Logistikwende hin zu nachhaltigen Verkehrs- und Lieferformen wird bisher hauptsächlich mit Blick auf Metropolen und Großstädte untersucht.
Diese Forschungslücke adressiert das Forschungsprojekt „Stadtquartier 4.1“, indem es die soziale Akzeptanz und Nutzung von nachhaltigen Verkehrs- und Logistiklösungen vergleichend für einen urbanen und suburbanen Raum untersucht. Konkret geht es dabei um Sharing-Lösungen für Lastenräder und um alternative Zustellsysteme wie anbieteroffene Paketstationen, die den Zustellverkehr auf der „letzten Meile“ verringern sollen. Als Fallbeispiele dienen die urban geprägte Mierendorff-Insel in Berlin-Charlottenburg (der Name verweist auf die Insellage zwischen Spree und Westhafenkanal) und die Kleinstadt Erkner aus dem suburbanen Gürtel um Berlin. Neben der Zugehörigkeit zur Metropolregion Berlin haben beide Gebiete eine vergleichbare Einwohnerzahl (rund 15.000 Menschen leben auf der Mierendorff-Insel, 12.000 in Erkner). Unterschiedlich sind jedoch die räumlichen, siedlungsstrukturellen und infrastrukturellen Gegebenheiten. Hohe Bevölkerungsdichte, gründerzeitliche Blockrandbebauung und eine ausgezeichnete Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind im urbanen Quartier prägend. Geringe Dichte, eine Mischung aus Einfamilienhaus- und Plattenbaugebieten sowie eine autozentrierte Infrastruktur prägen dagegen das suburbane Quartier.
Seit Mai 2020 hat das Projektteam beide Gebiete umfassend untersucht, unter anderem durch Begehungen, explorative Interviews, Medienanalysen und repräsentative Haushaltsbefragungen. Vor allem die Ergebnisse der standardisierten Haushaltsbefragungen lassen einen systematischen Vergleich zwischen beiden Gebieten zu. Dabei fällt auf, dass sich beide Quartiere noch stärker voneinander unterscheiden als wir es bereits vermutet hatten. Überspitzt gesagt befindet sich das urbane Quartier bereits mitten in der Verkehrswende, während die Kommune im suburbanen Raum noch am Anfang dieses Wandels steht. Eindrücklich sind die Unterschiede beim Stellenwert des Autos. Während in Erkner 43,6 % aller Wege mit dem privaten Auto zurückgelegt werden, beträgt dieser Anteil auf der Mierendorff-Insel nur 18,0 %. Im suburbanen Quartier kommen auf jeden Haushalt im Mittel 1,17 Autos, im urbanen Quartier nur 0,54. Die Bedeutung, die der private PKW für viele Menschen in Erkner hat, bringt ein Befragter auf den Punkt: „Ohne Auto geht nix!“
Weitere Befunde legen nahe, dass die sozial-ökologische Transformation im suburbanen Raum auf größere Widerstände trifft. So ist die soziale Akzeptanz von nachhaltigen Verkehrs- und Logistiklösungen wie anbieteroffenen Paketstationen oder Lastenrad-Sharing im suburbanen Gebiet erkennbar geringer als im urbanen Quartier. Auch die Bereitschaft zum Verzicht auf emissionsintensive Haustürzustellungen von Paketen zugunsten der nichtmotorisierten Selbstabholung in Paketstationen oder Paketshops ist in Erkner deutlich geringer als auf der Mierendorff-Insel. Wenn Pakete selbst abgeholt werden, dann in der Hälfte der Fälle mit dem Auto (gegenüber 15 % motorisierte Paketabholung im Mierendorff-Kiez). Während Paketstationen in Berlin-Charlottenburg durch das Ersetzen von Haustürzustellungen Verkehr und Emissionen reduzieren, treten in Erkner deutliche Rebound-Effekte auf. Die auf Emissionsreduktion konzipierten Paketstationen haben einen gegenteiligen Effekt und erzeugen mehr Verkehr. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Rezepte für nachhaltige Mobilität und Logistik nicht ohne Weiteres von Innenstadtquartieren auf den suburbanen Raum übertragbar sind.
Wie erklärt sich aber das weniger nachhaltige Verkehrs- und Logistikverhalten der Menschen in Erkner? Grob gesagt können individuelle und strukturelle Erklärungen herangezogen werden. Während erstere auf individuelle Einstellungsmuster oder Kosten-Nutzen-Abwägungen abstellen, sind aus der zweiten Perspektive Angebotsstrukturen und gesellschaftliche Orientierungsmuster entscheidend. Wir finden für beide Ursachenkomplexe Belege und argumentieren, dass sich Unterschiede im Verkehrs- und Logistikverhalten durch ein Zusammenspiel aus spezifisch urbanen und suburbanen Einstellungsmustern und Routinen auf der einen Seite und strukturellen Möglichkeiten und Hemmnissen auf der anderen Seite ergeben. Das entlastet freilich weder die Institutionen noch den Einzelnen von der Verantwortung, sich um ein umweltgerechteres Verkehrs- und Logistikverhalten zu bemühen. Auf der Individualebene treten die Unterschiede zwischen urbanem und suburbanem Erhebungsgebiet als Einstellungsunterschiede zu Tage: Die Anwohnenden aus Berlin-Charlottenburg bejahen Umweltschutz im Allgemeinen und die Notwendigkeit einer Verkehrswende im Besonderen deutlich stärker als die Menschen in Erkner. Für eine Reduzierung des Autoverkehrs spricht sich im Berliner Untersuchungsgebiet fast jeder Zweite uneingeschränkt aus, in Erkner weniger als jede Dritte. Dabei ist es nicht notwendigerweise so, dass geringere Umwelteinstellungen kausal eine stärkere Autonutzung erklären, sondern umgekehrt, eine automobile Lebensführung kann zu schwächeren Umwelteinstellungen führen. Die Soziologen Marco Sonnberger und Matthias Leger von der Universität Stuttgart haben für diese Beobachtung frei nach Marx das Bonmot geprägt „Nicht die Auto-Nutzung bestimmt das Auto-Sein, sondern das Auto-Sein das Auto-Bewusstsein.“
Wie oben gezeigt, wäre es jedoch zu kurz gegriffen, allein die Bewohner*innen der Vororte für eine schlechte Umweltbilanz beim Verkehrs- und Logistikverhalten verantwortlich zu machen. Strukturelle Bedingungen erschweren es, in Erkner ein gleichermaßen nachhaltiges Verkehrsverhalten zu pflegen wie in Berlin-Charlottenburg. Die nichtmotorisierte Paketabholung ist einfacher beim Paketshop um die Ecke zu erledigen als in der drei Kilometer entfernten Paketstation. Der Verzicht auf die Autofahrt zur Arbeit ist leichter mit einer fußläufig erreichbaren U-Bahn-Station zu realisieren als mit stündlich verkehrenden Bussen. Diese Beispiele verweisen auf eine weitere Erkenntnis, nämlich dass die Verkehrsmittelnutzung für die meisten ein Mittel zum Zweck und weniger der eigentliche Zweck ist. Lassen sich Mobilitätsanlässe und Orte gut im Aktivverkehr – zu Fuß oder mit dem Rad – oder mit den Öffentlichen erreichen und miteinander verbinden, ist der Verzicht auf das Auto wahrscheinlicher. Die Planung steht vor der Aufgabe, wichtige Funktionsbereiche wie Wohnen, Arbeit, Freizeit, Einkaufen und öffentliche Dienste so zu vernetzen, dass sie mit den Verkehrsmitteln des Umweltverbundes gut zu erreichen sind. In den meisten Vororten ist es aber eher so wie in Erkner. Die Arbeitsstelle ist in der nahegelegen Metropole, Arzt und Friseur im lokalen Zentrum, die Lebensmittelmärkte liegen an den großen Ausfallstraßen und der nächste Baumarkt im Nachbarort. Eine zeiteffiziente Lebensführung ist für die meisten nur mit dem Auto zu haben.
Was kann getan werden, um die notwendige Mobilitätswende auch im suburbanen Raum zu befördern? Neben der Bündelung von Funktionsbereichen gibt es großen Nachholbedarf beim Ausbau nachhaltiger Alternativen. Busse müssen häufiger und auch in den Randzeiten verkehren. Für den Aktivverkehr müssen mehr sichere Räume geschaffen werden. Für Verkehrsforscherinnen wie Lisa Ruhrort vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung genügen solche Anreize jedoch nicht, um den Umstieg auf den Verkehrsverbund und die ehrgeizigen Reduktionsziele im Verkehrssektor zu erreichen. Neben „Pull“-Maßnahmen, welche die Attraktivität des Umweltverbundes stärken, müsse es auch „Push“-Elemente hin zu einer Verteuerung des Autoverkehrs geben. Oder, wie es der Nachhaltigkeitsforscher Daniel Hausknost von der Wirtschaftsuniversität Wien ausdrückt: „Wir müssen Türen schließen, damit andere aufgehen können.“
Das Projekt „StadtQuartier4.1 – Entwicklung und praktische Umsetzung flexibler Quartiers-Hubs in der Metropolregion Berlin-Brandenburg“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Neben dem IRS sind die LogisticNetwork Consultants GmbH (LNC), das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik und die insel-projekt.berlin UG an dem Verbund beteiligt.