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Neue Möglichkeiten für Forschung und Archive
Innovative Formen der Forschung und des Wissenstransfers, die überwiegend auf digitalen Tools und Methoden beruhen, spielen seit einiger Zeit auch im Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte und Archiv des IRS eine wichtige Rolle. Damit greifen die Historiker*innen neue Trends und Methoden der Forschung auf, die in den Geschichtswissenschaften sowie allgemeiner in den Geisteswissenschaften seit einigen Jahren Fahrt aufgenommen haben. Die fachdisziplinären Schlüsselkonzepte heißen dabei „Citizen Science“ auf der Forschungs- und „Public History“ auf der Vermittlungsebene. Sie sollen dazu beitragen, breitere Schichten der Gesellschaft in die Wissensproduktion der historischen Forschung zu integrieren sowie die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Ergebnisse zielgenauer an das interessierte Publikum zurückzugeben.
Bürgerwissen in Forschungs- und Transferaktivitäten einzubeziehen ist für das Team des Forschungsschwerpunkts Zeitgeschichte und Archiv eigentlich nichts Neues. So entwickelte die Historische Forschungsstelle des IRS das Format der Werkstattgespräche zur DDR-Planungsgeschichte und praktizierte es jahrzehntelang. Mit den Werkstattgesprächen konnte der engere Kreis der Forschenden durch Interventionen von Aktiven aus der DDR-Planerszene sowie von weiteren engagierten und interessierten Personen zur außerwissenschaftlichen Gesellschaft hin geöffnet werden. Auch in der Forschung im engeren Sinn wird beispielsweise mit Zeitzeug*innen gearbeitet. Relativ neu sind dagegen die Möglichkeiten, die sich aus digitalen Infrastrukturen, Tools und Medien ergeben – für Archivierung, Dokumentation, Analyse und Kommunikation.
Erprobt und umgesetzt werden entsprechende Ansätze zurzeit sowohl in der Forschung wie auch im Transfer wissenschaftlicher Ergebnisse in die Gesellschaft. So werden in der raumbezogenen Forschung des IRS, beispielsweise im Leitprojekt des Forschungsschwerpunkts zur Transformation in Berlin-Brandenburg nach 1989/90, neue Ansätze des Deep Mappings angewandt, mit denen über die herkömmlichen methodischen Zugriffe wie Karten- und Dokumentanalysen oder Zeitzeugenbefragungen hinaus erweiterte Dimensionen von historischer Realität sichtbar werden sollen, etwa sich überlagernde Realitäten verschiedener Akteure oder subjektive Wahrnehmungen. Sie können so in Forschungsdesigns integriert und auf multimedialen, zeitlich differenzierten Karten auf weithin zugänglichen Webseiten präsentiert werden.
Am IRS entstehen neue Möglichkeiten der geschichtswissenschaftlichen Forschung durch die seit einiger Zeit forcierte Digitalisierung der planungsgeschichtlichen Bestände der Wissenschaftlichen Sammlungen. Die Bereitstellung eines wachsenden Anteils des Archivs in digitaler Form bildet oftmals überhaupt erst die Voraussetzung für die Präsentation des Materials im Netz und damit für breite Kreise ganz neue Ansätze der geschichtswissenschaftlichen Analyse. Mit Hilfe von Sondermitteln des Landes Brandenburg wurde zudem die Anschaffung von neuer Hard- und Software zur Erstellung hochaufgelöster Bild-, Ton- und Videoaufnahmen, zur Bestimmung von Geodaten im Raum sowie zur Simulation von Gebäuden und Räumen und ihrer Entwicklung auf dem PC ermöglicht. So können einzelne Gebäude oder ganze Stadtareale in dreidimensionaler Perspektive dargestellt werden. Wird auch noch deren Entwicklung in der Zeit simuliert, sind 4D-Darstellungen möglich, wie sie bereits in der Archäologie oder Architektur Anwendung gefunden haben. Das Know-how, das im Forschungsschwerpunkt rund um die dazu notwendige Hard- und Software angesammelt wird, kann schließlich auch anderen interessierten Einrichtungen wie beispielsweise den Denkmalämtern als Service angeboten werden.
Ebenfalls neu ist die Integration von Ansätzen der Citizen Science in die historische Forschung, ein Konzept, das sich auch in den Geschichtswissenschaften immer weiter verbreitet und für das es inzwischen sogar ein Grünbuch gibt. Sowohl im Projekt „Stadterneuerung am Wendepunkt“, das den Kampf von Bürgergruppen gegen den Verfall von Altstädten in der DDR untersuchte, als auch im Projekt „CitizenArchives“ werden Online-Tools entwickelt, die es Bürger*innen erleichtern, ihr Wissen und ihre Dokumente zum jeweiligen Thema einzubringen oder bei der Erschließung von Archivalien zu helfen. Davon profitieren schließlich alle Beteiligten und nicht zuletzt die Forschung. Entscheidend ist, dass alle diese neuen technologischen Werkzeuge und Medien zusammen mit der Digitalisierungsoffensive im Archiv Potenziale für eine wirklich innovative Forschung bieten, die ohne sie mit herkömmlichen Mitteln gar nicht oder nur wesentlich mühsamer erreichbar wären.
Neben der Forschung gewinnt der Transfer des gewonnen Wissens in die Gesellschaft für Forschungseinrichtungen immer größeres Gewicht und wird – völlig zurecht – von den Geldgebern der Forschung wie den Ministerien oder Stiftungen immer stärker eingefordert. Auch in diesem Bereich sind in jüngster Zeit verstärkt neue Medien und Formate eingesetzt worden. Dazu gehören schon seit längerem obligatorische Websites zu einzelnen Forschungsprojekten, die nun allerdings – wie im Stadtwende-Projekt – mit interaktiven Kartendarstellungen versehen sind, die aus hinterlegten Datenbanken gespeist werden. Solche interaktiven Darstellungen und Tools erlauben es den Nutzenden, durch facettierte Suchabfragen der dargestellten Inhalte eigenständige Fragestellungen und Wissensabfragen durchzuführen, die nicht nur interessanter als statische Darstellungen sein können, sondern ihrerseits neue Forschungsaktivitäten ermöglichen.
Aber auch andere Produkte sind in jüngster Zeit vorangetrieben und erprobt worden. Dazu gehören beispielsweise ein Podcast zur historischen wie aktuellen gesellschaftlichen Bedeutung des abgerissenen Palasts der Republik, Audiowalks zur „Authentisierung“ des Bauerbes sowie zum Widerstand von Bürgergruppen gegen den Altstadtverfall in Ost-Berlin oder auch von einzelnen Wissenschaftler*innen des Forschungsschwerpunkts aktiv mitgestaltete Foren in sozialen Netzwerken, etwa zur Bedeutung der Ostmoderne der DDR. All diese Formate werden mit dem Anspruch organisiert, die Fachleute mit den Laien aus der Mitte der Gesellschaft zu verbinden.
Die Vorteile der neuen medialen Ansätze liegen auf der Hand: Mit digitalen Tools und einer partizipativen Herangehensweise lässt sich Forschung weit stärker in die Gesellschaft tragen; sie wird dadurch demokratischer und von einer breiteren gesellschaftlichen Basis, also auch von Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, getragen. Insbesondere sind die neuen, technologieunterstützten Medien und Formate der Ansprache und Wissensvermittlung in ihrer Form im Vergleich zu den traditionellen Medien niedrigschwelliger, die Hürden zu ihrer Rezeption sind niedriger. Dadurch wird Forschung insgesamt relevanter für die Gesellschaft, weil sich mehr Bürger*innen mit für sie interessanten Themen beschäftigen können. Die neuen Herangehensweisen sind aber gleichzeitig auch hilfreich für die Forschung, die so aus ihrer in früheren Zeiten häufig selbst gewählten Isolation im berühmten Elfenbeinturm herauskommt. Mit Hilfe digitaler Technologien werden nämlich in Form der Beteiligung von Laien, deren Beiträge forschungsseitig bislang tendenziell unterschätzt wurden, neue Wissensressourcen erschlossen.
Zielgruppe der neuen Vermittlungsansätze sind die Bürgerinnen und Bürger, die über ihre Steuern die Forschung finanzieren und teilweise auch sehr stark an einzelnen Themen interessiert sind. Besonders richten wir unsere Ergebnisse über diese neuen Formate an Menschen, die wichtige, bisher unentdeckte Dokumente zum Thema bereitstellen können, mit deren Hilfe geforscht und die über das Archiv zusätzlich dauerhaft für die Öffentlichkeit und die Forschung zur Verfügung gestellt werden können. Unser Interesse richtet sich aber auch auf interessierte Individuen, Gruppierungen, Heimatvereine, historische Vereine oder solche Laien, die sich für einzelnen Themen, Gebäude oder Städte interessieren oder sogar selbst Material, Fotos oder Wissen zu bestimmten auf Fotos oder Dokumenten dargestellten Sachverhalten liefern können. Dies bereichert wiederum die Forschung und das Archiv.
Neue, durch digitale Medien und Technologien gestützte Ansätze der geschichtswissenschaftlichen Forschung und des Wissenstransfers stellen also keinesfalls einen Ersatz für etablierte Forschungsmethoden und Kommunikationsformate dar. Letztere behalten ihre Berechtigung. Vielmehr geht es darum, neue Ansätze strategisch sinnvoll in bisherige Forschungs- und Vermittlungsdesigns zu integrieren und so breitere Bevölkerungsschichten und neue Rezipientenkreise anzusprechen, zu denen bis dato oftmals nicht so leicht ein Zugang gefunden werden konnte.