28. November | 2022

Die Stadtwende in Zeitzeugeninterviews: Ein kurzer Forschungsbericht zu Altstadtinitiativen in der DDR

Die Arbeit mit Zeitzeug*innen hat in der geschichtswissenschaftlichen Forschung einen zweifelhaften Ruf. Lange galt sie nur als Mittel der Illustration. Doch die persönliche Erinnerung kann auch als Quelle wichtiger Erkenntnisse dienen – gerade in Verbindung mit und im Kontrast zu schriftlichen Quellen. IRS-Historikerin Julia Wigger nutzte diese Methodenkombination in ihrer Forschung zu Altstadtinitiativen in der DDR. Hier zeigt sie, wie die beiden Quellenarten sich ergänzten.

Der Zeitzeuge als natürlicher Feind der Historikerin – dieses mehr oder weniger ernst gemeinte Bonmot taucht früher oder später auf, wenn man in geschichtswissenschaftlichen Forschungsprojekten mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen arbeitet. Die methodischen Herausforderungen im Umgang mit selbstgeführten Interviews sind unbenommen: Es sind viele Studien über das Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung in den Geistes- und Sozialwissenschaften erschienen. Dabei ist unter anderem auf die Fluidität und Unzulänglichkeiten der Erinnerung verwiesen worden. Ebenso betonen Wissenschaftler*innen immer wieder die Subjektivität der mündlichen Berichte. Reflektiert haben Forschende zudem über die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Person, die das Interview führt. So haben das Setting, das Auftreten und die Art, die Fragen zu stellen, einen immensen Einfluss auf die formulierten Antworten. Darüber hinaus hat der Einsatz von Zeitzeug*innen zu bloßen Beleg- oder Authentizitätszwecken vielfach Kritik ausgelöst.

Doch bei allen methodischen Herausforderungen hat mittlerweile eine Vielzahl von Forschungsprojekten den Mehrwert der Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch für die Forschung zur DDR-Geschichte eindrucksvoll belegt. Denn gerade wenn es um die Alltags- und Sozialgeschichte geht, lassen sich nicht immer (vollständige) schriftliche Überlieferungen zu den angelegten Fragestellungen finden.

Die Stadtbevölkerung im Blick

So überrascht es wenig, dass auch das Forschungsverbundprojekt „Stadter­neuerung am Wendepunkt“ („Stadtwende“ – Details zum Projekt siehe S. 13) den Einbezug von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von Anfang an anstrebte. In dem Verbundprojekt, das sich dem Umgang mit der historischen Bausubstanz in der DDR und in Ostdeutschland zuwendet, nehme ich seit 2019 die Stadtbevölkerung in den Blick. Meine Aufgabe in dem Projekt ist es zu fragen, wie die Bürgerinnen und Bürger auf fortschreitenden Verfall und auf geplante Abrisse reagierten. Zu diesem Thema schreibe ich auch meine Dissertation, die im Bereich der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt ist und von Christoph Bernhardt und Heike Wieters betreut wird.

Eine der Ausgangsthesen war es, dass Verfall und Leerstand nicht nur Ärger und Abwanderungen in die Neubaugebiete provozierten, sondern auch zu einer gesellschaftlichen Aktivierung führten. Um dies zu untersuchen, nehme ich besonders die sogenannten Altstadtinitiativen in den Blick. Bei den Altstadtinitiativen handelte es sich, ähnlich wie bei den Friedens-, Umwelt- oder Frauengruppen, um eine organisierte Form des Engagements, das seit Mitte der 1980er-Jahre verstärkt aufkam. Bürgerinnen und Bürger schlossen sich in Gruppen zusammen, um sich gemeinsam für die historische Bausubstanz einzusetzen. Hierfür griffen sie selbst zu den Werkzeugen und nahmen eigenhändig Reparaturen vor, sie schrieben Eingaben oder organisierten Ausstellungen. Oftmals integrierten sie sich hierfür in staatliche Strukturen wie den Kulturbund oder die lokalen Wohnbezirksausschüsse, um einer Kriminalisierung zu entgehen. Mein Forschungsinteresse an den Altstadtinitiativen ist stark sozialgeschichtlich und weniger architekturgeschichtlich orientiert. Im Fokus stehen Fragen nach dem Aufkommen, der Zusammensetzung, den Praktiken und der Entwicklung der Gruppen über den gesellschaftlichen Umbruch 1989/90 hinaus.

Bereits zu Beginn des Projekts war bekannt, dass im Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft ein wichtiger und um-­ fangreicher Quellenkorpus vorhanden ist, der die Arbeit der Altstadtinitiativen ausführlich dokumentiert. Der Bestand wurde von IBIS, dem Informations- und Beratungsinstitut für bürgernahe Stadterneuerung, angelegt und dokumentierte seit 1990 die Tätigkeiten der Altstadtinitiativen. Darüber hinaus ging ich davon aus, weitere schriftliche Überlieferungen in den Landesarchiven sowie den Stadtmuseen und -archiven zu finden. Trotzdem stand schnell fest, dass Interviews ein weiterer wichtiger Baustein für meine Promotion sein würden. Die von mir geführten Interviews folgen nicht im traditionellen Sinne der Oral History, also dem lebensgeschichtlichen Erzählenlassen, sondern sind durch einen vorher erstellten Leitfaden gestützt, der in angepasster Form bei jedem Interview zum Einsatz kam. Die Fragen an die Interviewten richteten sich auf ihr Engagement für die historische Bausubstanz. Dabei interessierte mich auch, wie die Akteurinnen und Akteure ihr Engagement retrospektiv einschätzten oder welche Bedeutung sie der Zäsur 1989/90 zuwiesen. Teilweise übergaben mir die Gesprächspartner*innen darüber hinaus schriftliche Materialien aus privaten Sammlungen, die hinterher zurückgebracht oder – nach Absprache – an relevante Archive übergeben wurden.

Mehr als nur anschauliche Anekdoten

Das Führen der Interviews bildete den kurzweiligsten Teil des Vorgehens. Die Transkription und Auswertung der meist um die anderthalb Stunden dauernden Interviews gestaltete sich als zeitaufwändige, aber zugleich notwendige Arbeit. Nur so ist es mir möglich, die Interviews untereinander, aber auch mit schriftlichen Quellen und der Forschungsliteratur in Beziehung zu setzen und einzuordnen.

Die Interviews geben unter anderem persönliche Eindrücke wieder, auf welche Weise die Gesprächspartnerinnen und -partner das Leben mit und in der historischen Bausubstanz wahrnahmen. So erinnerte sich etwa Herr W. aus der sächsischen Stadt Pirna:

„Also, es war unübersehbar schon in den 1970er-Jahren, hin zu den 1980ern dann ganz stark, dass in dem letzten Jahrzehnt der DDR-Zeit die Häuser wirklich augenscheinlich verfielen. Ich selbst wohnte damals auch in der Altstadt und habe mit Handwerkern, Freunden und Bekannten improvisiert. Wir haben also selbst Dachrinnen repariert. Wir haben auch Löcher mit Dachpappe zugemacht. [...] Wir waren also gezwungen, wenn wir bleiben wollten in der Altstadt, vieles noch zu retten durch Reparaturen und Improvisieren. Allerdings ist ein Haus nach dem anderen dann stillgelegt, zugemauert, zugenagelt worden und es war in der Mitte der 1980er dann ein schauerliches Bild an einem trüben Novembertag durch die Stadt zu gehen.“

Das Zitat führt den Zustand der Altstädte plastisch vor Augen. Jedoch darf die Auswertung der Interviews nicht bei der Verwendung von Schilderungen verharren, die eindrücklich untermalen, was in der wissenschaftlichen Forschung bereits mit nüchternen Zahlen belegt wurde. Es geht auch darum, die Interviews als Quelle ernst zu nehmen und neue Erkenntnisse aus ihnen abzuleiten.

Ein konkretes Beispiel kann den Mehrwert der Interviews besonders gut aufzeigen. So beschäftige ich mich etwa mit der Frage, seit wann überregionale Kontakte zwischen den Altstadtinitiativen existierten. Alleine aus den schriftlichen Quellen lässt sich diese jedoch kaum beantworten. Denn hierin sind überregionale Treffen ausführlich erst ab 1990 dokumentiert. In den geführten Interviews – und auch in den nicht aufgezeichneten und nicht transkribierten Hintergrundgesprächen – wurde immer wieder eine Veranstaltung in der Akademie der Künste der DDR erwähnt, die am 11. Dezember 1989 zur Rettung der Altstädte aufrief. Zu dieser Veranstaltung lassen sich sowohl in der zeitgenössischen Presse, als auch in der Literatur nur sehr knappe Hinweise finden. Details über die Inhalte oder Beteiligte, die Rückschlusse auf die Größe und Bedeutsamkeit zugelassen hätten, fehlen vollständig. Ohne die Hinweise meiner Gesprächspartnerinnen und -partner hätte ich die Bedeutung dieser Veranstaltung vermutlich unterschätzt. Bei einer Zeitzeugin tauchte zudem ein Ordner mit den gesammelten Materialien der Veranstaltung auf. Diese Materialsammlung ermöglichte es gemeinsam mit den geführten Interviews, die Vortragenden und ihre Beiträge zu rekonstruieren und die Veranstaltung als wichtigen Meilenstein in der überregionalen Vernetzung der Altstadtinitiativen zu identifizieren. Eine Einordnung, die ausschließlich auf Basis der vorliegenden schriftlichen Quellen und vorhandenen Literatur nicht möglich gewesen wäre.

Widersprüche ernst nehmen

Aber nicht immer sind Erzählungen ohne weiteres in die Erkenntnisse aus den schriftlichen Überlieferungen zu integrieren. So gestaltete sich beispielsweise die Suche nach Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mir etwas über die Arbeit am Runden Tisch der Bürgerinitiativen im Bauministerium oder die von IBIS organisierten überregionalen Treffen der Altstadtinitiativen Anfang der 1990er Jahre erzählen konnten, als schwierig. Dabei sind sowohl der Runde Tisch im Bauministerium als auch die IBIS-Treffen in den schriftlichen Überlieferungen gut dokumentiert. Anhand von Anwesenheitslisten konnte ich sogar nachhalten, wer daran teilgenommen hatte. Doch viele der Angesprochenen konnten sich nicht daran erinnern, dort gewesen zu sein oder sie erinnerten sich nur sehr vage daran und maßen den Veranstaltungen für ihr Engagement rückblickend eine untergeordnete Bedeutung zu. Das stand in einem Widerspruch zu der von mir angenommenen Bedeutung dieser überregionalen Treffen, waren sie doch im IBIS-Bestand gut und ausführlich dokumentiert und belegten die Vielfalt der diskutierten Themen sowie die anfänglich große Beteiligung zahlreicher Altstadtinitiativen. Doch auch das Nicht-Erinnern muss ernstgenommen werden. So lässt sich dieses zum einen vor dem Hintergrund der vielen parallel stattfindenden Veränderungen und Entwicklungen 1989/90 interpretieren. Gleichzeitig ist das Nicht-Erinnern auch vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung der Altstadtinitiativen zu sehen. Bereits Anfang der 1990er-Jahre stellten viele Altstadtinitiativen ihre Arbeit wieder ein oder fokussierten ihr Engagement stärker auf die eigene Stadt. Auch die Teilnehmerzahlen bei den überregionalen IBIS-Treffen waren rückläufig. So erstaunt es nicht, dass der überregionalen Vernetzung rückblickend keine große Rolle zugesprochen wird, konnte sie sich doch nicht bis in die Gegenwart durchsetzen. Gleichzeitig ist aus diesen persönlichen Einschätzungen nicht zu schlussfolgern, dass der überregionale Aufbruch nicht erfolgreich oder nicht wichtig gewesen ist.

Die hier angeführten Beispiele zeigen exemplarisch, wie ich die selbstgeführten Interviews in meiner Dissertation nutze. Ich betrachte sie dabei als Quellen, die neben den schriftlichen Überlieferungen stehen, und genauso wie diese einer aufmerksamen Quellenkritik unterzogen werden müssen. Mit diesem Vorgehen geben die Interviews mir etwa Auskunft über die Motivation und das Selbstverständnis der Aktiven, wozu kaum Hinweise in den schriftlichen Quellen überliefert sind. Die Interviews öffnen aber auch meinen Blick für Details, sie weisen mich immer wieder auf nicht verschriftlichte Zusammenhänge hin und geben mir neue Anregungen für meine Recherchen in den Archiven.

Die Oral History sei so schön, weil sie mit so vielen Problemen einhergehe, so hat es der österreichische Historiker Albert Lichtblau auf einer Veranstaltung einmal formuliert. Das ist sicherlich wieder einer dieser halb scherzhaft gemeinten Sätze, doch ich würde ihm zustimmen: Die methodischen Herausforderungen sind komplex, der Zeitaufwand ist immens, aber der Mehrwert für die Forschung ist nicht zu unterschätzen und auch die sich daraus ergebenden Begegnungen sind die Arbeit definitiv wert.

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