28. November | 2022

Auf dem Weg zum Teilhabe-Archiv: Digitalisierung und Citizen Science in den Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS

Citizen Science hält Einzug in immer mehr Forschungsbereiche, auch in die Archivarbeit. Die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS haben in den letzten Jahren nicht nur einen großen Sprung bei der Bereitstellung technischer Infrastrukturen für die Digitalisierung ihrer Bestände gemacht. Sie gehen auch bei der Beteiligung der Öffentlichkeit an der Erschließung von Beständen voran und entwickeln dabei Lösungen für viele andere Spezialarchive.

Bürger*innen bestimmen Insekten, analysieren Babylaute und dokumentieren die Umlaufbahn von Sternen. Und treiben mit ihrem Engagement die Wissenschaften ein ganzes Stück voran. Die Bürgerwissenschaften (Citizen Sciences) haben in den letzten Jahren ein vielfältiges Repertoire an Projekten hervorgebracht. Insbesondere die Naturwissenschaften sind zu Vorreitern einer vielversprechenden gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Auf dem von der Universität Oxford gehosteten Portal „Zooniverse“ für Citizen Science-Projekte können Forschende der ganzen Welt ihre Daten hochladen und zur Bearbeitung freigeben.

Doch auch in die historische Forschung haben die Bürgerwissenschaften Einzug gehalten. Vor allem kleine Museen mit starkem Regionalbezug bitten ihre Nutzer*innen ins Archiv, um sich bei der Erschließung unterstützen zu lassen. Und so kann man dort manchmal Bürgerinnen und Bürger beobachten, wie sie Sütterlin-Texte entziffern, Insektenkästen reinigen und fast verblichene Glasdias gegen das Licht halten, um ihre Inhalte zu beschreiben. Damit helfen sie, eines der häufigsten Problem kleiner Archive zu lösen: Diese haben oft großartige Bestände und bisweilen sogar eine ganz gute Ausstattung an Scannern und Rechnern. Aber es fehlt ihnen das Personal, um die Bestände zu erschließen, also die Inhalte ihrer Kisten und Boxen, Schränke und Schubladen zu beschreiben und mit computerlesbaren Metadaten zu versehen. Und so schlummern wertvolle Schätze in den Archiven, und es wird zumeist noch Jahre dauern, bis die Öffentlichkeit überhaupt erfährt, dass sie existieren.

Die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS mit ihrem einzigartigen Bestand zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR sind ein Prototyp dieser kleinen Archive: Ihre Sammlung der Bestände des ehemaligen Institut für Städtebau und Architektur (ISA) der Bauakademie der DDR, des Bundes der Architekten der DDR und einer großen Zahl von Nachlässen der führenden Köpfe der DDR-Architektur und -Planung sucht ihresgleichen. Mit Hilfe eines sogenannten Sondertatbestandes der Leibniz-Gemeinschaft wurde seit 2020 die Möglichkeit geschaffen, die Bestände zu digitalisieren und online zu präsentieren. Für diesen Zweck wurde Hard- und Software für die Verwaltung der Bestände und zur Beschreibung ihrer Inhalte angeschafft und damit die Grundlage für eine moderne digitale Infrastruktur geschaffen. Allerdings fließen die Personalmittel für die eigentliche Erschließungsarbeit immer nur sporadisch, oft im Rahmen von Drittmittelprojekten. Personal wird häufig nur zeitlich befristet eingestellt. Am Ende der Projekte geht mit ausscheidenden Mitarbeiter*innen ein großer Teil des angehäuften Wissens verloren.

Angesichts einer Ausschreibung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), die um Kooperationen aus Wissenschaft und Wirtschaft zugunsten des Gemeinwohls warb, entstand die Idee, gemeinsam mit dem Unternehmen Programmfabrik, Hersteller des angeschafften Digital-Asset-Management-Systems Easydb, ein Drittmittelprojekt auf die Beine zu stellen. Das Ziel: Das Know-how von IT-Expertinnen, Archivaren und Wissenschaftlerinnen zusammenzubringen, um Bürgerwissen für die Erschließung der Bestände nutzbar zu machen. So entstand das Projekt „Entwicklung eines Citizen-Science- und Semantic-Web-basierten Verfahrens zur Digitalisierung und Erschließung der Bestände kleiner Archive“, kurz „CitizenArchives“, das von Rita Gudermann geleitet und von Paul Perschke bearbeitet wird.

Die Bedingungen waren vielversprechend, können die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS doch auf einen regen Kreis von Interessierten zurückgreifen. Seit Jahren veranstaltet der Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte und Archiv am IRS sogenannte Werkstattgespräche und bringt bei Vorträgen und Kaffee Zeitzeugen und Wissenschaftlerinnen zusammen. Die Bindung zwischen Nachlassgebenden und Forschenden ist eng, die Gespräche sind intensiv und manchmal auch konfliktgeladen. Dabei wird oft deutlich: Die Zeitzeug*innen kennen die Überlieferungen einzelner Institutionen oft besser als die im Archiv Arbeitenden, zumal bei einem im Aufbau befindlichen Bestand. Was die Bewertung der Archivalien und ihre Einordnung in den großen Zusammenhang angeht, können die Meinungen aber durchaus auseinandergehen.

Warum also diese sehr interessierten Menschen nicht einbinden in die Beschreibung der Sammlungen? Vielleicht wären sie ja sogar bereit, die Bestände durch das Hochladen eigener Fotos und andere Materialien zu ergänzen? Damit diese Idee funktioniert, mussten allerdings die vorhandenen Nutzeroberflächen angepasst werden, denn von tiefgeschachtelten Kategorien und komplexen Feldern für Metadaten, wie sie die professionelle Erschließungssoftware bietet und wie sie das Herz der Archivmitarbeiter*innen erfreuen, lassen sich Bürgerinnen und Bürger nicht so recht begeistern. Also wurde überlegt, letzteren einen speziell abgesicherten Zugang zur Software zu ermöglichen, in dem bereits digitalisierte Bestände erfasst sind. In eigenen Metadatenfeldern sollten die Einträge der Teilnehmenden gesammelt werden. Die zu beschreibenden Bilder erscheinen nun auf einer leichter zu bedienenden Oberfläche, die Felder für die Eingabe von Daten sind stark reduziert. Auch der Upload neuer Bilder wird möglich sein.

Ob diese Idee funktioniert, wurde zu­nächst einmal in Familie und Freundeskreis und dann auf der Berliner Langen Nacht der Wissenschaften 2022 mit Hilfe einer einfachen Bedienoberfläche der vorhandenen Datenbankinfrastruktur getestet. Obwohl pandemiebedingt nicht ganz so gut besucht wie in früheren Jahren, bildeten sich bei dieser Veranstaltung Schlangen am aufgestellten PC. Besonders bei Besucher*innen, die in der DDR aufgewachsen sind, war die Freude an der Wiederentdeckung der Straßenzüge und Gebäude ihrer Kindheit und Jugend groß. Auch erste Erkenntnisse über die Nutzenden und ihre Präferenzen wurden auf der Langen Nacht der Wissenschaften gewonnen: So zeigte sich, dass ältere Menschen das Angebot gern in Begleitung ihrer Kinder nutzten. Der Einstieg nach Bezirken bot den meisten Menschen den besten Zugang zum Material. Und die Dateneingabe, so wurde schnell deutlich, funktionierte am besten mit Hilfe freier Felder, in die Informationen aller Art eingetragen werden konnten. Diese Erkenntnisse werden nun mit Hilfe weiterer Testoberflächen und Testnutzer*innen verfeinert.

Allerdings: So ganz ohne Kontrolle darf ein solcher Ansatz nicht bleiben. Denn wer gewährleistet, dass den Bürgerwissenschaftler*innen nicht Fehler bei der Beschreibung des Materials unterlaufen, dass ihre Erinnerung sie nicht trügt, dass sie nicht vielleicht sogar absichtlich beschönigen oder gar Falschdarstellungen liefern? Die Lösung für dieses ernstzunehmende Problem wurde im Projektantrag mitbedacht. So wird es gestaffelte Bearbeitungsrechte für verschiedene Nutzende geben. Auch werden die eingegebenen Daten von einer Online-Redaktion einzeln überprüft. Und schließlich werden Semantic Web-Technologien zum Einsatz kommen, die mit Hilfe von Sprachanalysen Rückschlüsse über die Korrektheit von Einträgen anstellen und verdächtige Beiträge für die weitere Überprüfung markieren können. Damit hält auch die Technik der künstlichen Intelligenz Einzug in die Bürgerwissenschaften. Bevor diese Technologie zum Tragen kommen kann, muss es allerdings zunächst einmal eine genügend große Anzahl von echten Nutzereinträgen geben.

In Form von Open-Source-Plugins sollen diese neuen Funktionen künftig in die Easydb-Software eingebaut werden können und damit auch anderen Kultureinrichtungen zur Verfügung stehen. Außerdem bereitet das Unternehmen Programmfabrik eine Open-Source-Lösung vor, in die auch Archive, die die Software Easydb nicht nutzen, ihre Bilder zum Beschreiben durch Bürger*innen hochladen können. Es wird also eine Infrastruktur entwickelt, die sich langfristig nicht nur für das Projekt „CitizenArchives“ einsetzen lässt, sondern auch für die klassische Erschließung von Archivbeständen durch Mitarbeitende. Langfristig soll es auch eine Integration der „CitizenArchives-Oberfläche in das gerade in Entstehung begriffene Portal des IRS-Forschungsschwerpunkts mit den Wissenschaftlichen Sammlungen geben, das erstmals den Online-Zugriff auf die umfangreichen Bestände ermöglicht.

Der dadurch erwartete Mehrwert ist groß: Die Zeitersparnis bei der Erschließung der Archivalien ist dabei  nur ein Faktor. Nicht zu unterschätzen ist auch der Wissenstransfer, den die Bürger*innen durch ihre Arbeit leisten. Ganz neue Wissensbestände, Vokabulare und Sichtweisen werden für die Beschreibung der Bestände erschlossen. Ein wichtiger Faktor ist auch das Community-Building, denn die gemeinsame Arbeit an der Bereitstellung der Archivalien verbindet. Damit das Ganze auf soliden Füßen steht, ist für die wissenschaftliche Begleitung des Projekts gesorgt. Erste Ergebnisse lassen hoffen, dass bald größere Bestände der Wissenschaftlichen Sammlungen für die Öffentlichkeit zugänglich sind. So zielt das Projekt nicht nur auf ein Arbeiten mit, sondern letztlich vor allem für die Bürgerinnen und Bürger.

Kontakt

Projektmanagerin

Rita Gudermann ist seit Januar 2020 Leiterin des institutsfinanzierten Projekts zur Verbesserung der digitalen Infrastruktur der Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS. Sie verfügt über langjährige Berufserfahrung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den wirtschaftshistorischen Instituten der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universtität zu Berlin sowie als IT-Consultant für DAM- und ERP-Systeme sowie beim Aufbau einer historischen Bilddatenbank.

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Wissenschaftler

Paul Perschke ist seit Dezember 2023 Dokumentar in den Wissenschaftlichen Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR und zugleich Mitarbeiter im Drittmittelprojekt ,,Crafting Entanglements: Afro-Asian Pasts of the Global Cold War (CRAFTE)“. In dem Projekt, das die afro-asiatischen Verflechtungen während des Kalten Krieges mit seinen Akteuren, Praktiken und ihre alltäglichen Interaktionsorten untersucht, ist er verantwortlich für den Aufbau einer Projketdatenbank. Paul Perschke studierte Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Trier (BA) sowie Historische Urbanistik/Historical Urban Studies am Center for Metropolitan Studies an der Technischen Universität Berlin (MA).

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