30. April 2025 | Feature

"Der Bereich Sicherheitsforschung wurde mir am IRS in die Wiege gelegt."

IRS-Alumna Tjorven Harmsen im Interview

Tjorven Harmsen arbeitet für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR). Ihre Forschung ist angesiedelt im Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen (DLR-MI). Sie ist Leiterin des Teams ELSA – Ethical, Legal and Social Aspects of Safety and Security Research. Am IRS war Frau Harmsen von Dezember 2017 bis März 2022 als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt, dabei vor allem im BMBF-geförderten Projekt RESKIU.

Frau Harmsen, lassen Sie uns mit der Gegenwart beginnen. Wo sind Sie tätig?

Gern. Mein Job ist am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt angesiedelt. Hier leite ich ein Forschungsteam mit zurzeit neun Mitarbeitenden am Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen. Unser Team in Bremerhaven nennt sich ELSA, das steht für Ethical, Legal and Social Aspects of Safety and Security Research.

Sie haben vorher an der Uni Freiburg am Centre for Security and Society und in Verbindung mit dem Institut für Soziologie geforscht. Wie kamen Sie denn vom Süden der Republik freiwillig an die Weser-Mündung?

Die Verbindung besteht in der Security-Forschung, zum Beispiel in Richtung hybrider Bedrohungen. Das Gebiet der Sicherheitsforschung und den Bezug zum maritimen Raum entdeckte ich aber nicht erst in Freiburg.

Sondern?

Am IRS. Ab 2017 war ich in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt unter der Leitung von Oliver Ibert beschäftigt gewesen. Hier hatte sich für mich im Projekt RESKIU das Feld der Krisen- und Sicherheitsforschung aufgetan.

Worum ging es?

Wir beschäftigten uns am IRS mit Fragen des resilienten Krisen-Umgangs im sozialen Raum. Übrigens deutlich vor Corona. Der Bereich Sicherheitsforschung wurde mir am IRS in die Wiege gelegt. Ebenso wie der Bezug zum maritimen Raum, weil wir in RESKIU eine Fallstudie zu großen Schiffsunfällen erhoben hatten. Nach meiner IRS-Zeit war ich dann in Freiburg bis Ende 2024 wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Verbundprojekt LegiNot dabei. Hier ging es um das Thema Legitimationswandel im Notfall.

Was genau wurde Ihnen in die Wiege gelegt am IRS?

Eine ganze Menge. Mit Verena Brinks und Oliver Ibert lernte ich im RESKIU-Projekt von der Pike auf, wie man ein Drittmittelprojekt erfolgreich durchführen kann. Wegweisende Faktoren waren für mich Transdisziplinarität und unser Transfer-Anspruch, der darin bestand, sowohl die Erhebungs- als auch die Ergebnis-Vermittlung in die Praxis von Anfang an mitzudenken.

Geht es etwas genauer?

Beim Thema Transfer spielt zum Beispiel der Faktor Sprache eine entscheidende Rolle. Bei Oliver Ibert lernte ich, meine soziologische Diktion zu reflektieren und eine niedrigschwellige Sprache für große gesellschaftliche Zusammenhänge zu finden. Das finde ich bis heute gerade zu Fragen im Umgang mit Krisen total wichtig. Das prägte mich als Forscherin. Vor allem profitierte ich aber von der offenen, konstruktiven Teamarbeit. Hier schaute ich mir in meiner IRS-Zeit auch vieles von Suntje Schmidt ab. Eine erfahrene Teamführung ist bei der Bearbeitung anspruchsvoller Drittmittelprojekte das A und O.

Inwiefern?

Es geht darum, Vorgaben des Drittmittelgebers in einer pragmatischen Weise anzugehen und dabei wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Dazu braucht es gute Teamabsprachen und leitende Entscheidungen sowie auch Zutrauen in Forschungsschritte, die ja oft durch Wissenschaftler*innen mit weniger Erfahrung übernommen werden. Am IRS habe ich die Teamführung als sehr konstruktiv erfahren.  Im RESKIU-Team damals gab es eine tolle Mischung aus Offenheit in der Forschung und strukturiertem Rahmen. Das versuche ich auf mein jetziges Team in Bremerhaven zu übertragen.     

Was war am IRS kennzeichnend?

Der für das IRS natürlich selbstverständliche soziale Raumbezug und eine große explorative Offenheit. Das machte das Team in meiner Wahrnehmung besonders. Wir waren nicht nur in festen Theorierahmen unterwegs. Unsere Forschungen waren eher prozessorientiert. Wir gingen immer schrittweise vor und waren dadurch offener für Neujustierungen. Es gab da mal so eine Selbstbeschreibung vom IRS als Seismograph und Impulsgeber. Das würde ich voll unterschreiben, weil das IRS durch das explorative Vorgehen in der Forschung sehr sensibel und weitblickend ist für gesellschaftliche Veränderungen.

Wie meinen Sie das in Bezug auf die RESKIU-Forschung?

Mit unserem Fokus auf Krisen hatten wir mit dem Aufkommen der Pandemie Anfang 2020 dadurch schon einen passablen Vorsprung. Vor allem wussten wir, dass Krisen per se nicht nur schlecht sind, sondern in ihrem Prozessverlauf immer auch neue Gelegenheitsfenster im sozialen Raum öffnen. Ein bekanntes Beispiel in und nach der Pandemie-Phase ist der nachhaltige Schub in der Online-Kommunikation, in unserem kommunikativen Alltag ist das heute nicht mehr wegzudenken.  

Lassen Sie uns noch das Thema Offenheit beleuchten. Wie muss man sich das im Forschungsprozess vorstellen?

Die wichtige Messlatte für Offenheit im Forschungsbetrieb ist der Transfer. Und zwar in beide Richtungen gedacht. Ich versuche das mal zu erläutern. Es geht mir darum, wissenschaftliche Forschung nicht als Bubble, sondern immer mit einem Fokus auf die Praxis zu gestalten, damit die Wissensvermittlung beispielsweise in Richtung Industrie und Behörden verständlich gelingen kann. Wissenschaftliches Wissen muss man sehr behutsam und reflektiert übersetzen …

dagegen ist nichts einzuwenden. Niemand würde Ihnen da widersprechen ...

… vor allem werden für Wissenstransfer soziale Kompetenzen immer wichtiger. Damit Sie zum Beispiel Interviews gut strukturieren können, müssen Sie eine passfähige Sprache finden, die, wie gesagt, niedrigschwellig sein muss. Wobei wir hier einen gewissen Widerspruch sehen können, den man meiner Meinung nach gut auflösen kann.

Was meinen Sie mit Widerspruch?

Der so genannte niedrigschwellige Zugang erfordert eine hoch reflektierte Einstimmung und Vorbereitung. Jedenfalls wenn Sie gute, belastbare Ergebnisse aus Interviews erzielen möchten. Das wiederum ist höchst anspruchsvoll, wenn man das gut machen möchte. Es geht letztendlich um Vertrauen und um Augenhöhe mit Menschen aus der Praxis. Dann bekommen Sie das Eis schneller gebrochen. Sie kommen dann über Interviews auch besser an neue relevante Interviewpartner heran, das berühmte Schneeballsystem. Dafür braucht es die Offenheit und kommunikative Kompetenz von Forschenden. Zudem müssen Sie sich gründlich individuell auf Interviewpartner vorbereiten und innerlich einstellen. Methodische Skills wie die Erstellung guter Leitfäden bleiben dabei nach wie vor wichtig, keine Frage. Man muss bei aller Vorstrukturierung aber ständig auf der Hut sein, die Offenheit und mögliche neue Gelegenheiten und Zugänge nicht aus den Augen zu verlieren. Das heißt eben auch, man muss Vorurteile vermeiden und die eigene Aufmerksamkeit für die Eigenlogiken von Probanden schärfen, wie sie in Interviews mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck gelangen. Deshalb finde ich offene Fragen so gut. Die berühmten W-Fragen, wie, was, wo, wer … Das kann voreilige, enge Zuschreibungen verhindern und baut gegenseitiges Vertrauen auf. Gerade im Zusammenhang mit Sicherheitsforschung ist das wichtig, weil wir es dort mit besonders heiklen Prozessen zu tun haben. Hier gilt es, die Kommunikation unvoreingenommen zu gestalten. Nur so können wir als Forscher*innen wirklich etwas von der Blaulichtfamilie – also von Polizei, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk oder Ähnlichen – erfahren.

Danke, Frau Harmsen. Können Sie noch einen persönlichen Tipp für die nächste Forscher-Generation geben?

Aber ja doch. Dass erfolgreiche Forschung eine Blackbox für Genies ist, halte ich für eine veraltete Haltung. Es geht darum, ein konkretes Handwerk zu erlernen, um damit eigene Pfade und Abenteuer entdecken zu können. Das durfte ich am IRS erfahren und kann das nur mutmachend weitergeben.

Das Interview führte Gerhard Mahnken.

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