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Stillstand und Beschleunigung
Neue Ausgabe von IRS aktuell zu Disruption
Das Thema Disruption verbindet verschiedene Forschungsaktivitäten des IRS zu sozial-räumlichem Wandel. Doch was ist mit dem Begriff genau gemeint? Wie wirken disruptive Ereignisse langfristig, und wie kann die Gesellschaft sinnvoll darauf reagieren?
Am 22. Juni 2020 sollte in der Geschäftsstelle der Leibniz-Gemeinschaft in Berlin-Mitte ein Symposium mit dem Titel „Disruption: Sozial-Räumliche Transformation zwischen Veränderung und Bewahrung“ stattfinden. Es sollte meine feierliche Einführung als Direktor des IRS werden. Räume waren gebucht, Referenten hatten zugesagt, Einladungen waren versendet, Catering bestellt. Im März musste die Veranstaltung dann „pandemiebedingt“ – so lautete die Vokabel, die uns von nun an für fast zwei Jahre verfolgen sollte, – ersatzlos abgesagt werden. Die Ironie blieb uns nicht verborgen. Die COVID-19-Pandemie unterbrach auch einen umfassenden Strategieprozess, den das IRS gerade erst begonnen hatte, und dem wir uns nun intensiv widmen wollten. Stattdessen: Krisenstab, Institutsschließung, Homeoffice, Hygienekonzept und die Erkenntnis, wer die wirklich systemrelevanten Arbeitskräfte in einem Forschungsinstitut sind.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das IRS bereits seit mehreren Jahren über die Dynamiken von Krisen geforscht. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Krisen sich häufen und immer mehr unseres gesellschaftlichen Handelns unter dem Eindruck von sich teils überlagernden Krisen stattfindet – Epidemien, Wirtschafts- und Finanzkrisen, geopolitische Konflikte und Fluchtereignisse, bis hin zur Diagnose einer permanenten „Polykrise“. Unter dem Eindruck der Pandemie wuchs das Interesse an Krisenforschung noch einmal steil an, und wir intensivierten, nunmehr hauptsächlich online, unsere Forschungsanstrengungen zum Thema. In unserer IRS aktuell-Ausgabe „Neues aus der Krise“ vom Dezember 2020 haben wir einen Zwischenstand unserer Ergebnisse veröffentlicht. Im September 2021 legten wir ein Policy Paper mit Empfehlungen für erfolgreiche wissenschaftliche Politikberatung in Krisen vor, basierend auf einem BMBF-Projekt zur Rolle von Expert*innen in Krisen.
Warum Disruption?
Vom Brexit-Referendum bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine: Die 2010er- und frühen 2020er-Jahre sind nicht zu Unrecht als historische Phase der Umbrüche und Verunsicherung bezeichnet worden. Mit dem IRS-Forschungsprogramm für den Zeitraum ab 2022 haben wir unserer Forschung nun einen übergeordneten Leitbegriff gegeben, der diese Zeitdiagnose aufgreift. Er lautet Disruption. Aber Moment mal: Warum eigentlich „Disruption“ und nicht „Krise“?
Der Begriff der Krise erwies sich für unsere Forschung in mehrerlei Hinsicht als zu eng. Letztlich wohnt dem Begriff der Krise immer eine bestimmte Dramaturgie inne: Ein auslösendes Ereignis (eine Pandemie, eine Bankenpleite) bringt ein gesellschaftliches System oder mehrere (etwa das Gesundheits- und das Finanzsystem) in eine bedrohliche Schieflage. Unter Zeitdruck und Unsicherheit setzt hektisches Handeln ein. Die Krise spitzt sich zu bis zu einem Höhepunkt, ab dem dann nach und nach die (System-)Normalität zurückkehrt. Die Zeitlichkeit und – für unsere Forschung mindestens ebenso relevant – auch die Räumlichkeit dieser Abfolge steht im Zentrum zahlreicher Krisenstudien. Ein großer Teil der Krisenforschung findet außerdem im Kontext von Krisenmanagement statt, und dort liegt auch ihre hauptsächliche Anwendung. Und während das Lernen aus Krisen immer wieder als Möglichkeit angesprochen wird, steht beim Thema Krise doch ganz klar der Umgang mit Bedrohung im Fokus.
In der Forschung des IRS stehen räumlicher und gesellschaftlicher Wandel im Fokus. Die Zunahme von disruptiven, potenziell krisenauslösenden Ereignissen sehen wir in einem Spannungsverhältnis zu einer anderen Zeitdiagnose: der des lähmenden Stillstands. Ob Erderwärmung oder die dramatische Zunahme der erzwungenen Migration weltweit: Wir stehen vor globalen, durchaus existenziellen Herausforderungen, aber unter Entscheidungsverantwortlichen in Politik und Wirtschaft herrscht ein bemerkenswertes Ausmaß an Handlungsverweigerung und Verdrängung. Doch die vorgetäuschte Ruhe wird von disruptiven Momenten unterbrochen. In ihnen brechen sich Entwicklungen Bahn, die einen längeren Vorlauf hatten und sich nun stark beschleunigen. Die Frage ist: Was machen solche Ereignisse mit längerfristigen sozio-ökonomischen oder sozial-ökologischen Entwicklungstrends? Wie gehen soziale Akteure mit ihnen um?
Versuch einer Definition
Im Brückenprojekt „Disruption und räumliche Entwicklung: Konzepte zu raum-zeitlichen Dynamiken, Wahrnehmungsweisen und Handlungsstrategien“ arbeiten Vertreter*innen unserer drei Forschungsschwerpunkte und ihrer Leitprojekte zusammen, um eine gemeinsame Perspektive auf gesellschaftliche Disruptionen zu entwickeln. Hier haben wir uns intensiv mit dem Forschungsstand zum Thema beschäftigt und festgestellt, dass es sich, relativ gesehen, um Neuland handelt. Noch gibt es keine allgemeingültige Definition von Disruption in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Wir konnten aber einige zentrale Charakteristika herausarbeiten: Der Begriff der Disruption bezeichnet eine Episode intensiven Wandels. Auf einer vergleichsweise kurzen Zeitskala sind relativ deutliche Veränderungen beobachtbar, oft verbunden mit einem klaren Anfang und Ende. Sie lösen große Unsicherheit aus. Die Ereignisse lassen sich nicht in vorherrschende Weltbilder einfügen. Sie führen zu einem Kollaps von Sinngebung und entziehen gewohnten Praktiken und Routinen die Grundlage. Dies geschieht überraschend. Der Wandel und damit verbundene Ereignisse treffen Akteure unvorbereitet. Unsicherheit und Wandel erfassen multiple Sektoren, sind skalenübergreifend und übertreten territoriale Grenzen (Transgression). Disruptionen wirken außerdem stark emotionalisierend. Die kognitiven Herausforderungen sind überlagert von starken, oft negativ gefärbten Emotionen wie Angst, Wut oder Hilflosigkeit. Die Öffentlichkeit partizipiert also an den Ereignissen. Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie sind Teil der Dynamik von Disruptionen.
Nehmen wir die COVID-19-Pandemie als sehr naheliegendes Beispiel. Obwohl eine solche Pandemie von Forschenden lange vorhergesagt worden war, überraschte sie mit ihrer plötzlichen Ausbreitung die Öffentlichkeit. Lange geglaubte Sicherheiten, dass so etwas „bei uns“ nicht passieren könne, verschwanden über Nacht. Maßnahmen, die noch kurze Zeit vorher unvorstellbar waren, wurden auf einmal umgesetzt. Die Pandemie versetzte sicherlich viele Institutionen in den Krisenmodus. Zugleich löste sie selbst wie auch die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung bei vielen eine Erfahrung der Hilflosigkeit und bei einigen auch extreme Wut bis hin zu politischer Radikalisierung aus.
In unserer Forschung interessieren wir uns für die Umbrüche in Wahrnehmung, Bewertung und Handeln, die Disruptionen auszeichnen. Wir fragen nach den Interpretationen, Reaktionen und Strategien, die Akteure rund um Disruptionen zeigen. Und wir möchten das Potenzial für längerfristigen sozial-räumlichen Wandel – unabhängig von dessen Richtung – eruieren. Disruptionen sind nicht immer Ereignisse, die die Handelnden von außen treffen. Disruptionen können auch strategisch vorbereitet und aktiv vorangetrieben werden. In diesem Heft berichtet beispielsweise Manfred Kühn aus dem Leitprojekt „Konflikte in der Planung“ und zeigt, wie Tesla und die Brandenburger Wirtschaftspolitik im Geheimen die Gigafactory-Ansiedlung in Grünheide vorbereitet und dann in Rekordzeit umgesetzt haben – mit disruptiven Wirkungen auf das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Institutionen im Land. Wie der Hype um disruptive Innovationen im Silicon Valley (und anderswo) zeigt, sind Disruptionen auch keinesfalls nur negativ konnotiert. Ganze Branchen durcheinander zu wirbeln, gilt unter Tech-Entrepreneuren als erstrebenswertes Ziel. Populistische Politiker*innen werden von manchen als Disrupteure eines wahrgenommenen politischen Mainstreams gefeiert; die Disruption wird herbeigesehnt.
Doch möglicherweise ist das Sehnen nach einem Aufbrechen bestehender Ordnungen nicht der exklusive Beritt des Populismus. Vielleicht öffnen disruptive Situationen – und womöglich sogar nur sie – tatsächlich Gelegenheitsfenster, nicht nur für kurzfristige Maßnahmen, sondern für langfristigen Wandel im Sinn der sozial-ökologischen Transformationen, die so dringend nötig sind. Denken wir etwa an den Schub, den der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dem Ausbau erneuerbarer Energien (allerdings auch dem Bau von LNG-Terminals) gegeben hat.
Selbstverständlich blickt das IRS auch auf den Forschungsgegenstand Disruption aus einer räumlichen Perspektive. Räumlich bedeutet dabei: Wir blicken auf konkrete Orte, an denen soziale Praktiken ausgeführt werden, und die möglicherweise durch Disruptionen einen radikalen Wandel ihrer Funktionsweise und ihrer Bedeutung erfahren. Ein Beispiel dafür ist der Wandel von Arbeitsorten – nicht nur – in Folge der COVID-19-Pandemie, den wir im Rahmen des Leitprojekts „Post-Office“ untersuchen. Zugleich blicken wir auf die Bedeutung von territorialen Grenzen, denn diese entscheiden oft darüber, wo welche institutionellen Ressourcen zur Verfügung stehen und welche Regeln gelten. Kerstin Brückweh, die Leiterin unseres Forschungsschwerpunktes „Zeitgeschichte und Archiv“ hat dieses Jahr den Band „Die Wiederbelebung eines ‚Nicht-Ereignisses‘?“ herausgegeben. Darin geht es um die Frage, warum im Zuge der deutschen Vereinigung 1990 keine neue gesamtdeutsche Verfassung verabschiedet wurde. Zum 75-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes wirft diese Debatte ein Schlaglicht darauf, wie radikal unterschiedlich die „Wende“ diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze(n) erlebt wurde, selbst in einem sehr lokalen Rahmen wie in Ost- und West-Berlin. Die plötzliche Dynamik der Ereignisse überraschte Menschen auf beiden Seiten. Doch während im Westen ein konstanter institutioneller Rahmen zur Verfügung stand, verschwanden die etablierten gesellschaftlichen Bearbeitungsmechanismen im Osten vollends. Eine räumliche Perspektive bietet also auch einen guten Zugang zu den sehr unterschiedlichen Betroffenheiten von, Perspektiven auf und Umgangsmöglichkeiten mit disruptiven Ereignissen.
Beschleunigte Trends, verfestigte Muster
Aber wie wirken Disruptionen langfristig? Unsere Forschungen sind noch nicht abgeschlossen, doch es zeichnet sich ein Bild ab. Disruptive Ereignisse können in der Tat zu tiefgreifenden, langfristigen Veränderungen führen. Doch haben vor allem jene Veränderungen, eine gute Chance, sich weiter zu entfalten, die bereits eine gewisse Reife haben. Disruptionen helfen dem „vorbereiteten Geist“ (Pasteur). Sie ermöglichen Ideen eine ungeahnte Bewährungschance, die diese ohne Disruption entweder viel später, vielleicht sogar überhaupt nicht erhalten hätten. Der Beitrag von Piotr Kisiel in diesem Heft liefert ein Beispiel für eine solche Dynamik: Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatten Stadtplaner*innen in Deutschland Pläne für eine radikale Umgestaltung der Städte. Die dicht bebauten, engen und ästhetisch vielfältigen baulichen Strukturen sollten breiten Magistralen und luftigen Wohnsiedlungen in funktionalem Stil weichen. Doch erst die Zerstörungen des Krieges öffneten ein Gelegenheitsfenster für solche Eingriffe.
Auch der radikale Wandel der Arbeitswelt als direkte Auswirkung der COVID-19-Pandemie ist ein solches Beispiel. Während Beschäftigte in Supermärkten und Arztpraxen ihre Arbeit unter erschwerten Bedingungen fortsetzen mussten, führte der Zwang zur Kontaktreduktion bei Kreativschaffenden und Wissensarbeiter*innen zu einem radikalen Wandel. Obwohl persönlicher Kontakt und Ko-Präsenz in diesen Gruppen hoch geschätzt wird, wurden schnell technische Ersatzlösungen eingesetzt, die im Grundsatz bereits zur Verfügung standen. Unsere Forschungen zeigen, dass die Arbeitskräfte sich sehr schnell und hoch flexibel auf die schlagartig notwendig werdenden „kontaktlosen“ Formen der Zusammenarbeit, nun vermittelt über Online-Tools, einstellen konnten und dabei gleichsam über Nacht das klassische Büro als multifunktionales Zentrum der Wissensarbeit aufgeben und gegen das Homeoffice eintauschen konnten. Die vorher nicht gängige Arbeit mit Videokonferenzen erlebte nun ihren Durchbruch in die Fläche. Interessanterweise profitierte davon nicht der etablierte Anbieter Skype, sondern das etwas jüngere Unternehmen Zoom. Sogar das zugehörige Verb änderte sich von „skypen“ zu „zoomen“.
Zu sehen ist also eine stark beschleunigte Ablösung des klassischen multifunktionalen Büros als „dem“ Zentrum von Wissensarbeit durch multi-lokale Praktiken, in denen verschiedene Arbeitsschritte räumlich verteilt an mehreren Orten ausgeübt werden. Arbeit wird dabei nur noch punktuell in dafür vorgesehenen rein professionellen Räumen des Büros verrichtet, dafür häufiger in die Nähe sozialer („Homeoffice“) oder freizeitlicher („Workation“) Aktivitäten verlagert, ergänzt um temporäre Nutzungen gemeinschaftlicher Arbeitsorte („Coworking“). Wie das Büro sind diese neuen Arbeitsorte gut an das Internet angeschlossen, so dass nicht nur Erreichbarkeit gewährleistet ist, sondern auch komplexe Verschmelzungen von online und offline praktiziert werden können. Diese Vermengung hat darüber hinaus ein teils nostalgisches Bedürfnis nach reinen Offline-Umgebungen geweckt, so dass vom Netz abgeschnittene, peripher gelegene Orte immer häufiger ebenfalls im Mosaikmuster multi-lokalen Arbeitens zu finden sind. Es gibt bereits erste Hinweise, dass multi-lokale Arbeitspraktiken Dezentralisierungstendenzen in der Siedlungsentwicklung noch einmal forciert haben.
Menschen können angesichts disruptiver Ereignisse also in den Krisenmodus wechseln, der es ermöglicht improvisierte Lösungen und unkonventionelle Praktiken schnell umzusetzen. In gewisser Weise ist es so etwas wie ein Privileg, in Folge eines disruptiven Ereignisses eine Krise zu erleben, denn immerhin bedeutet Krise, dass institutionelle Aufmerksamkeit und organisationale Ressourcen auf das jeweilige Probleme gerichtet werden. Wenn aber Handlungsdruck auf fehlende Handlungsmöglichkeiten trifft, dann bleibt oft nur Fatalismus oder Resignation. Dies ist beispielsweise eine emotionale Gemengelage, die vielen Menschen in Ostdeutschland aus der Transformation nach der „Wende“ erleben mussten. Solche Erfahrungen können sich verstetigen. Mittlerweile wird Ostdeutsche Identität weniger auf die geteilten Erfahrungen im Sozialismus zurückgeführt, dafür treten stärker die generationenübergreifend gemeinsam erlittenen Ohnmachtserfahrungen in der post-sozialistischen Phase der Transformation in den Vordergrund. Die Trennung in Ost-West wird dabei perpetuiert, verändert aber ihren Inhalt. Das war ein wichtiges Ergebnis des 49. (Online-)IRS-Regionalgesprächs am 25. November 2020 anlässlich von 30 Jahren Wiedervereinigung zur „Anhaltenden Aktualität Ostdeutschlands“. Die disruptiven Transformationsprozesse der Wende- und Nachwendezeit nimmt der Forschungsschwerpunkt „Zeitgeschichte und Archiv“ in seinem Leitprojekt „Sozialräumliche Transformationen in Berlin-Brandenburg 1980-2000“ in den Blick. Małgorzata Popiołek-Roßkamp berichtet in diesem Heft über eine oft vergessene Facette der Transformation, nämlich den Abzug der sowjetischen Truppen 1994.
Die gegenwärtigen Entwicklungen um das Gigafactory-Projekt in Grünheide deuten darauf hin, dass zwar durch Überraschungseffekte forcierte Veränderungen erreicht werden können. Das Projekt verschiebt Maßstäbe für eine „beschleunigte“ Planung und Entwicklung. Gleichzeitig deutet sich aber auch an, dass sich der Überraschungseffekt und die Strategie der Überrumpelung nicht nur mit der Zeit abnutzen, sondern dass sie auch Widerstände verstärken und Vertrauen in zukünftiges kollektives Handeln nachhaltig stören. So zeigen die Forschungen am IRS, dass selbst routinemäßig abwägbare Planungsprobleme wie die Neubewertung von Abwasserwerten, erhöhte Wasserverbräuche oder Rodungen von monokulturellen Kiefernforsten mittlerweile auf ein Konfliktniveau angeschwollen sind – inklusive Protestcamps mit Baumhäusern sowie Brandanschlägen auf Überlandleitungen –, das für eine mögliche Erweiterung der Tesla-Produktion am Standort weder auf schnelle noch auf sinnvolle Lösungen mehr hoffen lässt.
Viele Ereignisse der jüngeren Zeit haben außerdem gezeigt, dass eine ablehnende Haltung gegenüber den während einer Disruption getroffenen Maßnahmen (von Corona-Kontaktbeschränkungen bis zu Waffenlieferungen an die Ukraine) nicht nur zu Wut führt, sondern dass diese Wut – von Disruption zu Disruption – in politische Mobilisierung übersetzt werden kann. Ein an sich normaler demokratischer Vorgang, der aber zuletzt besonders extremistischen Kräften genutzt hat, die das Bild eines unterdrückerischen „Systems“ beschwören. Verfestigung von Mustern und erstarkende Gegenkräfte – dies sind auch beobachtbare längerfristige Konsequenzen von Disruptionen. Um Transformation erfolgreich zu gestalten, braucht es also mehr als disruptive Unterbrechungen des Status quo.
Bouncing forward
Welche praktischen Ratschläge können wir als Forschende auf dieser Basis nun Praxisakteuren der Raumentwicklung mitgeben? Auch dazu eine kurze Anekdote: Im September 2020 war ich zu einem Workshop am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) für Forschende und Praktiker der Stadtentwicklung eingeladen, in dem es um „Zukunftstrends und ihre Bedeutung für den Metropolenraum Berlin-Brandenburg“ ging. Wie würde die Stadtregion im Jahr 2040 aussehen? Wie weit würden sich Transformationsziele bis dahin verwirklicht haben? Es ging darum, heute bereits bekannte, langfristig wirksame Trends zu identifizieren und ihre Wirkung auf den Sozialraum in einem Zeithorizont von 20 Jahren einzuschätzen. Dabei haben die Teilnehmer*innen aus Stadtentwicklungspraxis und Forschung auch das Gedankenexperiment umgekehrt, sich also 20 Jahre zurückversetzt und gefragt, welche der damals thematisierten Trends sich in der aktuell erlebbaren Region tatsächlich manifestiert hatten. Schnell wurde klar, dass zwar kontinuierliche Entwicklungen vorhanden waren, vor allem aber, dass die Bewertungsmaßstäbe und Prioritäten der Stadtentwicklung mehrfach durch Ereignisse erschüttert worden waren (die Anschläge vom 11. September 2001, die globale Finanzkrise 2008, das Brexit-Votum 2016 oder die COVID-19-Pandemie, die im September 2020 gerade eine kurze Atempause machte), die in keinem der bekannten Trends angelegt waren.
Dies ist vielleicht die wichtigste Lektion. Extremereignisse und damit verbundene plötzliche Verschiebungen von Bewertungsmaßstäben und Normalitätserwartungen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die künftige Entwicklung prägen, das zumindest lehrt der Blick in die jüngere Vergangenheit. Die Herausforderung an Entscheidungsverantwortliche ist damit in gewisser Weise paradox, denn sie besteht darin, langfristige Trends zu analysieren und gleichzeitig das Unerwartete zu erwarten; und auch das Unwahrscheinliche aber dennoch Mögliche stärker ins Kalkül zu ziehen. Bei der Gestaltung von Transformationsprozessen wird idealerweise eine langfristige Strategie der Anpassung (etwa an den Klimawandel) und Vorbereitung (preparedness) verfolgt. Es geht also darum, langfristigen Wandel beharrlich voranzutreiben und dabei immer wieder auf sich plötzlich ändernde Maßstäbe zu reagieren.
Wie schwierig das schon vom Grundgedanken her ist, machen der Beitrag von Elisa Kochskämper zu urbaner Resilienz sowie das Interview mit ihr und Lars Wiesemann vom vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung deutlich. Sie zeigen, dass der Schlüssel zum Erfolg in einem Verständnis von Resilienz liegt, das bei disruptiven Ereignissen nicht auf die Wiederherstellung des Ausgangszustands abzielt. Ziel muss stattdessen ein „bouncing forward“ sein, in dem die Reaktion auf ein Ereignis zugleich einen transformativer Schritt nach vorne bedeutet. Bereits die Vorbereitungsmaßnahmen auf Extremereignisse (etwa Hochwasserschutz) sollten multifunktional sein, so dass sie auch dann einen transformativen Zweck erfüllen, wenn das Ereignis selbst gar nicht eintritt. Neu gestaltete Stadtplätze, die zugleich als Auffangbecken für Starkregen dienen, sind ein Beispiel für dieses Mindset. Gleichzeitig müssen sich gesellschaftliche Akteure mehr denn je der Emotionalisierung bewusst sein, die sich in Folge von Disruptionen in großen Teilen der Bevölkerung zeigen kann, insbesondere wenn Disruptionen wiederholt mit individuellen Ohnmachtserfahrungen einhergehen. Es müssen daher Formate und Maßnahmen gefunden werden, um die Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit von Betroffenen zu erhöhen.
Am 14. November 2024 werden wir in der Geschäftsstelle der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam mit dem vhw einen Workshop „Was kommt als nächstes? Transformative Stadtentwicklung in einer Zeit von Krisen und Umbrüchen“ mit Vertreter*innen von Kommunen abhalten. Darin wird es darum gehen, die Wahrnehmungen von disruptiven Ereignissen in Kommunen zu eruieren, und über erfolgversprechende Umgangsformen damit zu reflektieren. Er soll nicht die letzte solche Veranstaltung bleiben. Das IRS hat sich einem Ideal von Wissenstransfer verschrieben, bei dem Wissenschaft und Praxis gemeinsam und auf Augenhöhe an Problemen arbeiten. Deshalb werden wir auch beim Thema Disruption weiter auf Praxisakteure zugehen.
Text: Prof. Dr. Oliver Ibert
Weitere Beiträge aus dieser Ausgabe werden in den kommenden Monaten online veröffentlicht und hier verlinkt.