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Was heißt hier „soziale Mischung“?
Rückblick auf das 52. Brandenburger Regionalgespräch des IRS
Während die Praxis sie fordert, ist die Wissenschaft eher skeptisch – das Topos der sozialen Mischung wird zwar seit Jahrzehnten erforscht, bleibt allerdings genauso schwammig wie umstritten. Unter der Moderation von Gerhard Mahnken und Mitarbeit von Lino Knocke brachte das 52. Brandenburger Regionalgespräch als hybride Podiumsdiskussion sechs verschiedene Positionen aus Wissenschaft und Praxis zusammen. Es adressierte folgende Fragen: Welche Bedeutung hat soziale Mischung für die Entwicklung von Großsiedlungen? Welche Erfahrungen werden vor Ort mit dem Zusammenleben unterschiedlicher Bewohner*innengruppen gemacht? Wie sollte eine Belegungspolitik aussehen und ab wann wirkt sie diskriminierend?
Matthias Bernt, kommissarischer Leiter des Forschungsschwerpunkts „Politik und Planung“ am IRS, leitete in die Diskussion ein und veranschaulichte exemplarisch anhand einer Studie von Marcel Helbig und Stefanie Jähnen (Wissenschaftszentrum Berlin) in ostdeutschen Städten, dass Großwohnsiedlungen – verglichen mit Innenstadtgebieten und Vororten – eine höhere Konzentration an Armutshaushalten aufweisen. Zudem ginge die Verarmung von Bezirken häufig mit einem höheren Anteil an Migrant*innen einher. Wissenschaftliche Evidenz zu den oftmals beschriebenen Sozialisations-, Stigmatisierungs- oder Infrastruktureffekten würden bislang aber keine belastbare Grundlage für eine Politik der aktiven sozialen Durchmischung – als Gegenmaßnahme zur Entmischung – liefern. Ziel sei es nun, eine kontextsensible Forschung zu betreiben, um mehr Handlungswissen zu generieren.
Jörn Michael Westphal, Geschäftsführer des kommunalen Immobilienunternehmens PRO POTSDAM GmbH, beschrieb die Lerneffekte seines Unternehmens und machte dabei deutlich, inwiefern Unternehmen eine Mitverantwortung für eine sich verschlechternde soziale Situation tragen: Eine niedrige Miete, die so von der Stadt Potsdam so gefordert wurde, habe zu einer höheren Konzentration an einkommensschwachen Haushalten geführt, was sich unter anderem in vermehrten Verhaltensauffälligkeiten bei den Schulkindern vor Ort widergespiegelt habe. Mithilfe einer Analyse der verschiedenen Haushaltstypen und einer diversen Ausstattung an Wohnungen in unterschiedlichen Preisklassen könne eine soziale Mischung gefördert werden, schlug Westphal vor.
Die Quartiersmanagerin im Falkenhagener Feld Ost in Berlin Susen Engel betonte die Folgen zunehmender sozialer Segregation, die sich in der Großwohnsiedlung in Spandau besonders bei Kindern bemerkbar machten. Weniger als die Hälfte der Kinder würden im Quartier einen Schulabschluss machen, was vor allem darauf zurückzuführen sei, dass die personellen Kapazitäten der Schulen überstrapaziert seien, so Engel. Entscheidend für soziale Mischung sei eine funktionierende, soziale Infrastruktur, die durch Quartiersmanagement und Stadtteilkoordination mit entsprechenden Handlungs- und Entwicklungskonzepten installiert werden könne.
Auch Helene Böhm von der GESOBAU AG machte im Märkischen Viertel sehr ähnliche Beobachtungen wie Frau Engel in Spandau. Während Mitte der 2000er Jahre Vandalismus, Konflikte, und Verschuldung zunahmen, verließen keine Schüler*innen aus dem Märkischen Viertel die Schule mit dem Abitur. Wer es sich leisten konnte, sei weggezogen, wodurch sich die soziale Segregation verselbstständigt habe. Als Leiterin des Sozial- und Quartiersmanagements stünde heute ihr ein Budget zur Verfügung, um kleinräumiges Monitoring zu gewährleisten und so auch präventiv handeln zu können, so Böhm. Um Partizipation und aktives Gestalten der eigenen Lebensumstände zu fördern, müsse dem endemischen Gefühl einer Abwärtsspirale entgegengewirkt werden, und zwar in Form von Aufstiegsversprechen.
Mit Verweis auf die Leipzig-Charta, nach der soziale Ungleichheit sowohl auf ökonomischer, ökologischer wie auch räumlicher Ebene zu vermeiden sei, verdeutlichte Ralph Protz vom Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V., wie grundlegend soziale Mischung für eine moderne Gesellschaft sei. Ein großes Problem liege darin, dass der in Berlin dringend benötigte soziale Wohnungsbau in Großsiedlungen errichtet würde, während andere Bezirke davon „verschont“ blieben. Soziale Segregation innerhalb der Stadt sei die Folge. Selbstgenutztes Eigentum, aber auch mehr Empirie vor Ort, stellten zwei Stellschrauben dar, um soziale Mischung wiederherzustellen, so Protz.
Sybille Münch, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim, berichtete von den Erkenntnissen ihrer Forschung zu Nachbarschaftseffekten in europäischen Städten, nach denen soziale Mischung allein die Probleme der Bewohner*innen nicht löse, sondern vor allem soziale Infrastruktur das ausschlaggebende Element für eine Verbesserung der sozialen Situation darstelle. Belegungsquoten und Zuzugssperren, wie sie in der Praxis häufig zum Tragen kämen, um eine soziale Mischung zu bewirken, würden aus wissenschaftlicher Perspektive eher kritisch betrachtet, da sie als Begrenzung von Zugängen für ohnehin schon benachteiligte Gruppen darstellten.
In der lebendigen Diskussion zeigte sich, dass es durchaus Handlungsansätze für bessere Durchmischung gibt, etwa durch eine aktive Belegungspolitik von Wohnungsunternehmen, die nicht in erster Linie arme Haushalte ausschließt, sondern versucht, Personen, die vor Ort zwingend gebraucht werden (etwa Mitglieder der lokalen Feuerwehren), Wohnraum anzubieten. Auch in der Wohnraumversorgung stellt sich also zunehmend die Frage der „Systemrelevanz“. Insgesamt stärkten die Diskussionsbeiträge aber eher die Wahrnehmung, dass angesichts existenzieller Wohnraumnot und anderer Notlagen bei den Ärmsten (bis hin zu Hunger) sowie einer auf dem Wohnungsmarkt ebenfalls zunehmend unter Druck geratenen Mittelschicht der Leitgedanke einer besseren Durchmischung von Großwohnsiedlungen nicht ausreicht. Stattdessen, so könnte man mehrere Perspektiven in der Diskussion zusammenfassen, sei ein neues, glaubhaftes Wohlstands- und Teilhabeversprechen an die Ärmsten geboten - durch bezahlbaren Wohnraum, wirksamen Schutz gegen extreme wirtschaftliche Notlagen (auch hier wieder: Ernährungssicherheit) und besonders gut ausgestattete (speziell personell) Bildungs- und Sozialinfrastrukturen.
Das 52. Brandenburger Regionalgespräch wurde aufgezeichnet und ist auf dem YouTube-Kanal des IRS abrufbar.