07. Januar 2022 | Ausgewählte Publikation

Neues Paper aus dem IRS: Heuristik zu digitalen Plattformen aus nutzungszentrierter, relationaler Perspektive

IRS-Forschende haben jetzt neue konzeptionelle Überlegungen zu digitalen Plattformen vorgelegt. Basis hierfür ist das Projekt „Plattform-Ökologie: Kreative Zusammenarbeit im Spannungsfeld zwischen virtuellen und konkreten Räumen am Beispiel von Modedesign“. Sie betrachten diese Plattformen aus der Perspektive von Nutzer*innen. Damit verschieben sie den Blick von der Betrachtung der technisch-organisatorischen Aspekte ausgewählter Plattformen auf die vielfältigen Praktiken, mit denen Nutzer*innen Online-Plattformen in ihren Alltag integrieren. Der Beitrag „Platform ecology: A user-centric and relational conceptualization of online platforms“ wurde in der Fachzeitschrift Global Networks veröffentlicht.

Digitale Plattformen – ein analytischer Blick auf ein kontroverses Thema

Digitale Plattformen sind zu einem der umstrittensten Themen unserer Zeit aufgerückt. Einige Kommentator*innen staunen über die Effizienz dieses neuen Geschäftsmodells und erhoffen sich positive Wirkungen, etwa vermehrtes Teilen knapper Güter, offenere Arbeitsmärkte oder neue Impulse für das soziale Zusammenleben. Andere beklagen die Dominanz der digitalen Konzerne, die hinter den digitalen Applikationen stehen. Sie kritisieren unter anderem die Art und Weise, wie im Hintergrund wirkende Algorithmen unmerklich soziale Situationen nach ökonomischen Interessen formen, etwa der Umgang von Facebook mit polarisierenden Meinungsäußerungen. Wieder andere nehmen prekäre Arbeitsbedingungen von sogenannten „Gig-Arbeiter*innen“ in den Blick, die im Zuge von global entgrenzten Arbeitsmärkten entstehen. Die Diskussionen zeigen, dass digitale Plattformen heute als technische Infrastrukturen zu verstehen sind, die das gesellschaftliche Zusammenleben grundlegend neu strukturieren.

Plattform-Ökologie als Heuristik

Der Begriff Plattform-Ökologie schlägt eine Heuristik vor. Das heißt, er soll es künftiger Forschung ermöglichen, neue Aspekte an Online-Plattformen zu entdecken, indem eine bestimmte, neue Suchhaltung eingenommen wird. In diesem Fall wird erstmals dezidiert die Perspektive der Nutzenden eingenommen. Hierdurch öffnet sich der Blick für die vielfältigen Formen, wie Online-Plattformen in Alltagspraktiken eingebunden werden. Plattformen bilden strukturierte Angebote, die bestimmte Handlungen erleichtern, andere aber auch erschweren oder gänzlich ausschließen. Wie genau diese Angebote und Restriktionen aber in der Nutzung wirken, ist keineswegs fixiert. Vielmehr hängt das von den Interessen, Fähigkeiten und Motivationen auf Seite der Nutzer*innen ab. Weiterhin betrachten Nutzer*innen einzelne Online-Plattformen nicht isoliert, sondern als eines von mehreren alternativen Angeboten. Diese Angebote werden untereinander verglichen und auf vielfältige Weise miteinander kombiniert. Schließlich findet die Nutzung immer auch in einem physischen Umfeld statt, sei es zu Hause an einem stationären Rechner, oder im städtischen Kontext als mobile Applikation. Online-Angebote werden also in konkreten Situationen wahrgenommen, analoge und digitale Sphären haben aufeinander Einfluss, durchdringen sich wechselseitig. Auch zur Analyse der räumlichen Reichweite von Beziehungen eignet sich die Heuristik der Plattform-Ökologie. Nutzer*innen gehen lokale und translokale Verbindungen ein, sie pflegen diese in physischer wie in virtueller Präsenz.

Plattformen eröffnen Möglichkeiten und setzen Grenzen

Nutzer*innen bewegen sich in einem strukturierten Möglichkeitsraum, in dem Angebote und Restriktionen sowohl im technischen Setting der Plattformen, als auch in der gewachsenen Umgebung ihres räumlichen Umfelds liegen. Nutzende haben das Bestreben, das digitale und analoge Umfeld nach ihren Wünschen anzupassen und zu strukturieren, zugleich wirken in den angelegten Strukturen aber auch Widerstände gegen viele ihrer Aneignungswünsche. Nutzende sind also nicht machtlos, aber oft genug können sie auch gegen ihren Willen genötigt sein, Funktionen auf digitalen Plattformen zu nutzen, die für ihre Zwecke nur wenige Vorteile bieten. Ähnlich wie in einer Ökologie, bilden Nutzende in der Aneignung und Auseinandersetzung mit ihrer teils analogen, teils digitalen Umwelt sogenannte sozio-technische Nischen, in denen verschiedene digitale Applikationen und Praktiken nach ihren persönlichen Vorlieben und Zwecken arrangiert und dann dauerhaft in ihren Alltag integriert werden.

Ein Blick voraus auf künftige Forschungen

Die Heuristik der Plattform-Ökologie kann für weitere Forschungen verwendet werden. Zunächst ändern sich die Möglichkeitsräume, je nachdem welche Gruppe von Nutzer*innen in den Blick genommen wird. In den Forschungen des IRS wurden Modedesigner*innen betrachtet, aber die Heuristik erlaubt es künftig auch, andere Gruppen zu untersuchen sowie Vergleiche zwischen ihnen anzustellen. Schließlich kann auch eine Prozessperspektive eingenommen werden, die geeignet ist zu betrachten, wie in konkreten Projekten Online und Offline Möglichkeiten im Zeitverlauf miteinander verknüpft werden. Ebenfalls kann die Entstehung oder die Veränderung von sozio-technischen Nischen untersucht werden. Dabei gerät in den Blick, wie sich Online-Plattformen selber im Zeitverlauf unter dem Einfluss von Nutzungspraktiken verändern.

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Forschungsschwerpunkte