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Krisen brauchen mehr als Management
Ein Rückblick auf die internationale und transdisziplinäre Konferenz „Emerging from Emergencies. Exploring CRISIS as a Dynamic Opportunity Structure“
Brexit, Klimawandel, bewaffnete Konflikte – leben wir tatsächlich in Zeiten permanenter Krise? Und was folgt daraus für die Art, wie die Gesellschaft mit Krisen umgehen soll? Wie können Krisen produktiv genutzt werden, um langfristig zu lernen? Diese Fragen und weitere wurden auf der Online-Konferenz „Emerging from Emergencies“ adressiert. Die Konferenz eröffnete eine Perspektive auf einen proaktiveren, stärker reflektierten und offeneren Umgang mit Krisen.
Krisen als Normalfall
In der Politik ist Handeln unter dem Eindruck von Bedrohung und Unsicherheit, vor allem aber unter dem Einfluss eskalierender, unberechenbarer Ereigniskaskaden beinahe zum Normalfall geworden. Unser Erleben der Krisenhaftigkeit wird aber auch von dem geprägt, was die Sozialwissenschaft als „Performativität“ bezeichnet: Wir reden zunehmend in Krisenbegriffen. Tipping Points und Eskalationsspiralen werden formuliert und begründet. Krisenkompetenz wird Politiker*innen als Qualität zugeschrieben. Krisen werden von Akteuren mit politischen Agenden absichtsvoll ausgerufen. Mediale Aufmerksamkeitszyklen tun ihr Übriges, um den öffentlichen Diskurs auf eine stete Abfolge von Krisen zu bündeln, oder vielmehr, diese Abfolge mit zu erzeugen, denn Krisen sind auch dies: temporäre Aufmerksamkeitsbrennpunkte.
Hinzu kommt die Beobachtung, dass Krisen heute typischerweise nicht mehr von singulären Ereignissen ausgelöst werden, sondern aus der Interaktion verflochtener, selbst in Dynamik befindlicher Systeme heraus entstehen. So drücken Krisen möglicherweise „nur“ die grundlegenden tektonischen Verschiebungen unserer Zeit aus – ökologisch, technologisch, wirtschaftlich, weltpolitisch. So gesehen würden sie gerade nach einem anderen Fokus verlangen als dem auf Krisen und ihrem situativen Management.
Vom 30. Juni bis zum 2. Juli 2021 veranstalteten das IRS und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz gemeinsam die internationale Online-Konferenz „Emerging from Emergencies. Exploring CRISIS as a Dynamic Opportunity Structure“, auf der die gängigen krisenfixierten Zeitdiagnosen einer kritischen Prüfung unterzogen und Wege der sinnvollen Auseinandersetzung mit Krisendynamiken diskutiert wurden. Wie kann die Gesellschaft, so lautete die Kernfrage, Krisen wirklich bewältigen und aus ihnen lernen, so dass sie am Ende besser dasteht als vorher? Der Konferenz ging es zum einen um den Austausch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Krisenforschung. Darüber hinaus verfolgte sie aber auch den Anspruch, in transdisziplinärer Weise das Wissen von Praxisakteuren mit dem akademischen Diskurs zu verbinden. Dass dies gelingen konnte, lag wesentlich an dem außergewöhnlichen Line-up, zu dem international renommierte Persönlichkeiten der Krisenforschung genauso gehörten wie Vertreterinnen und Vertreter von Hilfs- und Notfallorganisationen, der Medien und des Krisenmanagements.
Umgang mit Krisen: viel Professionalisierung, wenig Lernen
Die Konferenz leitete nach knapp vier Jahren Forschung die Schlussphase des Projekts „Resilienter Krisen-Umgang: Die Rolle von Beratung bei der Schaffung und Nutzung von ‚Gelegenheiten‘ in Krisenverläufen“ kurz „RESKIU“ ein. In diesem Projekt erforschen Oliver Ibert, Tjorven Harmsen (beide IRS) und Verena Brinks (Universität Mainz) Krisenverläufe, um zu verstehen, wie in ihnen gelernt und Expertise mobilisiert wird. Im Sinn des am IRS etablierten und maßgeblich mitentwickelten raum-zeitlichen Forschungsansatzes rekonstruieren sie nachträglich beispielhafte Krisenfälle – konkret eine Wirtschaftskrise, eine Umweltkrise und eine Verwaltungskrise –, verfolgen ihre Ausbreitung und Manifestation in Raum und Zeit, und beleuchten die Beiträge bestimmter Akteure zum jeweiligen Krisenverlauf. Im Zentrum des Interesses stehen zwei Arten von Personen bzw. Akteursrollen mit spezifischen Wissensressourcen: zum einen Expert*innen für Krisen, sprich, für Krisenmanagement, Krisenkommunikation und Katastrophenschutz; zum anderen Expert*innen in Krisen, womit alle Fachleute angesprochen sind, deren Expertise in Krisen nachgefragt wird, die aber mit der situativen Dynamik von Krisen nicht vertraut und davon typischerweise überfordert sind.
Die Bearbeitung von Krisen, das zeigte die Forschung in RESKIU, ist heute hochgradig professionalisiert – in Notfallorganisationen, Consultingfirmen und der immer wichtiger werdenden Wissensdomäne des Krisenmanagements. Entsprechend gering ist damit aber auch die Chance, dass aus Krisen Grundlegendes gelernt wird. Zu dominant ist die Logik eines immer ausgefeilteren reaktiven und inkrementellen Handelns. Das Projektteam hat sich das ehrgeizige Ziel gesteckt, denjenigen, die Lösungskompetenz beizutragen haben, ohne selbst Teil des „Krisenbusiness“ zu sein (die besagten Expert*innen in Krisen), Praxiswissen an die Hand zu geben, mit dem sie wirkungsvoll in unterschiedlichen Phasen von Krisen kommunizieren und damit in sie eingreifen können. Mit diesem Empowerment sachkompetenter Krisenlaien wollen die Forschenden zum langfristig angelegten Lernen aus Krisen beitragen.
Krisen schwer fassbar innerhalb von Grenzen und Routinen
Bevor jedoch die Frage des Lernens gestellt wurde, fragte die Konferenz im ersten von vier Inhaltsblöcken, jeweils bestehend aus einem Keynote-Vortrag und einer Panel-Diskussion, nach dem Wert der Diagnose „krisenhafter Zeiten“ (Session „Crisis Unbound“). Arjen Boin, Politikwissenschaftler an der Universität Leiden (Niederlande), lieferte der Diskussion mit seiner Keynote zur „Transboundary Crisis“ den Auftakt. Mit dem Begriff diagnostiziert er heutigen Krisen einen grenzüberschreitenden Charakter: Krisenursachen und -wirkungen greifen weit aus in Raum und Zeit, übertreten die Grenzen von Nationalstaaten und sind in ihrem Anfang und Ende kaum definierbar („Creeping Crisis“). Heutige Krisen halten sich also wenig an menschengemachte Grenzen (wie besonders deutlich die COVID-19-Pandemie zeigt) – und sind genau deshalb so schwierig zu managen. Das anschließende erste Panel ergänzte die Sichtweise der einen „transboundary crisis“ um die Vorstellung simultaner, multipler Krisen. Ob Krisen tatsächlich eine neue Qualität besitzen oder doch nur die Form, in der über sie gesprochen wird, konnte durch die im Panel versammelten Wissenschaftler*innen kritisch diskutiert werden.
Die zweite Session der Konferenz („Collective Action in Crisis“) wurde eingeleitet mit einer Keynote zu kollektiven Handlungsmodi in Krisensituationen von Martin Kornberger, Organisationswissenschaftler an der Universität Edinburgh (UK), und Renate Meyer, Organisationswissenschafterin an der Wirtschaftsuniversität Wien (Österreich). Nicht rational durchgeplant, wie in stark formalisierten Situationen, und auch nicht instinktiv erfahrungsbasiert, wie in wohleingeübten Notfällen (etwa Feuerwehreinsätzen), müsse in einer Krise gehandelt werden, in der es per Definition kein Skript gebe, so Kornberger und Meyer. Stattdessen brauche es, wie Martin Kornberger am Beispiel administrativer und zivilgesellschaftlicher Reaktionen auf die „Flüchtlingskrise“ in Wien 2015 zeigte: physische Präsenz an den Orten des Geschehens, verteilte Kognition, also die Augen, Ohren, Denk- und Handlungsfähigkeiten zahlreicher Aktiver (wie auch die Kapazitäten technischer Systeme, etwa Überwachungskameras), sowie ein geteiltes Ethos, das allen Beteiligten Orientierung gibt. Darauf aufbauend kam das anschließende Panel schnell zu der Übereinkunft, dass die traditionelle Idee von Krisenmanagement – top-down, expertokratisch, im kleinen Kreis von Krisenstäben – der heutigen Realität nicht mehr gerecht wird. Nicht mehr (Krisen-)Management, sondern Governance werde zunehmend wichtig: ein Konzept von Steuerung, das auf die Beteiligung vieler setzt, dezentral angelegt ist und genau an den im Alltag eher unbeachteten Räumen zwischen Organisationen, zwischen Nationalstaaten, zwischen sozialen Systemen wirksam wird. In eindrücklicher Weise konnten die geladenen Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen des Panels dazu aus ihren Erfahrungen und Erkenntnissen berichten.
Beratung und Lernen in Krisen
Sowohl die Diagnose der grenzüberschreitenden Krise als auch die Lösungsstrategie der Krisengovernance boten eine gute inhaltliche Grundlage für die dritte Session der Konferenz zum Thema der Krisenberatung („Good Advice in Crisis“). Sind in der Krise Entscheidungsverantwortliche mit den Grenzen ihres Wissens konfrontiert, wird ein Hinzuziehen von Expert*innen erforderlich, da es nur mithilfe ihres Fachwissens möglich wird, wirksame Maßnahmen zu entwickeln. In der einleitenden Keynote von Verena Brinks und Oliver Ibert konnten Projektergebnisse aus RESKIU präsentiert werden. Hier kam die Unterscheidung der Expertisetypen zum Einsatz: Brinks und Ibert stellten eine Handreichung für die Praxis vor, die Expert*innen in Krisen dazu verhelfen soll, ein tieferes Verständnis für die Muster und Dynamiken von Krisen zu entwickeln. Über ein solches generisches Krisenverständnis verfügen Expert*innen für Krisen, von denen einige – aus Wissenschaft und Praxis – am anschließenden Panel teilnahmen. Im Hinblick auf die Frage nach „guter Beratung“ wurde im Panel unter anderem der Stellenwert von Vertrauen näher diskutiert. Ein schon vor der Krise bestehendes Vertrauensverhältnis von Entscheidungsträger*in und Berater*in kann in der akuten Krise zwar schnell die Grundlage für gute Zusammenarbeit liefern, jedoch zugleich zur „psychologischen Falle“ werden: wenn nämlich der gegebene Rat stärker aus persönlicher Einschätzung und Meinung als aus gesichertem Wissen hervorgeht. Ebenso wurde über die Gefahr reflektiert, inwiefern politisch Handelnde das so gewonnene Wissen zur Verfolgung von Eigeninteressen missbrauchen könnten.
Diese der Krisenkommunikation verwandten Themen boten wiederum Grundlage für die vierte, abschließende Session der Konferenz zum Thema des Lernens aus Krisen („Learning in and from Crisis“). Die zugehörige Keynote hielt die Kommunikationswissenschaftlerin Shari Veil von der Universität Nebraska-Lincoln (USA). Organisationen, die sich insgesamt auf eine „achtsamkeitsbasierte“ – das heißt, prozess- statt ergebnisorientierte – Praxis des Lernens ausrichten, sei es viel leichter möglich, die Gelegenheiten einer Krise zu erkennen und auszuschöpfen. Ähnlich wie zuvor Verena Brinks und Oliver Ibert hatte die Kommunikationsexpertin zahlreiche praktische Lektionen für Organisationen in Krisen, vor allem für eine proaktive und transparente Kommunikation. Im anschließenden Panel wurde das Thema kritisch diskutiert und Verbindungen zur Krisengovernance hergestellt. Auch hier konnten Projektergebnisse von RESKIU einfließen. Anhand von drei im Projekt entdeckten „Lerntrajektorien“ (Prozessverläufen des Lernens in Krisen) ließ sich zeigen, dass gesellschaftliches Lernen in, aus und für Krisen nicht unmittelbar mit einer Lösung von Strukturproblemen einhergeht. So kann die Entwicklung hochleistungsfähiger und zunehmend effektiver Krisenmanagementstrukturen dazu führen, dass man sich größere Krisen zutraut – ohne jedoch die Struktureffekte, die für Ihr Auftreten sorgen, zu bearbeiten. Dieses vierte Panel schloss die Konferenz ab.
Neue Wege
Eine gute Konferenz hat zahlreiche Effekte: inspirierende Begegnungen, Aha-Momente, weiterentwickelte Konzepte und ausgetauschte Ideen. All das trifft auf die Konferenz „Emerging from Emergencies“ zu, was das Feedback der Teilnehmenden bestätigte. Das RESKIU-Team erfuhr darüber hinaus eine starke Bestätigung für sein Anliegen, generische Krisenexpertise über die Domäne des Krisenmanagements hinaus zu übersetzen, anschlussfähig zu machen und zu verbreiten. Krisen sind ein Phänomen, das unsere Zeit kennzeichnet. Sie sind heute zunehmend als Kulminationspunkte und sichtbare Zeichen längerfristiger Veränderungsprozesse zu verstehen. Damit bieten sie aber auch Gestaltungsgelegenheiten. Die kommunikative und kognitive Schließung, die sich rund um Krisen oftmals vollzieht, behindert die Entfaltung dieses Potenzials. Die Gesellschaft muss insgesamt reflektierter mit ihren eigenen Struktureffekten umgehen, die sich in Krisen manifestieren. In der Konferenz offenbarte sich unter den Teilnehmenden eine tiefe Skepsis gegenüber den heute etablierten, häufig defensiven oder reaktiven Verarbeitungsmodi von Krisen. Zugleich wurden neue Wege aufgezeigt: Governance statt Management; proaktive Transparenz; Einbindung vieler dezentral verteilter Akteure, die Evidenz und Handlungsfähigkeit beisteuern können; Kommunikative Mobilisierung verschiedener Expertisen; und ein offener Blick für die Räume zwischen abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen.
Das Projekt „Resilienter Krisen-Umgang: Die Rolle von Beratung bei der Schaffung und Nutzung von ‚Gelegenheiten‘ in Krisenverläufen“ (RESKIU) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Videoaufzeichnungen der vier Keynote-Lectures der Konferenz werden zeitnah veröffentlicht. Noch im Herbst 2021 wird Das RESKIU-Team außerdem seine Handreichung für Expert*innen in Krisen veröffentlichen.