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Sonderheft zur Geographie der Coronavirus-Pandemie erschienen
Die Ausbreitung von Covid-19 ist ein räumliches Phänomen. Karten und Statistiken erfassen die Betroffenheitsgrade unterschiedlicher Länder und Regionen, Hotspots werden identifiziert und die Einflüsse von Mobilitätspraktiken wie Urlaubsreisen werden kritisch geprüft. Somit kann die Geographie Wesentliches zum Verständnis und zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie beitragen. In einem neuen Sonderheft der Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie haben die Gastherausgeber Manuel B. Aalbers (KU Leuven), Niels Beerepoot und Martijn Gerritsen (beide Universiteit van Amsterdam) 26 Beiträge aus verschiedenen Teilbereichen der Geographie zusammengetragen. Das IRS ist mit zwei Beiträgen vertreten.
Veren Brinks und Oliver Ibert fragen in ihrem Beitrag danach, was der analytische Wert des Krisenbrgriffs ist. Sie beziehen sich auf die Literatur zum Krisenmanagement, um allgemeine Charakteristika von Krisen wie Unsicherheit, Handlungsdruck und Gefahr herauszuarbeiten, gleichzeitig grenzen sie den Krisenbegriff auch vom Begriff der Katastrophe ab: In einer Krise liegt eben immer auch eine Chance. Der Worst Case tritt nicht zwingend ein. Schließlich haben Krisen auch eine "performative" Komponente: Ein Ereignis wird von Akteuren als Krise benannt, um ihm eine größere Relavanz zu verleihen. Am Beispiel des Covid-19-Ausbruchs in Deutschland zeigen sie dann, was eine räumliche (zusätzlich zur zeitlichen) Perspektive auf Krisen beitragen kann. Dazu nutzen sie das TPSN-Konzept (Territory, Place, Scale, Network) von Bob Jessop. Dieses Konzept dient dazu, soziale Phänomene entlang ihrer territorialen Dimension, ihrer Ausprägung an konkreten Orten, ihrer Manifestation auf verschiedenen Skalenebenen und ihrer Ausbreitung in Netzwerken - vor allem aber mit Blick auf die Wechselwirkung dieser Dimensionen zu analysieren. Brinks und Ibert machen darauf aufmerksam, dass in den Reaktionen auf die Ausbreitung des neuen Coronavirus verschiedene Ebenen ineinander spielen: Konkrete Orte , wie etwa Supermärkte, werden umgestaltet um Infektionen zu vermeiden, zugleich sind solche Umgestaltungen netzwerkartig (in Ketten) organisiert und unterscheiden sich je nach Netzwerk-Zugehörigkeit. Verschiedene territoriale Ebenen (Bund, Länder, transnationale Entitäten) wirken bei der Pandemiebekämpfung teils zusammen und geraten teils in Konflikt, auch in Abhängigkeit davon, wie ein Staat organisiert ist (föderal oder zentralistisch).
Auch Andreas Kuebart und Martin stabler beziehen sich in ihrem Beitrag auf das TPSN-Konzept. Sie werteten die ersten etwa 1000 Infektionsfälle in Deutschland aus, um die sozialräumlichen Prozesse zu identifizieren, die jeweils Infektionen hervorgebracht haben. Sie identifizieren drei Hauptdynamiken: den Einfluss von Superspreading-Events wie Karnevalsfeiern im Rheinland, religiöse Feiern oder Club-Partys in Berlin, auf regionale Ausbruchsdynamiken; die Verbreitung des Virus durch Mobilitätsnetzwerke, insbesondere Tourismus; sowie Ausbrüche in geschlossenen Umgebungen wie Kreuzfahrtschiffen und Altenheimen. Anders als in den gut dokumentierten Ausbrüchen von SARS und MERS in den 2000er Jahren spielte hierarchische Ausbreitung (über eng miteinander vernetzte Metropolen) dagegen keine Rolle, ebensowenig die Ausbreitung in der Fläche über Gemeinde- und Kreisgrenzen hinweg. Der besonders dramatische Ausbruch im Kreis Heinsberg blieb beispielsweise auf den Kreis begrenzt, Pendlerverflechtungen in andere Kreise oder über die deutsch-niederländische Grenze hinweg führten nicht zu einer räumlichen Ausbreitung des Infektionsgeschehens. Kuebart und Stabler ziehen daraus den Schluss, dass die Schließung von Grenzen, die in den stark verflochten europäischen Grenzregionen zu schweren Disruptionen des Alltags und auch der Kooperation in der Pandemiebekämpfung führten, nicht sinnvoll waren. Regional begrenzte Mobilitätseinschränkungen, das Verbot von Veranstaltungen sowie Einschränkungen im Reiseverkehr seien dagegen adäquat gewesen.