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Coworking auf dem Land? IRS-Seminar zur Ausbreitung innovativer Arbeitsformen
Coworking Spaces, Maker Spaces und andere Arten von „Open Creative Labs” gelten als urbanes Phänomen. Und tatsächlich finden sich die meisten von ihnen in größeren Städten. Es gibt sie allerdings zunehmend auch auf dem Land. Ob und wie sie womöglich als Teil einer regionalen Wirtschaftsstrategie auch der zu einer ökonomischen und demographischen Stabilisierung ländlicher Regionen beitragen können ist eine offene Frage. Am 19. März 2019 stellte Ignasi Capdevila (Paris School of Business) eine ländliche Coworking-Initiative aus der spanischen Region Katalonien vor und diskutieren deren Beitrag zur regionalen Entwicklung.
Seit knapp zehn Jahren untersucht eine wachsende internationale Forschungs-Community neue Orte der (Zusammen-)Arbeit und des Experimentierens, für die sich das Wort „Labs“ als Sammelkategorie etabliert hat. Coworking Spaces sind die zahlenmäßig größte Gruppe unter diesen Labs. Sie bieten attraktive Umgebungen und Infrastrukturen für temporäres Arbeiten und verfolgen das Ziel, den Austausch zwischen ihren Nutzerinnen und Nutzern zu unterstützen, um Kreativität, gemeinsames Arbeiten und Innovation zu stimulieren. Allerdings zeigen die Arbeiten auch, dass Coworking Spaces in erster Linie als Arbeitsorte zu sehen sind, deren Wirkung als Innovations-Generatoren begrenzt ist. Ignasi Capdevila, Associate Professor an der PSB Paris School of Business, hat das Feld der Lab-Forschung mit geprägt. Die Forschungsabteilung „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“ hat seit 2015 mit einem BMBF-Projekt und einem Leitprojekt zu diesem Forschungsfeld beigetragen.
Zunehmend wird die Frage diskutiert, welche Rolle Coworking in ländlichen Regionen spielen kann. Digital- und Kreativunternehmen sind im ländlichen Raum wenig präsent und die notwendigen Bedingungen für selbstständige Beschäftigung sind in Dörfern und ländlichen Klein- und Mittelstädten oft nicht oder nur sehr eingeschränkt gegeben. Beispielsweise ist die Breitbanderschließung schlechter als in urbanen Ballungsräumen und es fehlt an gut ausgestatteten, attraktiven Arbeitsumgebungen, die Networking und flexible Kollaboration unterstützen. Wer in den besagten Bereichen arbeiten möchte, sieht sich meist gezwungen, in große Städte abzuwandern. Vor diesem Hintergrund stellte Ignasi Capdevila, Associate Professor an der PSB Paris School of Business, ein katalonisches Netzwerk von Coworking Spaces vor und diskutierte seine Befunde mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des IRS und externen Gästen. Capdevila gehört zum Kreis der internationalen Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis, mit welchen die Forschungsabteilung seit Beginn ihrer Lab-Forschung in regelmäßigem Austausch steht. Ebenso wie Forscherinnen des IRS engagiert er sich in dem internationalen Forschungsnetzwerk RGCS (Research Group on Collaborative Spaces).
Die katalanische Metropole Barcelona hat sich früh als Ort für innovative Arbeitsformen und -orte profiliert – auch als Strategie des Umgangs mit wirtschaftlichem Strukturwandel. Entsprechend sind Coworking-Spaces, Fab Labs und Maker Spaces in der Stadt, ähnlich wie in Berlin, außerordentlich präsent. Die Coworking Spaces in Barcelona haben sich im Netzwerk „Cowocat“ (Associació Coworking de Catalunya Cowocat) organisiert. Im Jahr 2012 entstand der erste Coworking Space im ländlichen Katalonien. Im Jahr 2014 wurde das „Cowocat_rural“ initiiert, dass zum Ziel hatte, bestehende ländliche Coworking Spaces in Katalonien besser zu vernetzen, Coworking bekannter und populärer zu machen und auf diesem Weg der Abwanderung von talentierten und qualifizierten Menschen aus dem ländlichen Raum zu begegnen.
Capdevila betrachtete die Initiative durch die Brille der „Innovationsdiffusion“. Er versteht Coworking als soziale Innovationen, die in urbanen Kontexten entstanden ist und sich von dort aus räumlich ausbreitet. Demnach, so die These, werden Innovationen nach und nach von immer mehr Akteuren – von manchen früher, von anderen später – als nützlich erkannt, aufgegriffen und ungesetzt. Am Beispiel des ländlichen Coworkings in Katalonien konnte Capdevila zeigen, dass die neuere Theorie der „Translation“, also Übersetzung, die Wirklichkeit noch besser abbildet. Ihr zu Folge bleibt eine neue Idee nicht gleich, sondern wird als wertvoll erkannt, und an neue Bedürfnisse und Umgebungen angepasst. Das bedeutet, sie wird grundlegend verändert und in gewisser Weise immer wieder neu interpretiert und erschaffen. Die „Empfänger“ sind eher aktive und kreative Übersetzer.
Bezogen auf Cowocat_rural bedeutet dies beispielsweise: Im Kern der untersuchten ländlichen Coworking steht nicht in erster Linie ein physischer Ort, sondern vielmehr eine Community. Dies stellt an politische Unterstützung eine besondere Herausforderung, denn das bedeutet, dass in soziale und nicht in materielle Strukturen investiert werden sollte. So spielten z.B. im Cowocat_rural Netzwerk „Animators“ eine zentrale Rolle. Dies sind Personen, die selbst Coworking praktizieren und darüber hinaus Netzwerke zu anderen Coworking Spaces, ökonomischen und politischen Akteuren sowie sozialen Gruppen vor Ort aufbauen und Überzeugungsarbeit für die Vorteile von Coworkings leisten. Coworking in der Großstadt ist als Praktik bereits etabliert und bekannt und beruht auf einer Nachfrage nach entsprechenden Orten. In ländlichen Regionen Kataloniens hingegen ging es hauptsächlich darum, erst ein gemeinsames Verständnis über Sinn und Inhalt von Coworking zu erzeugen. Die konkreten Orte kamen erst später ins Spiel, was dann meist – anders als in der Stadt – keine große Hürde mehr darstellte. Eine größere Herausforderung war es dagegen, die zeitgleiche Präsenz von Nutzerinnen und Nutzern an einem Ort zu garantieren, die für Zusammenarbeit in einer Coworking-Umgebung entscheidend ist. Auf dem Land sind die Distanzen größer, man trifft sich nicht zufällig oder auf spontanen Zuruf. Kopräsenz ist aufwendiger zu organisieren. Schließlich verdeutlichte das Beispiel in Katalonien, dass die Zielgruppe für Coworking auf dem Land sich anders darstellt als in der Großstadt: Zu den als Nutzerinnen und Nutzern bekannten Selbstständigen und Kreativen kommen aufs Land Heimkehrende, Studierende, Arbeitslose, per Teleworking Arbeitende mit klassischen Bürojobs sowie Touristinnen und Touristen, alle mit ihren jeweiligen Bedarfen.
Ignasi Capdevilas Befunde bestätigen die Forschung des IRS sowohl zum Phänomen des Coworkings als auch zur Entstehung kollaborativen Arbeitsorten im ländlichen Räumen. Beide betonen die große Bedeutung des lokalen Kontexts und des Engagements lokaler „Schlüsselfiguren“. Für die Praxis bedeuten sie: Erfolgsrezepte lassen sich nicht einfach übernehmen. Eine Praxis wie Coworking muss, wenn sie die räumliche Umgebung wechseln soll, von Grund auf neu ausgehandelt werden.