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Großwohnsiedlungen in Osteuropa: Ganz normale Wohngebiete
In der wissenschaftlichen Forschung zu Großwohnsiedlungen dominiert eine westliche Sicht. Die vor allem in den 1960er- bis 1980er-Jahre überall in Europa errichteten Stadtteile gelten darin als Sonderfälle auf dem Wohnungsmarkt und potenzielle soziale Brennpunkte. Die osteuropäische Realität ist eine andere, denn hier sind Großwohnsiedlungen ganz normal. Gleichzeitig haben diese Viertel mit völlig anderen Problemen zu kämpfen, als ihre westeuropäischen Pendants. Das Projekt „Estates after Transition“ hat die osteuropäische Perspektive aufgegriffen und die Planungsherausforderungen osteuropäischer Großwohnsiedlungen beleuchtet.
Obwohl in der Nachkriegszeit sowohl westlich als auch östlich des Eisernen Vorhangs Großwohnsiedlungen in industrieller Bauweise errichtet wurden, gibt es markante Unterschiede hinsichtlich ihrer städtebaulichen Rolle und ihrer Wahrnehmung. In Westeuropa entstanden sie hauptsächlich im Kontext des sozialen Wohnungsbaus. In sozialistischen Ländern stellten sie die gängige Form des Wohnungsbaus dar und wurden von einer großen Bandbreite an Bevölkerungsschichten bewohnt. Während Großwohnsiedlungen in Westeuropa überdurchschnittlich sozial benachteiligte Gruppen beherbergten und sich schnell in einer stigmatisierten Position fanden, entziehen sich ihre osteuropäischen Gegenstücke schon auf Grund ihrer großen quantitativen Bedeutung einer solchen Rolle. So machen Großwohnsiedlungen in der Slowakei heute etwa 80 % des gesamten Wohnungsbestands aus! Problematisch ist dieser Unterschied insofern, als die Diskussion in der Stadt- und Planungsforschung von der (nord-)westeuropäischen Wahrnehmung beherrscht wird. Darunter leidet eine fundierte Auseinandersetzung mit den Entwicklungspotenzialen osteuropäischer Großwohnsiedlungen.
Gemeinsam mit Partner*innen von der Universität Tartu (Estland) und der European University at St. Petersburg (Russland) hat ein Team des IRS im Projekt „Estates after Transition – Großwohnsiedlungen nach der Transformation“ (EAT) die Entwicklungsbedingungen von Großwohnsiedlungen in Russland, Estland und Ostdeutschland anhand von Fallstudien zu sechs Wohngebieten vergleichend betrachtet. Die Forschenden fragten nach den Handlungs- und Steuerungsperspektiven und ihrer Einbettung in größere sozioökonomische Trends. Dem Projekt ging es darum, weg von Einzelfallbetrachtungen hin zu einer systematischen Einordnung zu kommen und so die wissenschaftliche Sicht auf Großwohnsiedlungen um eine osteuropäische Perspektive zu erweitern. Auch die Übertragbarkeit planerischer und stadtpolitischer Best Practices war Thema.
Wie sich zeigte, ist eine Öffnung des Diskurses dringend nötig, sowohl was Problemdiagnosen, als auch was Lösungen angeht. In postsozialistischen Ländern wurden Wohnungen in Großsiedlungen in den 1990er-Jahren umfassend privatisiert, und zwar überwiegend einzeln, an ihre Bewohner*innen, die (fast) allen sozialen Schichten angehören. Gleich zwei gängige Diagnosen aus dem westeuropäischen Diskurs gelten damit nicht: Segregation, ein großes Problem von französischen Banlieues bis zu britischen Estates, ist in osteuropäischen Großsiedlungen kein drängendes Thema. Zugleich besteht auch kein Über-Engagement öffentlicher Vermieter, ganz im Gegenteil. Wird in Westeuropa oft eine Diversifizierung der Eigentumsstrukturen empfohlen, so besteht in Osteuropa eher das Problem einer zu starken Fragmentierung des Eigentums. Von der finanzschwachen Rentnerin über den jungen Erstwohnungskäufer zur professionellen Vermieterin sind alle Ausgangslagen und damit divergierende Interessen vertreten. Das führt zu Koordinationsproblemen. Wer kümmert sich etwa um die Gebäudehülle und die Außenbereiche? Unklar sind oft auch die Grenzen des privaten Eigentums. In Tallin konnten Käufer*innen sich entscheiden, wo das jeweilige Grundstück enden sollte: direkt an der Hauswand oder in einem frei gewählten Abstand von bis zu 20 Metern. Für jedes Gebäude trafen die neuen Eigentümergruppen eigene Entscheidungen, so dass nun die Zuständigkeiten für Außenflächen stark fragmentiert sind.
Politikempfehlungen aus dem westeuropäischen Diskurs gehen häufig von einem steuerungsfähigen Staat aus. Sie setzen die Existenz von Förderprogrammen, starke öffentliche Wohnungsunternehmen, finanzielle und personelle Ressourcen in Ministerien und (Planungs-)Verwaltungen, kompetente private Planungsbüros, Erfahrungen mit Leitbildprozessen und eine Tradition staatlicher Wohnungsmarktinterventionen in einem marktwirtschaftlichen Umfeld voraus. Keine dieser Bedingungen ist in postsozialistischen Ländern erfüllt. Weder bestehen entsprechende institutionalisierte Erfahrungen und Kompetenzen, noch stehen nach jahrzehntelanger Austeritätspolitik ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung. Erfahrung besteht dagegen mit Aushandlungslösungen zwischen sehr heterogenen Akteuren.
Vor diesem Hintergrund erweisen sich viele Best-Practice-Ratschläge aus dem akademischen Diskurs zu Großwohnsiedlungen als untauglich für Osteuropa. Es zeigte sich aber auch, dass die Institutionenlandschaften in osteuropäischen Ländern selbst sehr divers und die Übertragungsmöglichkeiten von politischen Konzepten innerhalb Osteuropas sehr begrenzt sind. Internationaler Dialog, nicht nur in akademischen Zirkeln, sondern auch unter Planungspraktiker*innen, wird dagegen als sehr produktiv und wünschenswert wahrgenommen. Hier können Wissenstransferbemühungen der internationalen Planungsforschung ansetzen.
Ostdeutschland kann übrigens als Mischfall zwischen dem ost- und dem westeuropäischen Modell gelten. Auch hier wurden in großem Umfang Wohnungen privatisiert, jedoch nicht an die Mieter*innen, sondern an Privatunternehmen, so dass heute in vielen Siedlungen bis zu ein Drittel der Wohnungen in der Hand von Finanzinvestoren sind. Sozial sind einige, aber bei weitem nicht alle ostdeutsche Siedlungen in den letzten Jahren in die Nähe von Brennpunkten wie Köln Chorweiler gerückt. Sozioökonomische Abwärtstrends sind jedoch sehr deutlich sichtbar. Hinsichtlich staatlicher Handlungsmöglichkeiten entspricht Ostdeutschland eher dem westeuropäischen Modell, mit immer noch beachtlichen staatlichen Interventionskapazitäten und einer tief verankerten Planungskultur. Städtebauliche und sozialpolitische Konzepte, wie sie in den Fallstudiengebieten Berlin-Marzahn und Halle-Neustadt zum Tragen kommen, stehen osteuropäischen Großwohnsiedlungen nicht zur Verfügung.
Die Ergebnisse des EAT-Projekts werden in ein Sonderheft der Fachzeitschrift Journal of Housing and the Built Environment einfließen, das voraussichtlich 2023 veröffentlicht wird und Beiträge zu Großsiedlungen in Großbritannien, Frankreich, Nordmazedonien, Finnland, Estland, Litauen und Russland enthalten wird. Erste Artikel aus EAT wurden bereits online veröffentlicht. Wohnungspolitische Schlussfolgerungen werden demnächst im Blog der EU-finanzierten Stadtentwicklungsplattform URBACT veröffentlicht.
Das Projekt „Estates after Transition“ lief von Juli 2018 bis November 2021. Es wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderprogramms ERA.NET Plus with Russia finanziert. Die Koordination lag bei Matthias Bernt (IRS).