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„Die Großsiedlung gibt es nicht. Es gibt verschiedene Großsiedlungen!“
Interview mit dem Stadtplaner Reinhard Huß
Schwerin-Mueßer Holz ist eine von drei ostdeutschen Großwohnsiedlungen, die im „StadtumMig“-Projekt unter die Lupe genommen wurden. Der Stadtplaner Reinhard Huß hat seit den frühen 1990er-Jahren die Entwicklung des Quartiers begleitet. Im Interview blickt er zurück und äußert sich zur Diskussion über Großwohnsiedlungen als Ankunftsquartiere.
Sie kamen 1993 nach Schwerin. Was war Ihr erster Eindruck von den dortigen Großwohnsiedlungen im Vergleich zu denen, die Sie aus Westdeutschland kannten?
Den Vergleich Bundesrepublik-Schwerin habe ich eigentlich nie so gemacht. Es war eine sehr aufregende Zeit, weil vieles relativ unbürokratisch möglich war. Und etwas Vergleichbares in dieser Größenordnung hatte ich eben auch noch nicht kennengelernt. Ich hatte mich vorher mehr mit Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet beschäftigt, die von den Zechen für ihre Arbeiter angelegt wurden, und mit Großsiedlungen nur am Rande. Von daher war Schwerin-Mueßer Holz für mich etwas komplett Neues.
Gab es etwas, das Sie total überrascht hat, als Sie nach Mueßer Holz gekommen sind?
Ja, bezogen aufs Mueßer Holz war das Überraschende, wie schnell der Wegzug erfolgte. Die Bevölkerungsentwicklung war sehr stark rückläufig. Wir haben eine Rahmenplanung erstellt, aber in deren Verlauf waren die Prognosen, die im Zusammenhang damit erstellt wurden, eigentlich schon überholt. Wir hatten damals StadtBüro Hunger als Rahmenplaner, der die Plattenbau-Siedlungen als sehr zukunftsfähig ansah und sich für den Erhalt und die Inwertsetzung dieser Siedlungen einsetzte. Aber die Erwartungen, die von ihm formuliert wurden, die waren doch weit weg von der Realität. Die Entwicklung war viel negativer als vorhergesagt.
Welche Faktoren haben damals zu dieser negativen Entwicklung in den Quartieren beigetragen?
Das Wesentliche war, dass dieser Wohnungsbau sehr stark mit dem System der DDR verbunden ist und war. Er folgte dem Anspruch „Alle bekommen gleiche Wohnverhältnisse, der Professor wohnt neben dem Arbeiter. Keiner soll bessergestellt sein“. Dadurch sollte das Wohnungsproblem der DDR gelöst werden. Eine Wohnung bekam man da auch, wenn man in der Partei war. Da gab es viele Verbindungen zum politischen System der DDR. Das machte es nach der Wende sicherlich für viele unattraktiv, dort zu wohnen. Natürlich war da auch der Drang, individueller zu wohnen und diesem gleichen Wohnungsbau zu entfliehen – ins Eigenheim, in die Innenstadt, in die sanierten Bestände. Dann wurde das Wohnumfeld durch die Massen von Autos, die da reinfluteten, zunehmend unattraktiver. Infrastruktur wurde ganz schnell dichtgemacht, Gaststätten und ähnliches. Das war schon eine Fluchtbewegung, getrieben durch die unterschiedlichsten Faktoren.
Hätte man damals stadtpolitisch anders handeln können oder müssen, um die Attraktivität der Großwohnsiedlung zu erhalten? Wie sehen Sie das in der Rückschau?
Ich glaube nicht, dass man da viele andere Möglichkeiten gehabt hätte. Der größte Fehler, der gemacht wurde, ist aus meiner Sicht die Privatisierung, vor allen Dingen im Mueßer Holz, über die eigentlich gar nicht geredet wurde. Es gab den Zwang, 15 % des Wohnungsbestandes aufgrund der Altschuldenregelung zu privatisieren. Wir haben mit den Wohnungsunternehmen über vieles geredet im Rahmen des Stadtumbaus, nur nicht darüber, wo man hätte privatisieren sollen. Das hat die Handlungsfähigkeit der Kommune und auch der Wohnungsunternehmen stark eingeschränkt, genau in diesem Quartier, im Mueßer Holz, wo es am Dringlichsten nötig gewesen wäre. Das hatte für den Stadtteil die Konsequenz, dass der Rückbau sehr diffus erfolgte.
Welche Veränderungen hat aus Ihrer Sicht die Zuwanderung von Migrant*innen gebracht?
Na ja, die erste Zuwanderung war die Zuwanderung von Russlanddeutschen in den 90er-Jahren. Damals wurden sie immer als problematisch angesehen. Ich denke aber, dass diese Gruppe eher stabilisierend gewirkt hat, weil sie oft eine gute Bildung hatten, auch Ansprüche, was ihre Wohnsituation und die Entwicklung der Kinder und so weiter anbelangt. Da kam auch kulturelles Leben in die Stadtteile rein. Sie schufen schnell relativ viele Vereine, wo sie sich kulturell engagierten. Das Mueßer Holz hatte schon 2011 den Tiefpunkt der Bevölkerungsentwicklung erreicht, seitdem nahm die Bevölkerung zu. Durch den Flüchtlingszustrom ab 2015 wurde das Bevölkerungswachstum noch mal erheblich verstärkt. Stadtplanerisch hatte das nicht so große Veränderungen zur Folge. Auffällig war, dass die Menschen selbständig tätig sein wollten und versucht haben, kleine Geschäfte oder Imbisse zu eröffnen. Dann wurde das Wohnumfeld intensiver genutzt. Es fand und findet ein bisschen mehr Leben draußen statt, die Parks und Freiflächen werden mehr genutzt. Aber darüber hinaus hat das keine großen Auswirkungen auf den Stadtteil gehabt, nein. Vielleicht gab es ein paar mehr Konflikte, jetzt auch mit den Deutschen.
Was waren die größten Herausforderungen für die Planung durch die Zuwanderung? Und was waren die positiven Aspekte?
Die Großwohnsiedlungen sind dadurch in den Blick geraten, dass sie der Ort waren, wo diese Menschen eben untergebracht werden konnten. Als sie 2015 kamen, stand dort viel Wohnraum leer. Die größte Auswirkung war, dass Wohnraum, der abgerissen werden sollte, nicht abgerissen wurde, weil er für die Unterbringung benötigt wurde. Das war für die Eigentümer vielleicht eine Chance, auch nochmal Geld mit diesen Wohnungen zu verdienen. Für die Stadtplanung bedeutete es, dass Pläne zum Umbau, zur Aufwertung des Stadtteils verschoben werden mussten. Das war damals stadtplanerisch sicherlich die gravierendste Auswirkung, dass da eine Verschiebung um fünf bis sieben Jahre erfolgte. Ansonsten bedeutete es für die Stadtteile auch eine Diversifizierung der Bevölkerungsstruktur. Die Herausforderungen waren die damit einhergehenden Aufgaben der Integration, des Spracherwerbs, auch der Integration in den Beruf. Und da jetzt diese Menschen in diesen Großsiedlungen wohnten, konzentrierte sich das dann auch dort. Das ist ja auch eine These im „StadtumMig“-Projekt, dass Großwohnsiedlungen Ankunftsquartiere werden – und das merkt man natürlich.
Schlägt sich das in den Maßnahmen und Strategien der Stadtverwaltung nieder?
Ich glaube das ist sehr ambivalent. Als ich hier anfing war das Ziel, diese Stadtteile aufzuwerten und als Wohngebiete in der Stadt zu etablieren. Das war dann – ich würde sagen so kurz nach der-Jahrtausendwende – gar nicht mehr der Fall. Da gab es auch von Seiten der Politik oft die Vermutung: Wir brauchen die gar nicht mehr. Also fürs Mueßer Holz wurden Einwohnerzahlen von um die 6.000 gehandelt, und es gab eigentlich kaum eine Bereitschaft, in diese Stadtteile, also vor allen Dingen ins Mueßer Holz noch zu investieren. Das hat sich dann irgendwann doch wieder geändert, so dass die Stadtteile jetzt positiv gesehen werden. Es wurde erkannt, dass der Wohnraum langfristig benötigt wird. Durch die Segregations-Studie von Helbig und Jähnen (siehe S. 6) ist wieder die Integration in die Stadt und die Desegregation Ziel der Stadtpolitik geworden. Diese Segregations-Studie hat eine Menge – bezogen auf die Wahrnehmung dieser Stadtteile – geändert. Aber gerade fürs Mueßer Holz ist völlig unklar, wie man da reagieren soll. Auf der einen Seite wird gesagt, die Segregation muss verringert werden, auf der anderen Seite ist man auch ein bisschen hilflos aufgrund der Dimension des Problems.
Was denken Sie, wie sich die Großwohnsiedlungen künftig entwickeln werden? Welche politischen Weichenstellungen sind hier notwendig?
Ich habe so meine Probleme mit dem Begriff „die Großsiedlung“. „Die Großsiedlung“ gibt es hier in Schwerin nicht und die wird es nirgendwo geben, sondern es gibt verschiedene Großsiedlungen.
Was wäre jetzt nötig, um das Mueßer Holz aufzufangen und den größten Ängsten vor einem sozialen Abstieg entgegenzuwirken?
Die Investitionen in Bildungsinfrastruktur sind wichtig. Die erfolgen ja im Moment auch schon ganz gut. Dass da mit dem Jobcenter und der Arbeitsagentur eine für die Stadt wichtige Einrichtung reingeht und damit ja auch ein bisschen mehr den Blick auf den Stadtteil richtet ist sicherlich auch wichtig. Es müssen aber auch Anziehungspunkte für die Gesamtstadt geschaffen werden.
Die Eröffnung des Fernsehturms, auch eine Aufwertung des Feuerwehrmuseums wären vielleicht eine gute Möglichkeit, denn der Stadtteil muss stärker in die Gesamtstadt integriert werden. Wichtig ist auch, dass das Wohnumfeld aufgewertet wird, um die Auswirkungen des Rückbaus zu beseitigen. Das ist allerdings aufgrund der Finanzkraft der Stadt eine sehr schwierige Aufgabe. Man sieht an vielen Stellen die Lücken, die der Rückbau gerissen hat. Der Stadtteil macht an der einen oder anderen Ecke einen sehr unfertigen Eindruck. Auch neuer Wohnungsbau ist wichtig, als Zeichen dafür, dass man in diesem Stadtteil auch neue Wohnungen schaffen kann. Denn bisher wurde dieser Stadtteil doch immer unter dem Aspekt Rückbau gesehen. Ich glaube nicht, dass so ein Wohnungsneubau zur Desegregation viel beitragen wird, weil die Zahlen, die möglich sind, doch relativ gering sein werden. Aber ich denke, auf jeden Fall ist Wohnungsneubau für das Image gut, um zu zeigen: In dem Stadtteil ist auch neues Wohnen möglich und nicht nur Abriss.
Für die Gesamtstadt ist wichtig, dass die Differenzierung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, überhaupt wahrgenommen wird. Dass man nicht mehr über „die Großwohnsiedlung“ oder über „die Platte“ spricht, sondern dass man sich mal genauer ansieht: Wie haben sich Stadtteile, wie haben sich Quartiere entwickelt? Das, finde ich, ist eines der Hauptprobleme, dass diese Differenzierung immer noch nicht stattfindet, sondern dass man immer noch sehr stark pauschalisiert. Das führt meistens dazu, dass das schlechteste Image auf alle ausstrahlt und nicht umgekehrt, dass das beste Image die anderen mitzieht.
Das Interview führte Madlen Pilz am 07.03.2022 online. Es wird hier in gekürzter und redaktionell bearbeiteter Form wiedergegeben.