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POSITION: Soziale Mischung: eine sinnvolle Handlungsorientierung?
Der Befund ist eindeutig: In vielen Großwohnsiedlungen kommt es zu Zuzügen einkommensschwacher Haushalte. Weil diese anderswo keinen adäquaten Wohnraum finden, ziehen sie dorthin, wo er noch zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung steht. In der Summe steigt dadurch in den Großwohnsiedlungen die Konzentration von Armut. Welcher Handlungsauftrag folgt daraus für die Politik? Nach wie vor herrscht in der öffentlichen Debatte das Bild einer „sozialen Mischung“ vor, die durch eine gezielte Steuerung der Bewohnerstruktur von Großwohnsiedlungen aufrecht zu erhalten oder wiederherzustellen ist. Doch die wissenschaftliche Evidenz dafür ist dünn. Eine andere Größe ist wichtiger und leichter politisch zu beeinflussen: die Infrastrukturausstattung.
Verfolgt man die Diskussion zu Großwohnsiedlungen in der Öffentlichkeit, so dominiert vor allem ein Narrativ: „Die soziale Mischung ist in Gefahr!“. Verbunden mit häufig dystopischen Assoziationen befürchten Politiker*innen und Planer*innen die Herausbildung von „Ghettos“, warnen vor „Parallelgesellschaften“ und sehen die „Integrationsfähigkeit“ unserer Städte bedroht. Solche Ängste gründen auf der durchaus auch in der Forschung diskutierten Idee von „Nachbarschaftseffekten“. Vereinfacht ausgedrückt nimmt diese Theorie an, dass das Leben in einer benachteiligten Nachbarschaft für benachteiligte Haushalte zu zusätzlichen Schwierigkeiten führt. Aus dieser Diagnose leiten Wohnungsunternehmen und Politiker*innen die Forderung ab, Belegungsquoten für Niedrigeinkommenshaushalte in großen Wohnungsbeständen gering zu halten und lieber nicht zu viele Sozialwohnungen in Großwohnsiedlungen zu errichten. Doch wie werden die postulierten „Nachbarschaftseffekte“ genau begründet, und wie haltbar sind die Begründungen? Können sie tatsächlich bestimmte politisch-planerische Interventionen rechtfertigen?
Einige Forschende verweisen bei Nachbarschaftseffekten vor allem auf Stigmatisierungsprozesse, also auf die Auswirkungen einer „schlechten Adresse“ auf die Lebenschancen benachteiligter Personen. Dieser Zusammenhang ist durch einzelne qualitative Studien, beispielsweise über die Diskriminierung bei Bewerbungen oder bei der Kreditvergabe, belegt. Insgesamt sind Stigmatisierungen aber schwer nachzuweisen. Stigmatisierung und Diskriminierungen lassen sich zudem nur schwer von der Politik steuern, denn sie entstehen in komplexen und nur schwer von der Politik zu beeinflussenden gesellschaftlichen Diskursen und schlagen sich in vielfältigen Mikropraktiken (z. B. bei der Auswahl zwischen unterschiedlichen Wohnungsbewerber*innen) nieder.
Eine weitere Perspektive verweist auf Sozialisationseffekte. Hier wird angenommen, dass die Tatsache, dass Heranwachsende in den entsprechenden Vierteln fast ausschließlich Kontakt zu statusniedrigen Personen haben, ihre Sozialisation so stark prägt, dass ein sozialer Aufstieg unmöglich gemacht wird. Wer nur von Arbeitslosen umgeben ist, kommt auch nicht auf die Idee Professor zu werden, so die Theorie. Von allen Perspektiven impliziert diese am eindeutigsten, dass ein hoher Anteil an Armutshaushalten an sich (wie es etwa die Regierende Bürgermeisterin von Berlin ausdrückte) zu einem „Zuviel an sozialen Problemen an einem Platz“ führe. Dieser Zusammenhang ist allerdings umstritten, und die wissenschaftliche Beweislage für die „Kontakthypothese“ ist dünn. Wie jemand heranwächst, ist einfach von zu vielen Faktoren abhängig. Neuere Forschungen zu migrationsgeprägten Quartieren haben außerdem gezeigt, dass räumliche Konzentrationen von Haushalten mit gleichen sozialen Merkmalen auch zu mehr gegenseitiger Unterstützung und damit besserer Integration führen können. Doch selbst wenn man die sehr fragwürdige Prämisse teilt, dass Arme von Armen Armut lernen, ergibt sich die Frage, ob man dieses Problem durch Zuzugssperren und weniger Sozialwohnungen in den Großwohnsiedlungen in den Griff bekommen kann. Angesichts hoch angespannter städtischer Wohnungsmärkte und fortschreitender Verdrängung ärmerer und selbst Mitteinkommenshaushalte aus Innenstadtquartieren ist der Zuzug in Großwohnsiedlungen derzeit nämlich schlicht alternativlos – jedenfalls solange nicht deutlich mehr Sozialwohnungen auch in wohlhabenden Gegenden errichtet werden.
Eine dritte Lesart fokussiert auf die Infrastrukturausstattung und argumentiert, dass Stadtteile mit vielen armen Bewohner*innen in der Regel verkehrstechnisch schlechter angebunden sind, eine weniger diversifizierte Gewerbeinfrastruktur und häufig auch schlechtere Schulen und Kultur- und Sozialeinrichtungen haben. Wer schlechter ausgebildet wird, sich schlechter ernähren kann und Barrieren überwinden muss, um etwa in den Genuss von Kultur zu kommen, ist in dieser Perspektive gegenüber Stadtbewohner*innen, die all dies in räumlicher Nähe haben, zusätzlich benachteiligt. Diese Perspektive richtet den Blick auf materielle Benachteiligungen, z. B. durch mangelnde ÖPNV-Verbindungen und überforderte Schulen. Statt das Problem bei den Menschen in benachteiligten Quartieren zu verorten, betont sie die gesellschaftlich-räumliche Allokation von Ressourcen. Sie eröffnet damit unmittelbar eine Handlungsperspektive: Nachbarschaften, in denen sich Haushalte mit sozialen Problemen konzentrieren, brauchen zusätzliche Unterstützung. Sie müssen besonders gut mit ÖPNV- und Breitbandverbindungen erschlossen, mit besonders gut ausgestatteten Schulen versorgt und mit einer besonders aktiven Jugend-, Freizeit- und Kulturförderung gestärkt werden.
In der Summe wird also deutlich, dass das Paradigma der sozialen Mischung nicht den besten Zugang zu den tatsächlichen Problemen in von Armut geprägten Quartieren bietet. Eine Politik, die auf einen städtischen Nachteilsausgleich im Infrastrukturbereich setzt, wäre hier zielgerichteter und effektiver.