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Eignen sich Freiräume in Großwohnsiedlungen als Orte der Begegnung?
Großwohnsiedlungen wurden ursprünglich mit eigenen Stadtteilzentren und viel Grün zwischen den Gebäuden geplant. Im Projekt „StadtumMig“ hat das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden die städtebaulichen Strukturen, Freiräume und Infrastrukturen ausgewählter ostdeutscher Großwohnsiedlungen daraufhin untersucht, ob sie auch heute noch Orte für Begegnungen, für Austausch und fürs Kennenlernen bieten. Es zeigte sich, dass es an geeigneten Begegnungsorten mangelt. Gerade unter dem Eindruck eines erneuten Einwohnerwachstums durch Migration steht die Freiraumplanung in Großwohnsiedlungen deshalb vor großen Herausforderungen.
Im Teilprojekt des IÖR im Rahmen des Projekts „StadtumMig“ wurden die Potenziale und Hindernisse der Aneignung öffentlicher Räume untersucht. Dazu wurden zwei Perspektiven auf die baulich-räumliche Situation von Großwohnsiedlungen eingenommen: einerseits die des gebauten Raums mit seinen baulichen, physischen und funktionalen Aspekten (z. B. Infrastruktur, Wohngebäude oder Bezüge zur Landschaft), andererseits die des gelebten Raums basierend auf dem Alltagserleben der Menschen, ihrer Bedarfe und Ressourcen. Es wurden Kartierungen vor Ort, Online-Spaziergänge mit lokalen Akteuren, Interviews, Dokumenten- und Datenanalysen sowie Umfrageergebnisse genutzt.
Die Ausgangslage – Viel Grün, aber wenig los
Ostdeutsche Großwohnsiedlungen zeichnen sich durch einen hohen Grünanteil aus. Bereits die ursprünglichen städtebaulichen Planungen aus den 1960er bis 1980er-Jahren sahen große, weite Grünflächen vor. Die Wohngebäude stehen in der Regel mit Abstand zum Straßenraum. So fanden und finden sich viele „Abstandsgrünflächen“ ohne echte Funktion oder Nutzungsangebote. Es gab und gibt aber auch vielfältig bepflanzte Vorgartenbereiche an den Eingängen der Gebäude. In den Höfen zwischen den Zeilenbauten gibt es Rasenflächen und Bepflanzungen. Die Flächen/Bereiche wurden ursprünglich vor allem als Wäschetrockenplätze genutzt. Vereinzelt finden sich Aufenthaltsbereiche mit Spielgeräten. In den Randbereichen wurden häufig größere Stadtparks mit vielfältigen Freizeitmöglichkeiten angelegt. Zudem grenzen die Siedlungen oft an Landschaftsräume wie Wälder oder Flussufer. In den Siedlungen waren ursprünglich außerdem Stadtteilzentren vorgesehen, die verschiedene Einkaufs- und Dienstleistungsangebote bündeln und als Fußgängerbereiche mit Aufenthaltsmöglichkeiten gestaltet wurden. Diese wurden allerdings nur zum Teil umgesetzt, da bereits in der Entstehungszeit in einigen Gebieten die Ressourcen dafür fehlten.
Nach 1989 wurde mit Fördermaßnahmen aus dem Bundesprogramm „Städtebauliche Weiterentwicklung großer Neubaugebiete“ versucht, diese zum Teil noch fehlenden städtebaulichen Elemente zu ergänzen und auch die Freiraumausstattung zu verbessern. Spielplätze und weitere Stadtteilparks wurden neu geschaffen und die bestehenden aufgewertet, auch um dem zunehmend negativen Image der „Platte“ etwas entgegenzusetzen. Mit der Diagnose hoher Leerstände als Folge dramatischer Bevölkerungsverluste in fast allen ostdeutschen Städten und dort vor allem auch in den Großwohnsiedlungen änderte sich die wohnungswirtschaftliche und folglich auch die stadtplanerische Perspektive auf die Wohngebiete. Der umfangreiche Rückbau, der seit 2002 im Rahmen des Bundesprogramms „Stadtumbau Ost“ gefördert wurde, ist vor allem in den Beständen der Großwohnsiedlungen umgesetzt worden. Die ursprünglich in den meisten Städten favorisierte Strategie des Rückbaus von außen nach innen mit dem Ziel, kompakte und funktionsfähige städtebauliche Strukturen zu erhalten, die netzgebundenen Infrastrukturen weiterhin effizient zu betreiben und letztlich die Randbereiche für andere, vor allem landschaftsbezogene Flächennutzungen nachzunutzen, ist in den meisten Städten nicht geglückt. Obwohl es entsprechende stadtplanerische Konzepte gab, bestimmten letztlich vielerorts, in Folge erzwungener Privatisierung, die Interessen privatwirtschaftlicher Eigentümer das Geschehen. Die Steuerungsmöglichkeiten Integrierter Stadtentwicklungskonzepte oder Stadt-umbaukonzepte waren daher im Grunde auf die verbliebenen kommunalen und genossenschaftlichen Bestände begrenzt.
In der Folge wurden nahezu überall punktuell Gebäude abgerissen, sowohl Wohngebäude als auch Funktionsgebäude wie Kindergärten, die häufig in den Blockinnenbereichen der Wohnzeilen lagen. Dies hat zu einer enormen Zunahme an Freiflächen geführt, für die es (zunächst und wohl auch künftig in den meisten Fällen) „nur“ die Option einer Nachnutzung als grüner Freiraum gibt. Für eine Wiederbebauung gab es keinen Bedarf, und die Förderbestimmungen untersagten dies in der Regel ohnehin für die nächsten zehn Jahre. Dies mag – vor allem auch im Vergleich zu dicht bebauten Innenstadtquartieren – nach Luxus klingen. An einigen Orten konnten dadurch auch neue, attraktive Freiräume geschaffen werden. Für die Überzahl der Flächen ließen sich aber kaum sinnvolle und vor allem kaum langfristig finanzierbare freiraumplanerische Nutzungs- und Gestaltungsansätze finden. Und so finden sich in den Siedlungen aktuell noch mehr weite, grüne Flächen, die vielerorts vor allem Leere und Ereignislosigkeit vermitteln. Auch die Bewohner*innen nehmen solche Flächen weniger als Potenziale wahr, eher verschärfen sie die Wahrnehmung von Niedergang und Abwertung.
Mangel an Begegnungsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Verbesserung
Mit der starken Fluchtmigration seit 2015 verzeichnen die Großwohnsiedlungen wieder Zuzug. Neben dem reinen Bevölkerungswachstum verändert sich dadurch auch die demografische Zusammensetzung der Einwohnerschaft: Haushalte werden jünger, internationaler und größer. Die Quartiere müssen also in vergleichsweise kurzer Zeit große Umbrüche in ihrer Bevölkerungs- und damit auch Sozialstruktur bewältigen. Die Gestaltung der Freiräume in den Siedlungen wird dadurch vor neue Herausforderungen gestellt. Freiraum als öffentlicher Raum innerhalb der Siedlungen wird – vielleicht mehr denn je – als niedrigschwelliger, allen zugänglicher Ort der Begegnung im Quartier benötigt. Die vorhandenen Frei- und Grünflächen stehen allerdings im Spannungsfeld vielfältiger und teilweise divergierender Anforderungen von neuen und alten Bewohnergruppen. Das betrifft etwa Fragen des Lärmempfindens, der Sauberkeit, der Gleichberechtigung von Nutzergruppen und des Sicherheitsbedürfnisses im öffentlichen Raum. Zugleich unterstützt die Gestaltung des öffentlichen Raums in Großwohnsiedlungen die eigentlich dringend benötigten Begegnungen zwischen Menschen zu wenig.
In den Quartieren finden sich wenig alltägliche Anlässe für Menschen, sich tatsächlich zu begegnen. Gleichzeitig sind diese Anlässe nur selten auch mit Orten verknüpft, die Aufenthalt und Austausch ermöglichen. Straßenbahnhaltestellen beispielsweise liegen in den Quartieren häufig isoliert im Straßenraum. Selten haben sich an diesen Transitorten Kioske oder Imbisse angesiedelt, die die eigentlich sehr belebten Orte funktional ergänzen würden. Die ursprünglich vorgesehenen Stadtteilzentren funktionieren nur noch an wenigen Orten, so etwa in Cottbus-Sandow. Hier findet sich ein gelungenes Beispiel für das Zusammenspiel von Alt und Neu mit gebrauchsorientierter freiraumplanerischer Gestaltung und sinnvoller städtebaulicher Ausrichtung. Häufiger jedoch wurde das räumliche Gefüge der Stadtteilzentren, und damit auch die potenzielle funktionale Mischung, im Zuge von Abrissmaßnahmen beeinträchtigt. Großmaßstäbliche bauliche Ergänzungen mit Supermärkten oder neuen Einkaufszentren stehen häufig nicht im städtebaulichen Zusammenhang, ihre Ausrichtung auf Parkplätze und gute Erreichbarkeit mit dem Pkw erschwert zudem die Ausbildung attraktiver Orte. So kehrt in Halle-Neustadt „Am Treff“ ein neues Einkaufszentrum der bestehenden Fußgängerzone eine geschlossene Fassade zu, womit die Chance zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität des bestehenden Fußgängerbereichs nicht genutzt wurde. Die Wiederbelebung und Aufwertung dieser Zentren kann deshalb ein wichtiger Baustein sein, zum einen das Versorgungsangebot wieder vielfältiger, kleinteiliger und damit auch attraktiver zu machen und zum anderen zumindest an einigen Stellen in den Quartieren alltagsweltliche Begegnungsorte im menschlichen Maßstab zu schaffen.
Neben funktionierenden Zentren fehlt es auch an nutzbaren Freiräumen. Trotz des generell großen Freiflächenangebots ist ein Mangel an gestalterisch und funktional offenen Räumen und Grünflächen zu erkennen, die Bewohner*innen zur Nutzung und Aneignung einladen: Es fehlen beispielsweise Sitzplätze in Nähe der Gebäude, Aufenthaltsmöglichkeiten auf den Vorplätzen der Supermärkte oder Dienstleistungsgebäude oder Picknickplätze in den Parks, die von allen genutzt werden können. Zwar bestehen spezifische Angebote für Kinder oder Sportinteressierte, und viele Vereine und Initiativen bespielen auch einzelne Räume im Rahmen ihrer zielgruppenspezifischen Unterstützungs-, Bildungs- oder Freizeitangebote im Quartier (z. B. Bauspielplatz, Gemeinschaftsgarten). Diese Betreuung einzelner Freiräume ist jedoch von Kümmerern und Fördergeldern abhängig. Eine langfristige Perspektive wird damit erschwert. Spezifische zielgruppenorientierte Angebote schließen gleichzeitig andere Nutzer*innen und Nutzungen aus. Diese an sich natürlich wertvollen Angebote können den Mangel an geeigneten alltagsweltlichen Begegnungsorten und Anlässen, wie etwa den Besuch am Obst- und Gemüsestand, am Eiswagen oder dem nachbarschaftlichen Treffpunkt im Hof oder vorm Haus, nicht vollends ausgleichen.
Der individuellen oder auch gemeinschaftlichen Aneignung der Grünflächen sind verschiedene Grenzen ge-setzt. Auf den Balkonen, teilweise auch an den Eingangsbereichen der Gebäude oder in zum Teil vorhandenen Mietergärten in den Quartieren erkennt man den Wunsch vieler Bewohner*innen sich Räume anzueignen, indem sie funktional und gestalterisch den eigenen Vorstellungen angepasst werden. Im größeren Stil ist dies kaum möglich. Selbst die wohnungsnahen Grünflächen sind sehr groß, wenig strukturiert und es ist nicht einfach ersichtlich, wem die Flächen eigentlich gehören und wer entsprechend Ansprechpartner für eine aktive Nutzung und mögliche Gestaltung wäre. Es gibt einige, allerdings häufig von der Stadtverwaltung oder den in den Gebieten aktiven Institutionen initiierten und betreuten Gemeinschaftsgärten. Solche Gärten haben im Grundsatz das Potenzial, Menschen zusammenzubringen und zugleich das Wohnumfeld und dem Lebensalltag der Bewohner*innen der Quartiere aufzuwerten. Das Gärtnern kennen viele Menschen aus ihrer Kindheit, ihren Herkunftsländern oder sie begeistern sich einfach fürs Selbermachen oder wünschen sich Zugang zu frischen, lokal erzeugten, vielleicht auch speziellen oder preiswerten Lebensmitteln. Die gemeinsame Arbeit im Garten wird entsprechend positiv gesehen.
Während derartige Gärten in anderen Quartierstypen fast schon zum städtebaulichen Repertoire gehören, gab es bisher kaum erfolgreiche Bottom-up-Initiativen aus der Bewohnerschaft von Großwohnsiedlungen, wenngleich der Wunsch danach häufiger geäußert wird. Neben den wenig förderlichen räumlichen Bedingungen sind es sicher auch fehlende Vernetzungsmöglichkeiten und institutionelle Hürden, beispielsweise auf Flächeneigentümer oder die Stadtverwaltung zuzugehen. Hier könnten konkrete Aktionen zur Aktivierung und Selbstermächtigung unterstützen.