28. November | 2022

Arbeiterviertel oder Bionade-Biedermeier? Wie Authentizitätsvorstellungen den Umgang mit städtischem Bauerbe prägen

Welche Teile des Gebäudebestandes einer Stadt als authentisch, aussagekräftig und erhaltenswert gelten, sagt viel über die aktuell geltenden Wertvorstellungen und diskursiven Aushandlungen einer Stadtgesellschaft aus. Das Projekt „Urban Authenticity“ erforscht, wie ab den 1970er-Jahren das Bauerbe europäischer Städte auf diese Weise „authentisiert“ wurde. Durch visuelle und auditive Onlinemedien macht es die Prozesse auch für eine breite Öffentlichkeit erlebbar – beispielsweise mit einem Audiowalk durch Berlin-Prenzlauer Berg.

Gebäude sind das Kleid einer Stadt. Sie geben Orientierung, sind identitätsstiftend und geben dem urbanen Raum eine bestimmte Atmosphäre. Jüngste Debatten um das Humboldt Forum im rekonstruierten Berliner Schloss, den bedrohten Abriss des DDR-Sport- und Erholungszentrum (SEZ) in Berlin oder um die Rekonstruktion der Potsdamer Garnisonkirche zeigen, wie unterschiedlich die Vorstellung einer Stadtgesellschaft sind, wie ein Stadtzentrum auszusehen hat und welche Baustile, Epochen und Zeitschichten repräsentiert werden sollen. Im Verbundprojekt „Urban Authenticity: Creating, Contesting, and Visualising the Built Heritage in European Cities since the 1970s“ (UrbAuth) untersuchen mehrere Forschungseinrichtungen gemeinsam, wie seit den 1970er-Jahren in europäischen Stadtgesellschaften bestimmte Teile des Bauerbes „authentisiert“ und damit in Wert gesetzt wurden – über öffentliche Debatten und über die Praktiken von Bürgerinitiativen, Stadtverwaltungen und weiteren Akteuren. Die Frage nach urbaner Authentizität wird anhand von vier Fallbeispielen erforscht: Szczecin (Polen), Potsdam (DDR), Nürnberg (Bundesrepublik) und Marseille (Frankreich). Alle Teilprojekte erarbeiten übergreifend eine Website zu Authentisierungsprozessen mit einem Fokus auf die Region Berlin-Brandenburg.

Die Frage der Authentizität als scheinbar „echte“, „reine“ und „wahre“ Eigenschaft von Dingen ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen öffentlichen Diskurs geworden. Als Authentisierung werden Diskurse und Praktiken begriffen, die im Rahmen eines wissenschaftlichen, denkmalpflegerischen, aber auch stadtgesellschaftlichen Wertekanons bestimmte Objekte als bedeutend einstufen und als bewahrenswert identifizieren. Als authentisch gilt, was als authentisch wahrgenommen wird – unabhängig davon, ob ein Gebäude wie im Berliner Nikolaiviertel seit Jahrhunderten unverrückbar tatsächlich an derselben Stelle steht (Knoblauchhaus), künstlich als historische Attrappe nachgebaut wurde (Gasthaus „Zum Nußbaum“) oder an eine neue Stelle verlegt wurde (Ephraim-Palais). Authentisierungsprozesse spiegeln daher Diskurse in städtischen Gesellschaften wider. Sie beinhalten den Abriss von umstrittenen Orten, die Inszenierung von Sehenswürdigkeiten, die Rekonstruktion abgerissener Orte, das desinteressierte Verfallen lassen oder die bewusste Inszenierung eines historischen Gebäudes mit Flecken und Rissen. Im Kern geht es dabei um die Frage, wie eine Stadt aussehen soll und welches Bauerbe in einer bestimmten Epoche in Wert gesetzt, ignoriert oder umstritten ist.

„Urban Authenticity“ online: Bauerbe sehen, hören und erlaufen

Das Projekt „Urban Authenticity“ macht seine Forschungen nicht nur über Fachpublikationen öffentlich, sondern auch im Internet. Die Vielseitigkeit der Diskussionen um das Bauerbe, speziell mit Blick auf Berlin-Brandenburg, ist online sichtbar und hörbar. Beispielsweise zeigt der Museumsverband Brandenburg in einer Online-Ausstellung 27 Objekte zur urbanen Authentizität in Brandenburg. In Planung befindet sich zurzeit eine interaktive Website mit Karte und einer thematischen Aufbereitung von Authentisierungsprozessen in der Region Berlin-Brandenburg mit weiteren Beispielen aus Deutschland, Polen und Frankreich. Auf dem Portal Guidemate (guidemate.com) werden außerdem zwei Audiowalks veröffentlicht und stehen kostenlos im Webbrowser oder in der Guide­mate-App zur Verfügung. Entlang vorgegebener Spazier-Routen können Nutzer*innen damit einen Stadtteil erlaufen und bekommen, wie bei einem Audioguide im Museum, Hintergrundinformationen zu den Gebäuden, die ihnen unterwegs begegnen.

Original, echt, authentisch? Eine Spurensuche in Berlin-Prenzlauer Berg

Der Hörspaziergang „Original, echt, authentisch? Eine Spurensuche in Berlin-Prenzlauer Berg“ beschreibt anhand von sechs verschiedenen Schauplätzen der Geschichte vom
19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, was als authentisch für den Prenzlauer Berg gehalten wurde oder immer noch als echt für den Kiez gilt. Verschiedene Facetten der Authentisierung werden im Rahmen der eineinhalbstündigen Kiez-Tour vom Mauerpark bis zum Wasserturmplatz deutlich: In der Oderberger Straße wird auf die Rolle von Bürgerinitiativen in der DDR zur Sanierung von Altbaubestand hingewiesen, in der Kastanienallee 77 auf die Rolle von Hausbesetzerinnen und Künstlern seit den 1990er-Jahren aufmerksam gemacht und in der Oderberger Straße 2 der Gentrifizierungsprozess in den letzten 30 Jahren aufgezeigt. Die Station zur Husemannstraße weist auf die zahlreichen Projekte zur historischen Rekonstruktion in der DDR in den 1980er-Jahren hin und der sogenannte „Judengang“ auf die Geschichte der jüdischen Bevölkerung zwischen Ausgrenzung und Assimilation. Die letzte Station zum Wasserturm zeigt die Entwicklung von einem Industriegelände, frühen Konzentrationslager in der NS-Zeit bis zur heutigen Nutzung als Grünanlage auf. Deutlich wird, dass es ganz verschiedene Facetten von Authentisierung und Assoziationen zum Prenzlauer Berg gibt.

Was ist der Prenzlauer Berg: ein „Bionade-Biedermeier“-Szenekiez, ein Ar­beiterviertel, ein Viertel für Künstler*innen und Oppositionelle oder ein bürgerliches Viertel? Was wäre der heutige Prenzlauer Berg in einem Geräusch zusammengefasst? Das Rollen von Kinderwägen, die Musik im Mauerpark oder das Geräusch der U-Bahn im U-Bahnhof Eberswalder Straße?

Die IRS-Wissenschaftler*innen Julia Wigger, Daniel Hadwiger und Małgor-zata Popiołek-Roßkamp erar­beiteten den Audiowalk in Zusammenarbeit mit der Vereinigung „Audiokombinat“, dem Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung Potsdam (ZZF) und mit finanzieller Unterstützung durch den Leibniz-Forschungsverbund „Historische Authentizität“. Der Austausch mit parallel produzierten Audiowalks durch andere Leibniz-Institute zur historischen Authentizität in Berlin, Potsdam, Marburg, Frankfurt am Main und Leipzig sowie die professionelle Betreuung durch die Vereinigung Audiokombinat erleichterten die Produktion in diesem neuen Format erheblich.

Das Verbundprojekt „Urban Authenticity: Creating, Contesting, and Visualising the Built Heritage in European Cities since the 1970s“ wird von der Leibniz-Gemeinschaft gefördert und läuft von 2020 bis 2024. Die Leitung liegt bei Christoph Bernhardt (IRS). Beteiligt sind neben dem IRS das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ), das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung (HI) in Marburg und der Museumsverband Brandenburg.

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