06. September | 2023

Architektur im Archiv. Vom Sammeln – und Entsammeln

54. Brandenburger Regionalgespräch

In Berlin und Brandenburg gibt es ganz unterschiedliche Archive, Museen sowie öffentliche und private Sammlungen, die architekturgeschichtliche Quellen bewahren. Hierzu gehören Akten, Zeichnungen, Modelle, Fotos und Schriftwechsel, die im gesetzlichen oder eigenen Auftrag bewertet, übernommen, erschlossen und gepflegt werden. In der deutschen Hauptstadtregion herrscht eine bundesweit einmalige Dichte an entsprechenden Einrichtungen, die sich insbesondere im Rahmen der Föderation deutschsprachiger Architektursammlungen austauschen. Angesichts knapper räumlicher, personeller und finanzieller Ressourcen und auch mit Blick auf eine umweltschonende Praxis zeigt sich immer mehr: Die Notwendigkeit eines abgestimmten und nachhaltigen Sammelns nimmt zu. Künftig werden daher Übernahmeangebote kritischer zu bewerten sein. Das gilt auch für schon erschlossene Sammlungen – bis hin zur nachträglichen Vernichtung von Quellen, die mit zeitlicher Distanz inzwischen als entbehrlich erscheinen.

Das 54. Brandenburger Regionalgespräch nimmt dieses Thema auf und behandelt Fragen wie:

  • Nach welchen Kriterien sollten Aussonderungen (im Vor- oder Nachhinein) erfolgen?
  • Muss (nicht nur) das architekturbezogene Sammeln noch stärker im Verbund abgestimmt werden?
  • Sind rein digital entstandene Architekturentwürfe und -unterlagen aus der jüngeren Zeit die Lösung für zumindest manche Ressourcenprobleme – oder entstehen im Hinblick auf ihre Übernahme ganz neue, noch nicht gelöste Herausforderungen?

Zusammenfassung der Veranstaltung von Dr. Kai Drewes

Architektur im Archiv. Vom Sammeln – und Entsammeln

Am 6. September 2023 veranstaltete das IRS ein gut besuchtes 54. Brandenburger Regionalgespräch zum Thema „Architektur im Archiv. Vom Sammeln – und Entsammeln“. Anlass für die Beschäftigung mit Aussonderungen in Architekturarchiven gab der überall zu spürende Problemdruck angesichts knapper werdender räumlicher, personeller und finanzieller Ressourcen. Es gab drei externe und zwei IRS-Statements aus den Wissenschaftlichen Sammlungen.

Dieter Nägelke (Architekturmuseum der TU Berlin) berichtete zunächst als Sprecher der Föderation deutschsprachiger Architektursammlungen, die Diskussionen in diesem bewährten fachlichen Netzwerk hätten sich verschoben: von Erfolgsmeldungen im Hinblick auf Zuwächse hin zur Schilderung von Herausforderungen. Er machte in heiterer Form sechs sehr verschiedene Typen von professionell Sammelnden aus und stellte fest, Sammlungen würden allenthalben mit den Grenzen ihres Tuns konfrontiert, weshalb Sammeln und Entsammelnuntrennbar zusammengehörten.

Anschließend führte Andreas Matschenz (Kartenabteilung des Landesarchivs Berlin) in die Genese einschlägiger Bestände in seinem Haus ein und gab einen Überblick über die regelbasierte Kassation im zumal staatlichen Archivwesen, ausgehend vom jeweiligen Dokumentationsprofil und auf der Grundlage des archivwissenschaftlichen Diskurses. Bewertungsentscheidungen sollten am besten möglichst früh getroffen werden, im Prozess der Übernahme, da Aussonderungen nachträglich kaum zu leisten seien. Dennoch seien spätere Feinbewertungen immer einmal wieder angebracht, so bei Mehrfachüberlieferungen.

Amrei Buchholz (Baukunstarchiv der Akademie der Künste, Berlin) sprach über die zunehmende Bedeutung des Themas Kassation auch für das große Archiv der AdK mit seinen verschiedenen Spezialabteilungen für die verschiedenen Künste. Derzeit würden in Kooperation mit der FH Potsdam (in Form einer Masterarbeit eines Archivmitarbeiters) Kassationsrichtlinien entwickelt, die die bestehenden Bewertungsrichtlinien ergänzen sollen, um in der Folge Ressourcen frei machen zu können. Leider schaffe die Digitalisierung letztlich keine Entlastung. Wichtig sei der Austausch mit den Bestandsbildner*innen.

Für das IRS berichtete zunächst Kai Drewes über die besonderen Ausgangsbedingungen, u.a. hinsichtlich vieler Unterlagen zur DDR-Architekturgeschichte, die verloren gegangen seien. Im IRS werde vergleichsweise breit und umfassend gesammelt, was viele Nutzende schätzten, und anfangs sei man froh über alles Angebotene gewesen. Zunehmend stelle sich aber die Herausforderung, dass immer größere Bestände angeboten würden, während es zugleich (wie fast überall) einen Rückstau bei der Erschließung gebe. Es sei elementar, sich der Probleme anzunehmen und z.B. buchartige Materialien stärker als bislang auszusondern, auch das Sammlungsprofil nicht ungebremst auszudehnen, zugleich die schon vorhandenen Bestände noch stärker in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen.

Rita Gudermann (IRS) berichtete über Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und des Datenhostings am Beispiel des von ihr geleiteten Projekts zur Verbesserung der digitalen Infrastruktur der Wissenschaftlichen Sammlungen und der zeithistorischen Forschung am IRS. Im Hinblick auf zunehmend mehrfach vorhandene digitale Objekte könnten künftig womöglich KI-Verfahren helfen, Bereinigungen vorzunehmen. Allerdings seien unbeabsichtigte Datenlöschungen und nicht zuletzt die leider zunehmendenCyberangriffe auf öffentliche Einrichtungen eine Problematik, die anders herum durchaus für durchdachte zusätzliche Datensicherungen sprechen könnte.

Hinsichtlich seiner eigenen Einrichtung gab Dieter Nägelke einen Überblick über die traditions- und windungsreiche Geschichte des Sammelns von Materialien zur Architekturgeschichte an der heutigen TU Berlin und die Grundlagen und Ziele des umfassenden Museumsprojekts zum Scannen und Verfügbarmachen möglichst aller Bestände im Internet (u.a. auch aus Gründen des Bestandsschutzes). Trotz einer Verkleinerung des Sammelgebiets wüchsen die Bestände weiter an, Architekt*innen müssten daher zunehmend schon vorab eine Auswahl aus ihren eigenen Unterlagen treffen. Diskutiert werden müsse aber auch, ob die TU-Digitalisate mit ihrem „Faksimileanspruch“ zumindest manche (jüngere, weniger wichtige) Originale überflüssig machten.

Anhang der Inputs und in den Diskussionen wurde deutlich, dass bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Einrichtungen grundsätzlich ähnliche Herausforderungen bestehen und es darum gehen muss, die Handlungsfähigkeit der Archive und Sammlungen zu bewahren. Äußerst hilfreich ist immer wieder der ehrliche Austausch zwischen den Einrichtungen selbst etwa über Kassationskriterien und den Umgang mit Bestandsbildner*innen wie auch die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Verfahren. Ebenso wichtig ist der Dialog mit denen, deren Bestände übernommen werden, wie auch mit solchen, die sie beforschen.

Denn wichtig ist immer wieder die Frage, für welche Ziele und Nutzungsszenarien gesammelt wird. Neben der unverzichtbaren Vernetzung der Archive selbst (bisweilen auch, um Bestände untereinander abzugeben) erscheint es wichtig, hinsichtlich der aufgezeigten Herausforderungen Lobbyarbeit zu betreiben, angefangen mit den eigenen Leitungsebenen und Stakeholdern bis hin zu Politik, Medien und Öffentlichkeit. Bei alledem besteht das Dilemma, dass stets Ressourcen eingesetzt werden müssen, um in der Folge Ressourcen einsparen zu können: Entsammeln ist nicht weniger wichtig und nicht weniger zeitintensiv als Sammeln.


Die einzelnen Statements

Überlegungen zum Entjagen und Entsammeln in den Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS

Die Wissenschaftlichen Sammlungen des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner sind das wichtigste Spezialarchiv für die Bau- und Planungsgeschichte der DDR. Begründet in der Umbruchphase ab 1990, umfassen sie mittlerweile ca. 1000 laufende Meter an analogem Archiv- und Sammlungsgut (Zeichnungen/Karten/Pläne, Schriftgut, Fotomaterialien, Modelle u.a.m.), hinzukommen viele digitale Ressourcen. Die Sammlungen werden breit genutzt, verfügen über ein starkes Netzwerk unter Zeitzeug*innen, Forschenden und anderen Kultureinrichtungen, betreiben engagierte Vermittlungsarbeit und sind nicht zuletzt mit den Jahren stetig gewachsen, zuletzt noch einmal stark zunehmend. Digitalisierung als archivisches Querschnittsthema spielt auch im IRS eine große Rolle.

Zu den besonderen Ausgangsbedingungen im IRS gehört der Umstand, dass das Sammeln einschlägiger Materialien nichtstaatlicher Herkunft hier ausgesprochen aktiv, forschungsnah und nach freiem Ermessen erfolgt, begleitet von einem eigenen Fachbeirat. Für die Wissenschaftlichen Sammlungen gelten nicht die Archivgesetze von Bund oder Land, da das Institut von seiner Rechtsform her ein eingetragener Verein ist. Besonders ist auch, dass zur Wendezeit und danach viele Quellen zur DDR-Architekturgeschichte unwiederbringlich verloren gegangen sind, woraus sich eine Mission und Verantwortung für das IRS ableitet. Damit korrespondiert, dass die Bestandsbildner*innen in aller Regel möchten, dass ihre Unterlagen unkompliziert und rasch genutzt werden können.

Die Wissenschaftlichen Sammlungen haben schon mehrere Umbrüche erlebt. So konnte der stetig gewachsenen Bedeutung digitaler Aspekte dadurch Rechnung getragen werden, dass mit Hilfe eines Sondertatbestands seit 2020 ein eigener, vielversprechender Bereich „Digital History“ aufgebaut und etabliert werden konnte, was sich jetzt auch in einem entsprechend erweiterten Namen der Organisationseinheit niederschlägt. Allerdings bestehen jetzt oder absehbar einige grundlegende Herausforderungen, die es notwendig machen, das künftige Sammlungskonzept bzw. Sammelprofil im IRS grundsätzlich zu durchdenken und ggf. in Teilen anders auszurichten. So stoßen die Sammlungen in ihrem Magazinbereich räumlich zusehends an Grenzen, und auch andere Ressourcen werden tendenziell knapper, während Aufgaben und Anforderungen kontinuierlich angewachsen sind. Bei alledem besteht wie in vielen Archiven ein unerfreulicher Erschließungsrückstand. Wichtig bleibt andersherum die – noch nicht abschließend zu beantwortende – Frage, wie viele einschlägige Bestände es auf dem Gebiet der ostdeutschen Bau- und Planungsgeschichte (mit einem Schwerpunkt auf der DDR-Zeit und der anschließenden Transformationszeit) noch in Privatbesitz gibt und ob im Übrigen eine substanzielle Ausweitung des Sammelprofils sinnvoll und realisierbar wäre.

Um diesen und weiteren Herausforderungen zu begegnen, wird nicht eine Maßnahme allein genügen. In jedem Fall wird aus mehr als einem Grund der Archivbestand nicht weiterhin ungebremst wachsen können, sondern es wird ein weniger aktives und stattdessen selektiveres und planvolleres Sammeln und zugleich eine Konzentration auf Bestandsarbeit in dem Sinn Platz greifen müssen, dass die schon vorhandenen Nachlässe usw. durch verschiedene Bearbeitungsschritte noch besser in Wert gesetzt und auch verdichtet werden. Dies schließt Nachkassationen ausdrücklich mit ein, wofür spezifische Kriterien zu entwickeln sind, auch Abgaben einzelner (Teil-)Bestände an andere Einrichtungen dürfen kein Tabuthema sein. Ein strittiger, aber zu diskutierender Punkt ist ferner die Frage, ob unter bestimmten Voraussetzungen einmal retrodigitalisierte Objekte wie z.B. Dias entsorgt werden können. Eine Erweiterung des IRS-Dokumentationsprofils hinsichtlich bereits digital entstandener Architekturunterlagen und letztlich bis in die Jetztzeit erscheint derzeit aus verschiedenen Gründen nur pilotweise möglich, und es sollte hierfür von vornherein auf Lösungen im Verbund gesetzt werden, wie auch ansonsten der Austausch mit Partnereinrichtungen beim Entsammeln genauso wesentlich ist wie beim Sammeln.

Um den bestehenden Herausforderungen zu begegnen, sind also verschiedene Maßnahmen notwendig, die jeweils voraussetzungsvoll sind. Letztlich ist strukturiertes Entsammeln kaum weniger zeitintensiv als intensives Sammeln.

Kai Drewes, IRS Erkner, Leiter des Bereichs Digital History / Wissenschaftliche Sammlungen

Tabu oder Segen – darf und kann Digitalisierung Archive vor dem Kollaps bewahren?

Als das Architekturmuseum vor nunmehr zwanzig Jahren ankündigte, seine Bestände (damals 80.000 Zeichnungen, Drucke und Fotografien) komplett digitalisieren zu wollen, fehlte es nicht an kritischen Stimmen. Einige hielten es für technisch überambitioniert, andere bezweifelten den Sinn, alles - wirklich alles! - digital zu erfassen und online zu stellen.

Die Kritik ist inzwischen verstummt, der wissenschaftliche und populäre Nutzen der längst abgeschlossenen Kampagne offensichtlich und auch (daten-)technisch gab es bisher noch keine Probleme. Die Ziele von 2003 sind erreicht, wurden und werden durch die kontinuierliche Erfassung der Neuzugänge fortgeschrieben: Verbesserte Zugänglichkeit von Metadaten und Abbildungen, Schonung der Originale durch verminderten Zugriff und Langzeitsicherung durch das digitale Duplikat. Inzwischen hat sich der Sammlungsbestand mehr als verdoppelt und auch online sind aktuell mehr als 160.000 Objekte verfügbar.

Freilich zeigt diese Zahl auch, worunter die meisten Archive und Sammlungen zunehmend leiden: Wachstum. Angesichts der unübersehbaren Wachstumsgrenzen in allen Lebensbereichen gerät auch diese vermeintliche kulturelle Selbstverständlichkeit des Aufhäufens und Aufhebens ins Wanken - und damit zugleich die Zwangsläufigkeit, in immer kürzeren Abständen mehr Ressourcen dafür zu beanspruchen.

Kann Digitalisierung diesen Konflikt lösen oder wenigstens mildern? Für das Architekturmuseum ist offensichtlich, das große Bestandsgruppen insbesondere seit ihrer Digitalisierung nicht mehr analog benutzt werden: Technische Zeichnungen, Bestandsfotografien oder Lichtpausen. Können die jetzt also weg? Oder würden damit archivische Grundsätze leichtfertig über Bord geworfen werden, um am Ende die Grenzen des Wachstums lediglich in den digitalen Raum zu verdrängen, statt ihnen ins Gesicht zu schauen?

Dr. Hans-Dieter Nägelke, Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin

Ist das Baukunst oder kann das weg? – Herausforderungen bei der Entwicklung von Kassationsrichtlinien für das Baukunstarchiv der Akademie der Künste, Berlin

Die Auswahl nicht-archivwürdigen Materials ist nicht allein wegen der anzulegenden inhaltlichen Kriterien eine komplexe Aufgabe, sondern nicht minder aufgrund personeller und finanzieller Ressourcenknappheit im Archiv. Durch den kurzfristig hohen Arbeitsaufwand des Kassationsprozesses in Architekturarchiven scheint in der Praxis die positive Bewertung auf den ersten, stark verkürzten Blick häufig ressourcenschonender als das Nicht-Überliefern. Dieses 
(Vor-)Urteil ist im Baukunstarchiv auch auf fehlende Kassationsrichtlinien zurückzuführen, die bei der Bewertung unterstützen könnten. Institutionell werden solche Richtlinien zwar grundsätzlich begrüßt, sind trotz mehrerer Anläufe aber bislang noch nicht verabschiedet worden. Ein konkreter Entwurf für eine verbindliche Regelung entsteht nun im Zuge einer studentischen Abschlussarbeit, die von der FH Potsdam und dem Baukunstarchiv gemeinsam betreut wird.

Den Kassationsrichtlinien stehen inhaltliche Kriterien für die positive Bewertung inArchitekturarchiven gegenüber, wie sie u. a. Eva-Maria Barkhofen, Leiterin des Baukunstarchivs bis 2019, formuliert hat. Als essentiellen Faktor nennt Barkhofen die Bedeutung des infrage stehenden Materials für den Sammlungsauftrag (Barkhofen: Architektenarchive bewerten, 2019). Im Falle des Baukunstarchivs handelt es sich hierbei um eine auf Architektur bezogene, explizit künstlerische Überlieferung, die einen Bezug zur Berliner Baukunstgeschichte und/oder zu den Mitgliedern der Sektion Baukunst an der Akademie der Künste aufweist. 

In diesem Kriterium für die Übernahme liegt zugleich aber auch eine entscheidende Schwierigkeit begründet, um Kassationsprozesse im Baukunstarchiv anzustoßen. Denn es stellt sich die zur Floskel verschliffene Frage ganz buchstäblich: Ist das (Bau-)Kunst – oder kann das weg? Das Kassieren – ebenso wie das Nach-Kassieren bzw. Entsammeln – ist also mit der in hohem Maße ideologisch aufgeladenen Problematik verbunden, dass in diesem Prozess künstlerische Werke beurteilt werden müssen. Ein diesbezügliches Qualitätsurteil ist subjektiv und leicht anfechtbar. In der Praxis wurde und wird die Beantwortung dieser Frage vielfach umgangen und stattdessen bei der grundsätzlichen Befürwortung einer Bestandsübernahme nahezu alles Angebotene überliefert. Dabei kann der künstlerische Sammlungsschwerpunkt durchaus mit wirksamen Kriterien für dieAussonderung aufbieten – etwa die Aussagekraft des zu bewertenden Materials hinsichtlich spezifischer kunst- und baubezogener Themenfelder, künstlerischer Praktiken oder der Rezeptionsgeschichte in Kunst und Wissenschaft. In meinem Statement werde ich genauer auf diese und andere Kriterien eingehen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Kassationsentscheidungen in künstlerischen Kontexten nicht ohne einen (zeit-)intensiven Austausch mit u. a. kunsthistorischen, baufachlichen und denkmalpflegerischen Expert*innen auskommen und immer auch individuell am jeweiligen Bestand ausgerichtet sein sollten und sein werden. Kassationsrichtlinien können in diesem Zusammenhang aber helfen, rahmende Leitfragen zu entwerfen. Sie scheinen insbesondere angesichts der auf die Architektursammlungen in immer höherem Maße einströmenden, enormen digitalen Datenmengen geboten, denn ihre Bewertung wirft keineswegs allein technische, sondern ebenso quantitative und qualitative Fragen auf. Kassationsrichtlinien unterstützen hier nicht zuletztdabei, Bestandsbildner*innen schon im Vorfeld des Übernahmeprozesses aktiv und zielführend bei der Aussonderung zu beraten.

Dr. Amrei Buchholz, Baukunstarchiv, Akademie der Künste, Berlin

Entsammeln auf einen Klick: Digitalisieren, Erschließen und dann Löschen? Datenhygiene im Archiv

Fast alle Archive ächzen unter der Fülle der ihnen überlassenen Materialien. Sie kommen mit den Aufgaben des Erschließens und Digitalisierens nicht hinterher, oft stapeln sich Umzugskartons, Mappen und Karten, Diakisten und Disketten im Keller. Kein Zweifel: Das sind ungehobene kulturelle Schätze, für die die Nachwelt einmal sehr dankbar sein wird. Was aber, wenn der Platz im Archiv irgendwann einfach nicht mehr ausreicht?

Vielen gilt die Digitalisierung als Lösung des Platzproblems der Archive. Doch auch die Digitalisierung ist leider kein Allheilmittel. Zum einen erfordert das Scannen und nachfolgende Erschließen der Digitalisate mit Metadaten einen enormen Einsatz von Personal und finanziellen Mitteln. Zum anderen sind irgendwann auch die Festplatten zum Bersten voll mit Daten. Denn auch wenn sich die Speicherkapazitäten in den letzten Jahren und Jahrzehnten exponentiell vergrößert haben, so gilt dies doch zugleich für die Datenmengen. Und was, wenn Speichermedien schon jetzt mit der vorhandenen Technik nicht mehr lesbar sind? Wenn nicht mehr klar ist, ob Datensätze einzigartig und wertvoll, oder aber nur Doubletten sind? Mit etwas anderen Vorzeichen stellt sich daher das Problem der Überfülle und der notwendigen Kuratierung auch für den digitalen Teil der Archive.

Die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS haben in den vergangenen Jahren viel Aufwand darauf verwendet, eine moderne digitale Infrastruktur aufzubauen. Zigtausende der archivalischen 'Verzeichnungseinheiten', in IT-Sprech 'Assets' genannt, sind nun auch digital zugänglich, durchsuch- und bestellbar. Zugleich wurde versucht, ein Procedere zu entwickeln, das es erlaubt, sowohl den digitalen Altbestand als auch die neu generierten Digitalisate in einem geordneten Prozess verschiedenen Datenbanken einzuverleiben. Unentbehrlich istdabei, eine klare Definition und Priorisierung der zu scannenden Bestände zu erarbeiten und bei der Digitalisierung durchaus selektiv vorzugehen.

Ein wichtiger Schritt ist auch die Bestandsaufnahme des Vorhandenen. Dabei stellen die klassischen Archivinformationssysteme ein wichtiges Hilfsmittel dar. Nicht selten fällt erst durch das Zusammentragen der auf verschiedensten Medien über Jahre gesammelten Dateien auf, wo es Wildwuchs und Dopplungen gibt. Hier fällt das Kuratieren leicht, und überflüssige Daten können mit einem Klick gelöscht werden. Mühsamer wird es, wenn Datensätze einzeln abgeglichen werden müssen. Zu den Grundsätzen der Datenhygiene gehört es schließlich, Daten nicht-redundant vorzuhalten, also sogenannte 'Single-Sources-of-Truth' (SSOT) vorzuhalten, in denen die Archivalien selbst, aber auch ihnen zugeordnete Informationen wie Personendaten, Stichwortlisten, Geodaten etc. vorgehalten werden. Doch auch hierfür gibt es technische Hilfsmittel.

Die endlich bereinigten und mühsam neu geschaffenen Datensätze wird man eher selten löschen, sondern vielmehr schützen wollen. Hierzu bietet sich nicht nur die klassische Langzeitarchivierung an, sondern es muss auch dafür gesorgt werden, dass der technische Zugriff auf die Daten auch nach Jahrzehnten noch möglich ist. Eine der Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen, sind inkrementelle Technik-Upgrades: Daten werden, wann immer signifikante Änderungen bei Hard- oder Software vorgenommen werden, in die neuen Systeme überspielt und so lebendig gehalten. Doch nicht nur die Daten selbst, sondern auch die Metadaten sind schützenswert und sollten in die Backup-Prozesse einbezogen werden, etwa Stichwortlisten, Thesauri, Nutzungsdaten etc.

Schließlich ist es sinnvoll, auch die Genese der Assets und ihrer Metadaten zu dokumentieren, etwa den Übergang zu neuen Nummernkreisen und Normdatensystemen oder die datenbankweite Ersetzung von Begriffen. Denn mit den 'Single-Sources-of-Truth' wächst auch die Gefahr der unbeabsichtigten oder gar böswilligen Löschung von Archivinformationen. Daher erscheint eine hybride Vorgehensweise bei der Datensicherung und -kuratierung sinnvoll, also das Vorhalten analoger wie digitaler Assets und Findmittel, die flache wie die tiefe Erschließung, das Nebeneinander von kontrollierten wie von freienVokabularen, die beherzte Kassation wie auch die mehrfache Datensicherung. Backups und Datenbank-Logs werden so zu einem wichtigen Dokument und Hilfsmittel für die digitale Archivarbeit von morgen.

Dr. Rita Gudermann, Projektleiterin Digitale Infrastruktur der Historischen Forschungsstelle/Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS

Aus dem Archeion ins Archiv: analoge und digitale Wege bauhistorischer Quellen ins Landesarchiv Berlin

ARCHIV_

Der Titel postuliert eine grundsätzliche archivische und archivarische Sicht auf das Thema des Regionalgesprächs: die Verpflichtung und Praxis zur Wahrung staatlicher Interessen auf gesetzlicher Grundlage (national/kommunal) von der Bewertung, Übernahme, Erschließung bis zur Bereitstellung von Archivgut in der jeweiligen Zuständigkeit der Archive. 

Zu unserem Thema ist hier die Frage der Bewertung von besonderem Interesse: in staatlichen Archiven wird sie bestimmt von theoretischen archivwissenschaftlichen Grundsätzen, vonsog. Bewertungskonzeptionen und -katalogen, Dokumentationsprofilen u.a. Hilfsmitteln vor Ort. Auf dieser Grundlage werden Bewertungsentscheidungen getroffen (bzw. sollten sie getroffen werden). Damit werden schon vorab rationale Kriterien für die Auswahl von potentiellem Archivgut (in jedweder Quellenform) angelegt, um aus den fiktiven 100 Prozent des sog. Registraturguts ca. 5 Prozent Archivgut als historisch bedeutsam auszuwählen(unabhängig von der historischen Papier- oder der künftigen digitalen Überlieferungsform, Stichwort „born digitals“).

Das hier thematisierte „Entsammeln“ ist insofern aus archivischer Perspektive terminologisch ungenau: es geht in der Regel nicht um sammeln, sondern um strukturierte Übernahmen von Behörden, s.o. Vielmehr ist es ein essentieller Teil des archivischen Arbeitsprozesses: wir kassieren, so der archivische Terminus technicus („entsammeln“), regelkonform undregelmäßig oder lassen kassieren. 

Die Fragestellung in diesem Workshop bezieht sich indes auch auf eine retrospektive Bewertung von Archiv- und/oder Sammlungsgut. Die Archivarinnen & Archivare pflegen dafür die flotte Bemerkung „Was liegt, das liegt!“. Dieser Grundsatz bezieht sich auf die nüchterne Erkenntnis, dass eine nachträgliche Bewertung mindestens gesamter Bestände personell und arbeitsorganisatorisch kaum zu leisten ist bzw. die Bewertungsentscheidung vor der Übernahme als Junktim betrachtet wird. Gleichwohl und letztlich selbstverständlich wird im Prozess der Erschließung auch noch einmal eine sog. Feinbewertung vorgenommen, in der insbesondere Mehrfachüberlieferungen oder auch Registraturgut, was trotz vorheriger Bewertungsentscheidung in die Abgabe(n) gelangt ist, kassiert werden.

 

ARCHIVAR:INNEN_

Neben diesen grundsätzlichen Hinweisen zur Archivpraxis muss natürlich ebenso der persönliche Anteil bei der Bestandsergänzung und -pflege betrachtet werden, unabhängig vominstitutionellen Hintergrund. Hier geht es um Fragen der Qualifikation, der persönlichen Interessen, des individuellen Engagements und dem Streben nach Sinnstiftung, aber genauso um das Eingeständnis der eigenen Beschränkung und der physischen und psychischen Grenzen unter divergierenden räumlichen, zeitlichen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen. Sie führen in der Regel zu beruflichen und persönlichen Netzwerken, aber natürlich auch zu Abhängigkeiten. Diese Faktoren beeinflussen erfahrungsgemäß in gleichem Maße Übernahmeentscheidungen, wie die tradierte Archivpraxis (s.o.). Veränderungen in der Bewertungs- und Übernahmepraxis sind dann in der Regel erst mit einem personellen Wechsel in der Funktion verbunden, ob beauftragt, erwünscht, erzwungen oder sie ergeben sich zufällig.

 

ARCHIVALIE_

Eine weitere Perspektive auf das Thema ergibt sich mit dem Blick auf die Überlieferungselbst, die Archivalie, das Sammlungsstück, den Nachlass etc. und ist eng mit den beiden ben. Themen verbunden: 

- Mit welchem qualitativen und quantitativen Anspruch schauen wir auf unsere „Schätze“?

- Kann die schiere Überlieferungsmenge eine inhaltlich dünne Aussage der Quellen kompensieren, oder doch eher umgekehrt? Also: Können wir eine kleine Quellenauswahl als exemplarisch für einen größeren gesellschaftlichen, historischen, künstlerischen, ästhetischen oder individuellen Prozess zulassen, würdigen und öffentlich vermitteln?

- Wieviel Distanz zur Quelle gelingt uns oder auch wieviel Reflexion von außen können wir zulassen oder gar organisieren (vgl. den heutigen Workshop)?

- Welche kooperativen Möglichkeiten können räumliche, personelle, finanzielle aber auch inhaltliche Beschränkungen in den Institutionen kompensieren?

 

LANDESARCHIV BERLIN_

Wie in sämtlichen staatlichen Archiven, sind bau- und architekturhistorische Quellen auch im Landesarchiv Berlin nicht in einem Bestand oder einer archivischen Sammlung überliefert, sondern in großer Bandbreite, Vielfalt und Form in sämtlichen tektonischen Schichten nachzuweisen: 

- Bauakten und Spezialakten aus den bezirklichen Bauämtern, preußischen Mittel-und zentralen Reichsbehörden, Magistrats- und Senatsverwaltungen, der Reichsbahn, von Firmen und in Nachlässen etc.,

- Plankammer- sowie Kartenbestände als Teil der ben. institutionellen Überlieferungen in vielfältigen Formen und Formaten,

- Fotos und Filme in historischen Sammlungen, aus institutionellen Überlieferungen, Fotografennachlässen sowie aus eigener und beauftragter Produktion,

- Plakate aus archivischen Sammlungen und institutionellen Überlieferungen sowie

- Buchbestände aus archivischen Sammlungen, Nachlässen und institutionellen Überlieferungen.

 

Die Wege ins Archiv sind bei den älteren Beständen nicht mit zwingender Verwaltungslogik verbunden, sondern ein Abbild der Brüche in der Berliner und deutschen Geschichte, partiell zufällig oder auch Ergebnis von

- Rückführungen nach den Auslagerungen des Zweiten Weltkriegs, 

- aus Verhandlungen auf Landes- und Bundesebene, 

- aus späten Abgaben von Landes- und Bundesbehörden,

- Bestandsabgrenzungen mit anderen Archiven auf Landes- und Bundesebene, vor allem ab 1990 und

- manchmal auch erst durch Provenienzabgrenzungen bei Erschließungsprojekten. 

 

Sie sind in aller Regel Teilüberlieferungen von vormals bedeutenden Registraturbildnern, wodurch sich retrospektive Bewertungsprozesse erübrigt hatten. 

Die reguläre und aktuelle Bewertungs-, Abgabe- und Erschließungspraxis auf der Grundlage der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Berliner Verwaltung (GGO) und des Berliner Archivgesetzes soll an dieser Stelle aus zeitlichen Gründen nicht weiter ausgeführt werden.

Ebenso lässt sich in der eigenen Archivgeschichte erst relativ spät eine qualifiziertere Bewertungspraxis nachzeichnen, insbesondere vor dem Hintergrund zweier Generationswechsel (s.o.). Die Erfahrungen in der archivischen Praxis der letzten Jahrzehnte, die guten Qualifikationen des überwiegenden Teils der Mitarbeiter:innen waren und sind eine wichtige Voraussetzung für den anstehenden Wandel vom analogen zum digitalen Archiv(abhängig von den Rahmenbedingungen in einer disparaten Berliner Verwaltungsstruktur). Hier werden künftig die Bewertungsfragen schon im Prozess der Aktenbildung gestellt bzw. entschieden: eine der größten Evolutionen in der Archivpraxis!

Andreas Matschenz | Kartenabteilung des Landesarchivs Berlin

Kontakt

Referent für Wissenstransfer & Public Affairs

Angaben zur Veranstaltung

Mittwoch, 6. September 2023
14.00 bis ca. 16.30 Uhr

Das 54. Brandenburger Regionalgespräch findet in Präsenz statt:

Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung
Flakenstraße 29–31
15537 Erkner

Konferenzraum Dachgeschoss

Zur Anmeldung​​​​​​​

Weitere Informationen

Forschungsschwerpunkte