24. November 2025 | Ausgewählte Publikation

Lisa Vollmer über die Idee der „sozialen Mischung“ in Stadtplanung und Politik

Neuer Band präsentiert „kritisches Vokabular“ zum gesellschaftlichen Zusammenhalt

Seenotrettung, Kohleausstieg und Grundsicherung sind Aufregerthemen im öffentlichen Diskurs. Ein kürzlich erschienener Band nimmt sich diese drei sowie 42 weitere medial präsente Begriffe vor, um zu zeigen: In kritischen gesellschaftlichen Fragen wird heute schnell das Ideal des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ als Lösung propagiert. IRS-Stadtforscherin Lisa Vollmer steuerte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der „sozialen Mischung“ bei.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt gilt heute vielen als Ideal und erstrebenswertes Ziel. Doch dieses Ideal wird auch kritisch hinterfragt. Der neue Band „Schlüsselbegriffe gesellschaftlichen Zusammenhalts“, herausgegeben von den Kulturwissenschaftler*innen Anna Pollmann und Christopher Möllmann, zeigt anhand von 45 Beispielen aus dem bundesdeutschen Gesellschaftsdiskurs, wie rasant sich die Bezugnahme auf gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgebreitet hat – und was aus Sicht der Herausgebenden das Problem daran ist: Der Ruf nach Zusammenhalt ziele auf Bewahrung und komme in erster Linie aus der etablierten Mitte der Gesellschaft. Berechtigte Kritik von marginalisierten Gruppen kann mit dem Verweis auf die Bewahrung des sozialen Zusammenhalts schnell mundtot gemacht werden.

Lisa Vollmer, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe „Stadtentwicklungspolitiken“, untersucht in ihrem Beitrag den Begriff der „sozialen Mischung“ sowie seine Wirkung als zentrales Leitbild der Stadtplanung und -entwicklung. Der Begriff soll das Zusammenkommen und Zusammenleben von Gruppen mit unterschiedlichen sozialstrukturellen Merkmalen beschreiben. Im öffentlichen Diskurs ist er weit verbreitet, bleibt jedoch unscharf definiert und damit offen für unterschiedliche Deutungen.

Die Wissenschaftlerin zeigt, dass eine „gute soziale Mischung“ in politischen und planerischen Debatten häufig als Gegenkonzept zu Segregation gilt. Dabei werde Segregation vor allem dann als problematisch bewertet, wenn sie einkommensarme und/oder migrantisierte Personen betrifft. In solchen Fällen, so Vollmer, werde mangelnde soziale Mischung oft mit fehlender Integration gleichgesetzt, während die räumliche Abgrenzung wohlhabender Milieus kaum kritisch hinterfragt wird.

Annahmen aus der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung, wonach sich soziale Mischung in Nachbarschafts- und Quartierseffekten zeige und untere Einkommensschichten von schichtenübergreifenden Kontakten profitieren würden, finden in der empirischen Forschung nur geringe Bestätigung. Im Gegenteil: Studien belegen, dass Segregation auch Vorteile haben kann, etwa durch die Entstehung selbstorganisierter Initiativen und Netzwerke. Dennoch bleibt die Rede von sozialer Mischung in Politik und Planung wirkmächtig und wird eng mit dem Konzept des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ verknüpft, obwohl beide Begriffe keine feste Definition erfahren.

Lisa Vollmer macht deutlich, dass der Idee der sozialen Mischung eine lange Geschichte zugrunde liegt. Bereits James Hobrecht, Planer der Berliner Stadterweiterung in den 1860er-Jahren, sah in gesellschaftlicher Durchmischung ein städtebauliches Ideal zur Verhinderung von Aufständen und Befriedung sozialer Konflikte. Dieses Leitbild setzte sich in veränderter Form fort, beispielsweise im sozialen Wohnungsbau der Nachkriegszeit, und reicht bis zu heutigen Legitimationen von Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen.

Der Beitrag plädiert für eine kritischere Perspektive: Statt Armut oder Migration als Problem mangelnder Mischung zu behandeln, müsse der Fokus auf strukturelle Ursachen wie Ungleichheit, Diskriminierung und ungleiche Wohnraumverteilung gelegt werden. Lisa Vollmer schließt ihren Beitrag mit einer grundsätzlichen Kritik am Leitbild der sozialen Mischung. Unter kapitalistischen Bedingungen bleibt jede Vorstellung einer „guten Mischung“ fragwürdig, solange Stadtentwicklung von Verwertungslogiken und privaten Interessen geprägt wird.