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Die sozialistische Stadt: Planungen, Transformationen und Nachwirkungen
Rückblick auf die internationale Sommerschule am IRS
Im August 2022 befasste sich die fünfttägige Sommerschule „The Socialist City: Planning, Transformation and Aftermath“ unter Leitung von Piotr Kisiel mit Fragen der Stadtplanung und Wohnungsbau in der „sozialistischen Stadt“. Diskutiert wurden die Themen am Beispiel der Sowjetunion, Polens, Jugoslawiens sowie anhand von Gegenbeispielen aus Frankreich. Exkursionen im ehemaligen Ost-Berlin zu den Schwerpunkten Stadtplanung und Architektur in der Karl-Marx-Allee (ehemalige Stalinallee), Denkmalschutz (Nikolaiviertel und Gendarmenmarkt) und staatliche Überwachung (Hohenschönhausen) gaben den Forschenden zusätzliche Einblicke zum Thema. Gegen Ende diskutierten die elf Sommerschulgäste das Dachthema Post-Sozialismus am Beispiel der Ukraine und der Bundesrepublik Deutschland. Einige Studierende bekamen zu vorgestellten Projekten Feedback aus dem Plenum.
Gleich im Anschluss an die Eröffnung am 1. August durch IRS-Direktor Oliver Ibert folgte ein Einführungsvortrag von Christoph Bernhardt, Leiter des IRS-Forschungsschwerpunktes Zeitgeschichte und Archiv. Bernhardt ging auf die Ursprünge des Konzepts der sozialistischen Stadt in der Vorkriegssowjetunion sowie auf einige Aspekte der Umsetzung in der DDR ein und thematisierte unterschiedliche Erfahrungen und Pfade in ostdeutschen Städten. Am zweiten Tag standen die Stadtplanungen in der Sowjetunion (Daria Bocharnikova, Katholieke Universiteit Leuven), Polen (Piotr Kisiel, IRS), Rumänien und Jugoslawien (Gruia Bădescu, Universität Konstanz) und Frankreich (Daniel Hadwiger, IRS) im Fokus der Vorträge und Diskussionen. Das spezielle Erkenntnisinteresse dieses Tages lag auf der Vielfalt des Städtebaus. So hatte beispielsweise das städtische Umgestaltungsprogramm im damaligen Rumänien unter Ceaușescu erstaunlicherweise keine Entsprechung in der Sowjetunion oder in Polen. Zudem diskutierten die anwesenden Fachleute die Rolle der Kriegszerstörung und des Wiederaufbaus. Sie erörterten auch die Frage, inwieweit man die sozialistische Stadt als eine Variante der modernistischen Stadtplanung betrachten kann.
Am Beispiel des königlichen Schlosses in Budapest argumentierte die Studentin Helka Dzsascovszki (Technische Universität München), wie Stadtarchäologie und historisierende Architektur als Teil der Landschaft des Sozialismus betrachtet werden sollten, anstatt sie allein auf Wohnsiedlungen zu beschränken. Ivana Zimbrek (Central European University Wien) zeigte, wie Kaufhäuser im sozialistischen Jugoslawien konzipiert und ausgeführt wurden. Sie erklärte, dass sie eine wichtige Plattform für den Ost-West-Wissenstransfer sowie ein Forum darstellten, in dem Architekt*innen wirken konnten.
Am dritten Tag konzentrierte sich die Sommerschule weiter auf die Wohnungssituationen in der Sowjetunion (Natalia Otrishchenko, Zentrum für Stadtgeschichte Lviv), Polen (Barbara Klich-Kluczewska, Jagiellonen-Universität Krakau), Jugoslawien (Rory Archer, Universität Graz) und Frankreich (Kenny Cupers, Universität Basel). In den Fokus gerieten hier Massenwohnungsbauprogramme in der Sowjetunion, in Polen und in Frankreich. Deutlich wurde, wie diese in hohem Gegensatz zu Jugoslawien standen, wo Einfamilienhäuser und nicht der Plattenbau Wohnlandschaften dominierten. Die Rolle des Wohnungsbaus als Instrument der Familienpolitik wurde ebenso angesprochen wie der Gegensatz zwischen Wohnsiedlungen und alten Mietskasernen. Erika Brandl (Universität Bergen) untersuchte schließlich, ob und wie Engels Wohnungsfrage in den Diskussionen über die Wohnungskrise immer noch relevant sein kann.
Sodann folgten die Exkursionen im ehemaligen Ost-Berlin. Eine von Andreas Butter (IRS) geleitete Gruppe fokussierte sich hierbei auf die repräsentative Architektur der Karl-Marx-Allee und diskutierte verschiedene Schichten des DDR-Städtebaus. Die Gruppe von Małgorzata Popiołek-Roßkamp (IRS) und Daniel Hadwiger (IRS) thematisierte hingegen den Denkmalschutz und die Rekonstruktion historischer Gebäude während des SED-Regimes. Eine Gruppe in Berlin-Hohenschönhausen wiederum beschäftigte sich dort mit Aspekten der Überwachung ostdeutscher Städte durch die Stasi und den vielfältigen Herausforderungen, die die gebaute Umwelt in diesem Zusammenhang mit sich gebracht hatte. Diese Exkursion wurde von Elke Stadelmann-Wenz (Berlin-Hohenschönhausen) und Gundula Pohl (Berlin-Hohenschönhausen) in Zusammenarbeit mit Emine Seda Kayim (University of Michigan, Ann Arbour) vorbereitet und durchgeführt. Die Sommerschüler*innen setzten sich damit auseinander, wie sichtbar die sozialistische Stadt heute noch in Berlin ist und was in diesem Zusammenhang als Erbe zu deuten wäre und gelten kann.
Im letzten Teil der Sommerschule beleuchteten Vorträge von Harald Engler (IRS) und Natalia Otrishchenko (Zentrum für Stadtgeschichte Lviv) Aspekte der postsozialistischen Stadt in Deutschland und der Ukraine. Mit ihren Schlussimpulsen problematisierten sie, in welchen Kontexten der Begriff „post-sozialistisch" nützlich sein kann und wo seine Grenzen liegen. Am Ende stellte sich für alle Teilnehmenden die Frage, ob man die sozialistische Architektur auf der Grundlage ihrer eigenen Werte oder besser im Rahmen autoritärer Regimes, in denen sie entstanden waren, bewerten müsste.