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Buch-Neuerscheinung: Klimawandel und lokale Resilienz im Schweizer Hochgebirge
Der Klimawandel ist ein globales Problem, aber seine Auswirkungen werden je nach lokalem Kontext unterschiedlich spürbar. Auch die Wahrnehmung von Veränderungen, ihre Interpretation und der Umgang mit ihnen hängen lokalen soziokulturellen Faktoren ab: Die Erfahrungen, Alltagspraktiken und Deutungsmuster der Menschen entscheiden mit darüber, wie sie auf klimabedingte Umweltveränderungen reagieren können. Christian Reichel hat 13 Monate lang bei Schweizer Bergbauern und -bäuerinnen gelebt und ihren Umgang mit dem Klimawandel teilnehmend beobachtet. Nun ist im transcript-Verlag sein Buch „Mensch – Umwelt – Klimawandel. Globale Herausforderungen und lokale Resilienz im Schweizer Hochgebirge“ erschienen.
Noch nie zuvor war der Einfluss der Menschen auf ihre natürliche Umwelt so umfassend wie heute. Das „kohlenstoffbasierte“ Wirtschaftswachstum der reichsten Länder der Erde hat vor allem in den letzten Jahrzehnten Umweltveränderungen mit gravierenden Folgen angestoßen. In unserer globalisierten Gesellschaft gibt es mittlerweile kaum noch Ökosysteme, die nicht vom Menschen, meist in destruktiver Weise, beeinflusst werden. Dies zeigt sich an Phänomenen wie dem Klimawandel, dem massiven Biodiversitätsverlust, der Ausbreitung von Monokulturen und der Übernutzung natürlicher Ressourcen.
Solche destruktiven Mensch-Umwelt-Beziehungen werden meist als globale Phänomene und damit in abstrakten Zusammenhängen beschrieben. Die stark naturwissenschaftlich geprägte Diskussion um den vom Menschen verursachten Klimawandel ist dafür ein gutes Beispiel: In politischen Aushandlungsprozessen über Schutz- und Anpassungsmaßnahmen wird er meist als quantifizierbares Problem verstanden, das sich mit technischen Lösungen bewältigen lässt. Die daraus resultierende Zielsetzung der internationalen Klimapolitik, die globale Erwärmung unterhalb von zwei Grad Celsius im Vergleich zum Level vor der Industrialisierung zu halten, ist eine äußerst wichtige Leitlinie, um politische Maßnahmen für Klimaschutz und -anpassung abzustimmen und die Trägerinnen und Träger politischer Verantwortung medienwirksam zu mobilisieren. Allerdings wird dabei oftmals zu wenig reflektiert, was ein Temperaturanstieg von einem halben, einem, zwei oder drei Grad Celsius überhaupt für Menschen aus unterschiedlichen soziokulturellen und sozioökologischen Kontexten bedeutet. Wie erleben Menschen Umweltdegradation und globale Phänomene wie den Klimawandel in ihrem Lebensalltag? Welche Rolle spielen ihre soziokulturell geprägten Deutungsmuster, also die Art und Weise wie sie Wahrnehmungen einordnen, interpretieren und bewerten? Welche sozialen Folgen resultieren daraus? Welche kulturellen Bewältigungsformen und Anpassungskapazitäten existieren?
In seiner neu erschienen umweltanthropologischen Studie veranschaulicht Christian Reichel, dass globale Phänomene wie der Klimawandel immer auch lokale Brechungen erhalten und daher je nach soziokulturellem Kontext Teil einer lokalen Lebenswirklichkeit werden. Solche Deutungsmuster und Handlungspraktiken sind maßgebende Faktoren, wie verwundbar oder resilient Individuen, soziale Gruppen oder auch Gesellschaften gegenüber destruktiven Umweltveränderungen sind und welche Bereitschaft sie aufweisen, sich an sie anzupassen oder sie zu bewältigen. Er konzentriert sich dabei auf Menschen, die in einem Raum leben, der gegenwärtig tiefgreifende sozioökologische Veränderungen erfährt: die Bergbauern und -bäuerinnen im Safiental in den Schweizer Alpen (Kanton Graubünden). Bergbauern sind besonders vom Klimawandel betroffen, weil sie aufgrund ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise unmittelbar von besonders sensiblen Ökosystemen abhängen.
In der Untersuchungsregion besteht trotz präziser Langzeit- Wetterdaten seit 1850 wegen ihrer komplexen Reliefstruktur nach wie vor große Unsicherheit darüber, wo neue Risiken auftauchen und andere abnehmen können. Daher ist das auf Erfahrung basierte, oftmals sehr differenzierte Umweltwissen derjenigen Menschen von besonderer Bedeutung, die sich seit Generationen in ihrer Lebensweise an dynamische und schleichende Umweltveränderungen anpassen müssen – sei es durch land- und forstwirtschaftliche Praktiken, die potentiellen Naturgefahren vorbeugen, oder durch die Entwicklung einer Risikokultur. Um diesen Problemkomplex nachzugehen, ging Reichel den folgenden Fragen nach:
- Welches lokale Umweltwissen existiert zur Anpassung an sozioökologische Veränderungen und zum Schutz vor damit verbundenen multiplen Risiken?
- Wie tragen historisch gewachsene und kulturell spezifische Deutungsmuster von Natur (inklusive religiöse Vorstellungen) dazu bei, katastrophale Ereignisse mental zu verarbeiten und zu überwinden sowie potentielle Risiken zu vermeiden?
- Wie werden der globale Klimawandeldiskurs und die ihm zugeschriebenen Umweltveränderungen lokal wahrgenommen und gedeutet, und wie beeinflussen diese kulturell spezifischen Wahrnehmungsformen die Bereitschaft, sich an diese anzupassen?
- Wie prägen lokale Ressourcennutzungsstrategien eine Kulturlandschaft mit vielfältigen Ökosystemleistungen?
- Welche sozioökologischen, -kulturellen und -ökonomischen Auswirkungen hat ein Strukturwandel in der Landwirtschaft und wie verändert dies die Kulturlandschaft im Tal?
- Wie lassen sich die subjektive Raumwahrnehmung der Bergbauernschaft und ihr Erfahrungswissen im Umgang mit multiplen Risiken eines dynamischen Naturraums in ein professionelles Gefahrenmanagement integrieren?
Während seiner 13-monatigen ethnographischen Forschung lebte, wohnte und arbeitete Christian Reichel bei Bergbauern und -bäuerinnen mit dem Ziel, ihre Lebenswelt aus einer Innenperspektive zu verstehen und ihr Handeln interpretieren zu können. Er beobachtete teilnehmend den Alltag der Menschen, führte halbstrukturierte Leitfadeninterviews und Gruppeninterviews. Er führte strukturierte Begehungen der Ortschaften, partizipative Kartierungen und multimediale Kartierungen in Kombination mit Film und Fotografie durch. Zum Vergleich zog er Beobachtungen aus dem touristisch geprägten Engadin (Schweiz) sowie dem landwirtschaftlich geprägten Masuputal in Süd-Sulawesi (Indonesien) heran, wo er zeitnah zu den gleichen Themenfeldern forschte.
Durch seine Forschung wurde deutlich, wie lokales Umweltwissen hilft, Vulnerabilität zu beseitigen, Adaptionsverhalten zu stärken und resilienzfördernde Maßnahmen zu entwickeln, um so neuen sozioökologischen Herausforderungen destruktiver Mensch-Umwelt-Beziehungen begegnen zu können. Es umfasst beispielsweise landwirtschaftliche Praktiken, die zu einer nachhaltigen Ressourcennutzung beitragen, land- und forstwirtschaftliche Arbeiten zur Prävention von Naturgefahren, aber auch eine Risikokultur, die dazu führt, dass Naturkatastrophen keine große mentale und praktische Herausforderung darstellen, weil man auf der Basis von Erfahrungswissen routiniert auf sie reagieren kann. Wie sich zeigte, ist die Landschaft des Tals ein Kulturprodukt, das durch das Handeln der Bäuerinnen und Bauern gestaltet wurde. Die Ökosystemleistungen, die durch diese Lebens- und Wirtschaftsweise entstehen, sind vielfältig und reichen von Nahrungsmitteln (Milch, Käse, Fleisch) über eine hohe Biodiversität bis hin zu einer Kulturlandschaft mit identitätsstiftendem Charakter für die gesamte Schweizer Nation im Sinne einer Idee von „Heimat“.
Allerdings fand im Safiental, wie in allen landwirtschaftlich geprägten Regionen im Alpenraum, seit den 1960er-Jahren ein umfassender Strukturwandel in der Landwirtschaft statt, der tiefgreifende soziokulturelle, sozioökonomische und sozioökologische Veränderungen gebracht hat, positiver wie negativer Art. Insgesamt lässt sich festhalten, dass er die Dilemmata des Klimawandels noch verschärft. Immer mehr Bauernbetriebe müssen aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit aufgeben und das Tal entsiedelt sich. Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass an vielen Berghängen keine landwirtschaftlichen Pflege- und Stabilisierungsarbeiten mehr durchgeführt werden. Damit geht die hohe Biodiversität des Tals verloren und die Gesellschaft verliert an Kapazitäten, um Naturgefahren präventiv zu begegnen.
Trotz dieses „Bauernsterbens“ sind die Einwohner des Safientals alles andere als passiv. Ein Grund, warum viele Bauernfamilien über die Jahrhunderte von der Berglandwirtschaft leben konnten, ist ihre enorme Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde exogene und endogene Einflüsse. Auf der Basis ihres (trans-)lokalen Umweltwissens reagieren sie auf die neuen Herausforderungen mit vielfältigen resilienzfördernden Lösungen, die auch für professionelle Akteure – etwa den gemeindlichen Forstdienst oder das kantonale Amt für Wald- und Naturgefahren – relevant sind.
Im letzten Kapitel seiner Arbeit versucht Reichel Antworten zu finden, wie dieses (trans-)lokale Wissen der Bergbauern und -bäuerinnen dazu beitragen kann, staatlich-institutionell verankerte Klimaanpassungsstrategien zu verbessern. Am Beispiel des professionellen Naturgefahrenmanagements stellt er zwei konkrete Lösungsansätze vor, um vorhandene institutionelle Barrieren abzubauen und der bislang unzureichenden Partizipation der Bevölkerung zu begegnen: 1) Die „Sozial-ökologische Systemanalyse“ als interdisziplinäres Brückenkonzept und 2) die Methode der multimedialen Kartierung, welche die Möglichkeit bietet, partizipativ (konsultativ bis aktiv) multimediale Daten zu visualisieren. Gerade in ihrer Kombination ermöglichen beide Methoden eine leichtere Kommunikation zwischen der lokalen Bevölkerung und professionellen Akteuren. Sie erlauben es, lokales Wissen interaktiv und multimedial zu dokumentieren und dabei auch seine dynamische Veränderung mit einzubeziehen. Schließich ermöglichen sie eine bessere inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und Arbeitsbereichen.
Reichel, Christian (2020): Mensch – Umwelt – Klimawandel. Globale Herausforderungen und lokale Resilienz im Schweizer Hochgebirge. transcript, Bielefeld