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Sammelband "Migration und Baukultur" erschienen
Die Geschichte des Bauens zeigt, welche besondere Bedeutung den Wanderungsbewegungen von Individuen als Experten oder Bauherren, von religiösen Gemeinschaften oder von ethnischen Bevölkerungsgruppen für die Veränderung und Entwicklung von Baukunst und Bautechnik seit der Antike beizumessen ist. Neue Bauaufgaben, Angebote und Einladungen über Grenzen hinweg haben schon immer Fachleute aus anderen Regionen und Ländern angezogen. Deren temporäre oder dauerhafte Niederlassung selbst führte wiederum zu neuen Bauformen und Veränderungen der Baupraxis in der Ankunftsgesellschaft. Immer wieder kam es dabei zu kulturellen Überprägungen, Konfrontationen, Transformations- und Verdrängungsprozessen, deren Ergebnisse die Wandlungsfähigkeit einer Gesellschaft verdeutlichen. Neue Impulse und das Beharren auf lokal Bewährtem sind gleichermaßen typisch für das Bauen als kulturelle Praxis.
Mit dieser Thematik beschäftigt sich der Sammelband „Migration und Baukultur. Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung“, der im Birkhäuser-Verlag als dritter Band in der Schriftenreihe „Kulturelle und technische Werte historischer Bauten“ des gleichnamigen DFG-Graduiertenkollegs (2014-2023) erschienen ist, das an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg gemeinsam mit dem Archäologischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und der Historischen Forschungsstelle des IRS durchgeführt wird. Die insgesamt 17, reich bebilderten Beiträge sind aus dem zweiten Querschnittskolloquium „Migration und Baukultur von der Antike bis zur Gegenwart“ des DFG-Graduiertenkollegs hervorgegangen, das vom 23. bis 25. November 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin und am IRS in Erkner stattgefunden hat. An Beispielen aus dem gesamten Spektrum der Baugeschichte sollten die Mechanismen untersucht werden, die zur Transformation des Bauens in der Folge individueller und kollektiver Einwanderung, aber auch von Eroberung und Unterwerfung, geführt haben. Gleichzeitig sollte diskutiert werden, welche Phänomene sich im Kontext baukultureller Vermischung als besonders wirkmächtig und welche sich als besonders widerstandsfähig erwiesen haben, und welche neuen Ausdrucksweisen in Stil, Bautechnik und Funktion aus der Begegnung autochthoner und importierter Praktiken sowie unterschiedlicher kultureller Wertvorstellungen entstanden sind.
Die siebzehn Einzelbeiträge des Sammelbandes thematisieren ein breites Spektrum an Gebautem: öffentliche und private Einzelgebäude; religiöse Gebäude und Gebäudeensemble; Siedlungsbau; Verkehrsbauten bzw. Bauten der technischen Infrastruktur. Als Gliederungsprinzip für den Sammelband und damit für die Zuordnung der Beiträge dienen drei grundlegende Formen von Migration, die in den Ankunftsorten und -ländern ihre Wirkung auf Baukultur entfaltet haben bzw. auch aktuell entfalten: erstens die Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen im Zusammenhang mit der Migration von Auftraggebern, von ethnischen und religiösen Gruppen; zweitens die Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens; drittens die Migration von Technologien im Kontext der Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens.
Zwei Beiträge sollen besonders hervorgehoben werden: der Beitrag „Architekturen des Überlebens und des Ankommens? Von Heimatverlust, Transitexistenz und neuen Lebensräumen“ von Karl-Siegbert Rehberg sowie der Beitrag „Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert. Wanderungen und Wissenszirkulation“ von Christoph Bernhardt.
Mit einem Abendvortrag hat Karl-Siegbert Rehberg, seit Sommersemester 2015 Seniorprofessor und Inhaber der Forschungsprofessur für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden, das Querschnittskolloquium eröffnet und mit seinem Beitrag beginnt auch der vorliegende Sammelband. Aus einer soziologischen Perspektive heraus setzt er das Gebaute (= architektonische Formen und Funktionen für Migranten in den Ankunfts- und Aufnahmeländern) und das Sozio-Kulturelle (= Großherzigkeit und Abwehrängste als Ambivalenzen in Wahrnehmung, Verhalten und Handeln der Mitglieder in den Ankunftsgesellschaften) immer wieder in Beziehung zueinander. Ausgehend von der Denkfigur des Homo Migrans versteht er Migration als ein universales Phänomen der Menschheitsgeschichte, das wie Fortpflanzung, Geburt, Krankheit und Tod zur Conditio Humana gehöre, und belegt dies mit prägnanten historischen Beispielen. In seinen typologischen Überlegungen unterscheidet er zwischen Anwerbungsarchitektur, Sakralbauten als Identifikationszentren, transponierten Heimatarchitekturen und Notarchitekturen, auch dies illustriert mit historischen und aktuellen Beispielen aus dem In- und Ausland. Breiten Raum nehmen Befunde zu aktuellen „Architektur-Antworten“ ein, mit denen Stadtplanerinnen und Architekten vor allem seit 2015 versuchen, kurzfristig und im Sinne einer „primären Bewältigung von Notlagen“ für eine hohe Anzahl von Geflüchteten Unterkünfte und Wohnraum zu schaffen. Mit einer Rezeption der Konzeption der „Arrival Cities“ des kanadischen Publizisten Doug Saunders, dem intellektuellen Inspirator des Germania-Pavillons auf der 15. Architekturbiennale in Venedig, endet der Beitrag.
Der dritten Sektion „Migration von Technologien im Kontext der Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens“ ist der Beitrag „Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert. Wanderungen und Wissenszirkulation“ von Christoph Bernhardt zugeordnet, dem Leiter der Historischen Forschungsstelle des IRS und einem der Antragsteller des DFG-Graduiertenkollegs. Am Beispiel dieser Berufsgruppe interessiert er sich für den Wandel im überregionalen Transfer von baukulturellem Wissen. Er analysiert diesen als einen Prozess, der einerseits vom Aufbau einzelstaatlicher Infrastrukturverwaltungen als einem wichtigen Teil der inneren Staatsbildung sowie andererseits von internationalen Debatten über hydraulisch-mathematische Fragen geprägt war. Am Beispiel ausgewählter Protagonisten skizziert er deren berufliche Karrieren und zeigt, wie sich die Mobilitätsmuster dieser Spezialisten in diesem Zeitraum gewandelt haben. Ein Befund lautet, dass im Laufe des Jahrhunderts die Mobilität der Wasserbau-Ingenieure ab- und die Bedeutung medialer Wissensvermittlung in Form von Handbüchern, Fachzeitschriften etc. zugenommen haben.
Betrachtet man die – nahezu überall positiven – Auswirkungen der in diesem Band beschriebenen unterschiedlichen Migrationsformen auf das Bauen, so rückt, um auf den einleitenden Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg zurückzukommen, der Homo Migrans tatsächlich als Impulsgeber für die Baukultur in den Vordergrund. Die Migration wird so zum natürlichen Motor des Fortschritts, und dies für die aus der Fremde Ankommenden gleichermaßen wie für die ansässigen Gesellschaften.
Kilper, Heiderose (Hrsg.) (2019): Migration und Baukultur. Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung. Basel, Birkhäuser Verlag.