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Wie geht man die großen Fragen an? Internationaler Workshop diskutiert Forschungsperspektiven auf sozial-ökologische Transformationen
Die ehemalige Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter” des IRS interessiert sich für grundlegende sozial-ökologische Transformationsprozesse. Sie will tiefgreifende Analysen liefern und die Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen erfassen. Das ist leichter gesagt als getan, denn wo setzt man dabei an? Bei der Hubschrauberperspektive auf die großen Zusammenhänge oder mit dem gleichsam mikroskopischen Blick auf die Besonderheiten von Einzelfällen? Am 27. Januar 2020 hatte die Abteilung drei internationale Koryphäen, Gretchen Bakke, Dominic Boyer und Cymene Howe, zu Gast, um dieser Frage in einem Workshop auf den Grund zu gehen.
Das IRS hat den Anspruch, Antworten auf große gesellschaftliche Fragen zu finden. Die ehemalige Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“ untersucht beispielsweise, wie die Energiewende gelingen kann, wie Städte den Klimawandel bewältigen können und ob der Wandel hin zu einer Postwachstumsgesellschaft ein gangbarer Weg der sozial-ökologischen Transformation ist. Sie verfolgt dabei meist einen qualitativen Ansatz. Das heißt: Die Forscherinnen und Forscher erhoffen sich wesentliche Erkenntnisse eher von der intensiven, detailreichen Auseinandersetzung mit konkreten Einzelbeispielen – städtischen und regionalen Transformationsstrategien etwa – als von makroskopischen Struktur- und Systemanalysen, in denen oft viele problematische Vorannahmen und Verallgemeinerungen stecken. Das wirft die Frage auf, wie sich Schlussfolgerungen über die besagten großen Fragen ableiten lassen, ohne dass die Gültigkeit der Forschungsergebnisse überstrapaziert wird.
Über diese Frage diskutierte Ende Januar fast die gesamte Forschungsabteilung mit drei Gästen, die wesentliche neue Einblicke mitbrachten. Gretchen Bakke, Dominic Boyer und Cymene Howe haben nicht nur über sozial-ökologische Transformationen geforscht, sondern auch neue Wege bei der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beschritten. In der Anthropologie – der Disziplin, der alle drei Gäste angehören – ist es üblich auf der Mikroebene zu forschen. Bakke, Boyer und Howe analysieren ihre Forschungsgegenstände aber stets auch im Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse.
Gretchen Bakke ist derzeit Gastprofessorin am Integrative Research Institute on Transformations of Human-Environment Systems (IRI THESys) der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie schrieb ihre 2016 als Buch erschienene ethnografische Studie über das Stromnetz in den USA („The Grid: The Fraying Wires between Americans and our Energy Future“) explizit für die breite Öffentlichkeit.
Dominic Boyer ist Direktor des Center for Energy and Environmental Research in the Human Sciences an der Rice University in Houston (USA).
Cymene Howe ist Associate Professor, ebenfalls an der Rice University. Boyer und Howe analysierten die Konflikte um den Ausbau von Windkraftanlagen im Isthmus von Tehuantepec, einer Landenge in Mexiko. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie 2019 in zwei separaten Büchern, die jeweils unterschiedliche Blickwinkel einnehmen: „Energopolitics: Wind and Power in the Anthropocene“ (Boyer) und „Ecologics: Wind and Power in the Anthropocene“ (Howe). Weiterhin initiierten sie eine Gedenktafel, die am Okjökull („Gletscher Ok“), einem ehemaligen Gletscher Islands, der durch den Klimawandel verloren gegangen ist, angebracht wurde. Über die Folgen des Klimawandels für Ok drehten Boyer und Howe auch einen Kinofilm: „Not OK. A Little Movie About a Small Glacier at the End of the World“ (siehe Link).
Im Workshop gaben Bakke, Boyer und Howe Einblicke in ihre Arbeitsweisen und diskutierten die Möglichkeiten und Grenzen einer ethnographischen (also tief in den Untersuchungsgegenstand eintauchenden, beobachtenden und teilnehmenden) Perspektive auf die sozial-ökologische Krise und die damit zusammenhängenden großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Sie berichteten unter anderem über ein aktuelles Forschungsprojekt, in dem naturwissenschaftliches Wissen über die Relation von schmelzendem Grönlandeis und einem Anstieg des Meeresspiegels in Südafrika den Impuls für sozialwissenschaftliche Fragestellungen lieferte. Dieses Beispiel lieferte den Anlass dafür, im Workshop über die Potenziale ganz verschiedener – auch über die Wissenschaft hinausgehender – Formen der Kooperation zu reflektieren.
Weiterhin erörterten Ludger Gailing und Timmo Krüger die zentralen Fragen des Workshops auch anhand ihrer jeweiligen Postdoc-Projekte zu Postwachstum (Krüger) und neuen Energieräumen (Gailing). Im Anschluss an die Kurzvorträge entspann sich eine Diskussion darüber, was einen Untersuchungsfall für die Transformationsforschung besonders aussagekräftig macht und wie man ein solches „emblematisches“ Beispiel richtig auswählt. Insgesamt eröffnete der Workshop den Raum für einen intensiven Austausch über innovative, aber auch ganz alltägliche Forschungspraktiken – und zwar über Disziplingrenzen und verschiedene theoretische-konzeptionelle Perspektiven hinweg. Gerade aufgrund dieser Offenheit bot der Workshop viele Impulse zur Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Arbeit sowie der Forschung in der IRS-Forschung zu großen Fragen.