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Rückschau: 45. Brandenburger Regionalgespräch beleuchtet Zuzug in Mittelstädte
Im Hintergrund spielt gefühlvolle Gitarrenmusik. Saftiges Grün ist zu sehen, spielende Kinder, ein vor Frische strotzender Wochenmarkt, eine herausgeputzte Innenstadt und Menschen, die in diesem Idyll ihr Glück gefunden haben. Wer die Imagevideo-Reihe „Schön hier zu sein“ der Stadt Eberswalde sieht, möchte am liebsten sofort selbst dorthin. Die auftretenden Personen – Alleinstehende, Familien, Paare – sind keine Schauspieler, sondern echte Neu-Eberswalder, deren persönliche Sichten auf ihren neuen Wohnort in den Kurzfilmen erzählt werden. Doch, von Einzelbeispielen abgesehen, wer zieht eigentlich nach Eberswalde und in die anderen brandenburgischen Städte in mittlerer Distanz von Berlin? Kommt alles Wachstum aus Berlin? Und entscheiden sich die Zuzügler wirklich frei, oder werden sie schlicht verdrängt? Über diese Fragen diskutierten die Teilnehmenden des 45. Brandenburger Regionalgesprächs am 27. November 2018 im IRS in Erkner.
Im „Brandenburger Regionalgespräch“, das vom IRS zweimal im Jahr ausgereichtet wird, begegnen sich Vertreter/-innen von Praxis und Forschung auf Augenhöhe, um aktuelle Themen mit Brandenburg-Bezug zu diskutieren. Einige Teilnehmende kennen sich meist aus anderen Kreisen. Und doch eröffnet das Format Regionalgespräch einen Raum zum Austausch, der sich sonst eher nicht auftut. Das liegt auch am Gesprächsmodus: Statt langer Vorträge verdeutlichen kurze, prägnante Statements die Sichtweise eines Akteurs. Danach wird diskutiert.
Städte des „zweiten Rings“ im Fokus
Zum 45. Regionalgespräch saßen am 27. November wieder etwa 30 Personen im Konferenzraum des IRS zusammen, diesmal um sich über die Zuwanderung in Brandenburger Mittelstädte auszutauschen, insbesondere jene des „zweiten Rings“, der auch als "Städtekranz" bezeichnet wird. Denn während das direkte Umland Berlins seit längerem wächst, verzeichnen die Städte des sogenannten "Städtekranzes" erst seit kurzem wieder ein sanftes Wachstum. Es rührt von Zuzug her, der die nach wie vor negativen natürlichen Salden knapp überkompensiert. Von Seiten des IRS wird das Thema von der Forschungsabteilung „Regenerierung von Städten“ bespielt, die bis 2017 die Bundestransferstelle Stadtumbau Ost stellte. Dr. Manfred Kühn, seit langem mit der Berlin-Brandenburger Raumentwicklung vertraut, und Henning Boeth, Doktorand in der Forschungsabteilung, vertraten die wissenschaftliche Seite. Auf der Praxisseite standen Dr. David Eberhart vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU), Silke Leuschner, Leiterin des Stadtentwicklungsamts Eberswalde und Yvonne Stolzmann, Leiterin des Stadtentwicklungsamts Brandenburg/Havel.
Die beiden IRS-Wissenschaftler hatten die Fragen für dieses Regionalgespräch aufgeworfen: Inwieweit wachsen Mittelstädte in Brandenburg durch Zuwanderung aus Berlin? Wer sind die Zuwanderer? Aus welchen Motiven wandern sie zu (push und pull-Faktoren)? Welche Strategien werden von Mittelstädten entwickelt, um attraktiv für Zuwanderer aus Berlin zu sein?
Der zentrale Einfluss Berlins wird in dieser Fragestellung gewissermaßen vorausgedacht. In der Tat liegt es nahe, einen solchen zu vermuten, wie Manfred Kühns Hinführung zum Thema zeigte: Er kategorisierte zum Einstieg die Brandenburger Städte in einen Berlin-nahen Raum, einen zweiten Ring und einen „erweiterten Metropolenraum“ mit Städten wie Guben und Lübbenau. Letzterer sei, so Kühn, „ein Euphemismus, ein Vorgriff auf die Zukunft“. „Wer sich länger mit dem Thema beschäftigt, dem kommt das bekannt vor“, erklärte der Forscher. Gemeint war das Leitbild der Dezentralen Konzentration, das bereits in den 1990ern (auch mit forschender Begleitung des IRS) entwickelt, dazu dienen sollte, Wachstumsdruck von Berlin in den Brandenburger "Städtekranz" umzuleiten. Nach Jahren der Schrumpfung 2005 ad acta gelegt, erlebt das Konzept jetzt möglicherweise ein Revival. 80 Prozent der Neu-Berliner kommen aus dem Ausland. Bei deutschen Staatsbürgern, besonders Familien, verzeichnet die Hauptstadt Wanderungsverluste. Wo gehen die Menschen hin? Nach dem "Speckgürtel" rückt nun der "Städtekranz" in den Fokus.
Was die Daten sagen und was sie nicht sagen
Henning Boeths Überblick zur demographischen Datenlage ordnete diese Entwicklung ein: In absoluten Zahlen wachsen Brandenburger Klein- und Mittelstädte fast ausschließlich im Umland von Berlin, wo sie von Netto-Zuzug aus der Hauptstadt profitieren. Die Städte im sogenannten zweiten Ring entwickeln in den letzten Jahren positive Wanderungssalden; Bevölkerungswachstum ist hier aber bisher die Ausnahme. Zuzug kommt in erster Linie aus der näheren Umgebung der Städte selbst, die Zuwanderung aus Berlin entwickelt sich jedoch äußerst positiv. Sie wird größtenteils von Menschen im typischen Familiengründungsalter getragen. Bei Jüngeren, wahrscheinlich Berufseinsteigern und Menschen in der Ausbildung, sind ihre Wanderungssalden deutlich negativ. Doch welche Motive haben die Umzügler wirklich? Wer kommt, wer geht, wer kommt womöglich zurück und mit welchem Lebensentwurf? In der Diskussion zeigte sich, dass es viel Unsicherheit und einen großen Bedarf an Orientierungswissen gibt. „Da sind wir im Nirwana, da sind wir im Datenloch“, erklärte denn auch Stephan Kathke von der AG Städtekranz Berlin-Brandenburg, verbunden mit einem Appell an die anwesenden Wissenschaftler/-innen hier Abhilfe zu schaffen.
In seinem Statement fragte Boeth auch, was die Kommunen tun können, um attraktiv für Zuwanderer aus Berlin zu sein. Jede Strategie, so Boeth, hat mehrere Dimensionen: Welche Zielgruppe soll konkret angesprochen werden? Welche Akteure stehen in der Stadt bereit, um gemeinsam an einer Strategie zu arbeiten? Wie verhält sich eine Zuzugsstrategie zu bereits bestehenden Konzepte und Strategien der Stadtentwicklung? Und schließlich: Sollen die neuen Einwohner in bestehende Gebäude ziehen und so den Leerstand reduzieren, oder verlegt man sich auf Neubau?
David Eberhart (BBU) ergänzte in seinem Statement Boeths Überblick in wichtigen Punkten. So hätten Berlin und Brandenburg durchaus einen zusammenhängenden (Miet-)Immobilienmarkt, der sich im Groben verhält wie erwartet: Von Berlin ausgehend fallen die Mietpreise entlang eines Distanzgradienten, der sich an den wichtigen Verkehrsachsen orientiert, mit einem Zwischen-Peak in Potsdam. Entlang der „Oder-Schiene“ spielten sich allerdings ganz eigene Entwicklungen ab, so Eberhart. Dort wo besonders viel abgerissen wurde, wird jetzt wieder besonders viel gebaut. Grund sei der massive Zuzug von Altersmigranten aus dem gesamten Bundesgebiet – also von Senior/-innen, für die erschwinglicher Wohnraum und niedrige Lebenshaltungskosten attraktiv sind. Es geht also um ein sehr spezielles Immobilienmarktsegment. Dennoch bestätigte Eberhart die Trendwende. Bis vor wenigen Jahren habe sein Verband keine gemeinsame Karte von Berlin und Brandenburg zur Außenkommunikation verwendet. Da habe es eine 180 Grad-Wende gegeben. Die Botschaft: „Ziehst du nach Berlin, denk auch an Brandenburg“.
Gerade Eberharts Fokus auf den Mietwohnungsmarkt begrenzte aber die diagnostische Reichweite seiner Ausführungen. Denn mit Abwanderung aus der Großstadt erfüllen sich ja gerade Familien den Wunsch nach einem bezahlbaren Eigenheim. Auf welche Wohnpräferenzen sollen sich die Mittelstädte also einstellen? Geht es überhaupt um eine „relative Reurbanisierung“ (Boeth), die auch die Innenstädte und das städtische Leben berührt, oder fließt alles Wachstum direkt auf die grüne Wiese? Diese Fragen bewegten die Anwesenden.
Im Handeln entsteht Wissen: Perspektiven aus Planung und Stadtentwicklung
Viele wichtige Antworten fanden sich in den Statements der beiden Vertreterinnen der Stadtplanung, Silke Leuschner aus Eberswalde und Yvonne Stolzmann aus Brandenburg an der Havel, wie auch in der sich daraus entzündenden Diskussion. Und diese waren durchaus überraschend. Erstens: Der Einfluss Berlins ist – noch – begrenzt. Viel bedeutender sind momentan Rückkehrerumzüge (etwa aus den alten Bundesländern), Binnenumzüge in der Stadt und Zuzüge aus dem ländlichen Raum Brandenburgs. Zweitens: Es geht sehr wohl um Reurbanisierung, denn gerade die Innenstädte profitieren massiv von Zuzug und baulicher Aufwertung. Und drittens: Orientierungswissen entsteht gerade auch im praktischen Handeln. Die Forschung muss selbst einige ihrer Vorannahmen überprüfen, um einen produktiven Beitrag zu leisten.
Sowohl Brandenburg an der Havel als auch Eberswalde erleben gerade ein gesteigertes Interesse von Immobilieninvestoren in der Innenstadt. Auch teure, baulich anspruchsvolle Flächen werden aktuell dem Neubau – Mietwohnungen, Eigentumswohnungen und Gewerbe – zugeführt. Der Bedarf ist offenbar vorhanden und private Investoren agieren optimistischer als es der schrumpfungserfahrenen Stadtplanung lange möglich war. Die Stadt Brandenburg beabsichtigt deshalb, im nächsten Jahr eine Zuzugsstrategie zu entwickeln. Zur Wahrheit gehöre aber auch, so Stolzmann, dass es einen Bedarf nach Eigenheimen gebe, der sich nicht in den innerstädtischen Geschosswohnungsbestand umleiten lasse. Insgesamt gehe es um eine Bedarfsanpassung, die auch weiterhin Rückbau – etwa in den Großwohnsiedlungen von Brandenburg an der Havel – einschließt. Beide Planerinnen bestätigten, dass hauptsächlich die historischen Stadtkerne und die gründerzeitlichen „Ringe“ starken Zuzug erleben. Neben Bedarfsanpassung sei Stabilisierung das Gebot der Stunde, denn die demographischen Langfristtrends zeigen irgendwann wieder nach unten.
Umsiedlung oder Rückkehr aus „dem Westen“, Umzug in die schön hergerichteten und besser versorgten Innenstädte sobald die Kinder aus dem Haus sind, Erfüllung des eigenen Wohn-Ideals: Planer/-innen erleben in ihrem Alltag indirekt, was die Menschen zum Umzug treibt. Eines scheint klar: Die gegen ihren Willen aus der Berliner Innenstadt Verdrängten sind bisher keine Planungsgröße für die Städte des Städtekranzes. Wer dann? Silvia Hennig vom „Think & Do Tank“ Neuland21 regte die Diskussion mit zwei Interventionen an: Provokant auf „hochgeklappte Bürgersteige“ verweisend fragte sie nach der aktiven Gestaltung von Kultur- und Freizeitangeboten als Zuzugsstrategie, um dann noch anzuregen, man solle fragen „welchen Zuzug wir wollen“, statt ex-post die neu Zugezogenen zu beforschen.
Der Gedanke, Kultur und Stadtentwicklung zusammen zu denken, war den beiden Planerinnen jedoch nicht neu. Mit einem Jazzfestival, dem samstäglichen Kulturevent „Guten Morgen Eberswalde“ und dem historisch-reflexiven Eventformat „Tatort Lücke“ setzt Eberswalde auf eine Kulturpolitik, die die Stadt erlebbar macht. Hier lernen potenzielle Neu-Eberswalder die Stadt kennen und die Stadt sie. Hier sind auch die Berliner zu entdecken, die vielleicht doch demnächst zu einer nennenswerten Zuzugsgröße werden. Es geht dabei um geplante, sorgfältig abgewogene Zuzugsentscheidungen, wie Stephan Kathke bemerkte: „Das sind Leute, die sich bewusst auf die kleinen Städte einlassen“. Mag sein, dass auf diesem Weg auch einige Protagonisten der Videoreihe „Schön hier zu sein“ zu ihrer neuen Heimat gefunden haben.
Bleiben zwei Herausforderungen: Erstens, die aktuellen und potenziellen Zuzügler besser als bisher zu verstehen; und zweitens, in Forschung und Praxis zu einem Stadtentwicklungsnarrativ zu kommen, in welchem Brandenburg mehr ist als ein Überlaufbecken für Berlin.