Die Umwelt der Gesellschaft: Wie Krisen soziale Systeme verändern
Forschungsschwerpunkt: Ökonomie und Zivilgesellschaft
Forschungsthemen: Konzeptionelle Zugänge zu Krise und Resilienz
Projektleitung im IRS: Tjorven Harmsen
Laufzeit: 12/2018 - 03/2022
Klimawandelfolgen, Terroranschläge, technische Großunfälle: Stichworte wie diese bezeichnen Situationen fundamentaler Bedrohung, Dringlichkeit und Unsicherheit, mit denen soziale Systeme verschiedener Skalen zunehmend konfrontiert sind. Eben nicht als Einzelfall, wohl aber besonders deutlich zeigt dieses auch die Coronapandemie. Ist aus der „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2007) vielleicht längst schon eine „Weltkrisengesellschaft“ geworden?
Dieser Frage nach einer soziologischen Zeitdiagnose liegt die Beobachtung zugrunde, dass der Kommunikationsmodus der Antizipation („Risiko“) zunehmend durch einen der Reaktion („Krise“) abgelöst wird. Struktureffekte der Gesellschaft können nicht länger ausgelagert werden: Als akute Gefährdungslagen erzwingen Krisen soziale Resonanz. Ausgehend von dieser Überlegung setzt sich das Dissertationsprojekt aus einer systemtheoretischen Perspektive eingehend mit dem Krisenbegriff auseinander.
Während in Krisen sofort klar ist, dass reagiert werden musst, besteht zunächst Leere über das „Wie“ der Reaktion: Weltkonzeptionen sind unterbrochen (vgl. das Konzept der „Cosmology Episode“, Weick 1993). Der kommunikative Anschluss kann so nicht mehr quasi-automatisch vorgegeben werden, sondern muss im Verlauf der Krise neu gefunden werden. Wie sich die Dynamiken im sozialen System genau gestalten, untersucht das Projekt. Krise ist als Übergangsphase der Entwicklung kognitiver Systeme gefasst. Ergänzt wird so Niklas Luhmanns Grundannahme der Geschlossenheit von Systemen um Phasen vorangehender Offenheit. Mit dem Begriff der „Submergenz“ soll darüber ein Gegenbegriff zum bereits etablierten Emergenzbegriff geprägt werden: Bestimmte kognitive Eigenschaften stehen einem von Krise betroffenen sozialen System nicht mehr zur Verfügung, sie „tauchen ab“.
Inwiefern eine Krise so zu einer Schwerpunktverlagerung sozialer Systeme führt, kann anhand qualitativ erhobener Krisenbiographien (vgl. dazu: Projekt „RESKIU“) dargestellt werden. Untersucht wurden komplexe Schadenslagen auf See, die insbesondere durch ihre hochdynamischen Umweltbedingungen die Schließung kommunikativer Systeme erschweren. Mit dem Arbeitstitel „Die Umwelt der Gesellschaft“ soll auf eine solche Begegnung von Kommunikation und Nichtkommunikation angespielt werden. Er ergänzt den Luhmannschen Fokus auf gesellschaftsintern aktivierte Prozesse (s. verschiedene Buchtitel, z.B. „Die Gesellschaft der Gesellschaft“) um die „andere Seite“.
Das Dissertationsprojekt wird betreut durch Prof. Dr. Anna Henkel am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung der Universität Passau.
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