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Jerzy Kaczmarek (1964-2021)
Am 7. April 2021 verstarb Dr. habil. Jerzy Kaczmarek, Seniorwissenschaftler der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, Polen, plötzlich und unerwartet im Alter von 57 Jahren. Er war ein langjähriger Kooperationspartner des IRS und hoch geschätzter Kollege.
Ein Nachruf von Gabriela Christmann
Jerzy Kaczmarek wurde am 13. Dezember 1964 in Jarocin, einer Mittelstadt in der Woiwodschaft Groß-Polen geboren. Nach seinem Schulabschluss entschied er sich, Chemie zu studieren, und bereits 1984 konnte er an der Technischen Hochschule für Chemie in Poznań erfolgreich seine Ausbildung in Analytischer Chemie abschließen. Nach knapp zwei Jahren Berufstätigkeit als Chemiker in einem Labor entdeckte er allerdings, dass er sich nicht nur für die Analyse von chemischen Substanzen, sondern auch für die von sozialen Prozessen interessierte. Daher gab er 1986 seinen Beruf als Chemiker auf, um Soziologie am Institut für Soziologie der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań studieren zu können. Mit der Erlangung des akademischen Grades des Magister Artium schloss er sein Soziologiestudium 1991 mit einer Arbeit über „Die Kunst des Objekts und die Objektivierung“ ab. In jener Zeit wurde Jerzy Kaczmareks Leidenschaft für visuelle Aspekte in der Kunst und im Sozialen geweckt, die ihn nicht mehr losgelassen hat. Bevor er sich entschied, seinen beruflichen Weg in der Wissenschaft fortzusetzen, versuchte er sich zunächst als Kreativberufler in selbständiger Arbeit, wo er sich ein umfangreiches praktisches wie auch theoretisches Wissen über Visualisierungen in Form von Fotos und Filmen aneignete.
Im Januar 1994 begann er seine akademische Laufbahn als Hochschulassistent in der Abteilung „Geschichte der Soziologie“ am Institut für Soziologie der Adam-Mickiewicz-Universität. Bald zog es ihn jedoch nach Deutschland, um dort seine Studien unter anderem bei dem Soziologen und Phänomenologen Richard Grathoff zu vertiefen. Grathoff war von dem weltberühmten Soziologen, Thomas Luckmann, beeinflusst und stand schon früh für ethnographische Feldforschungen und die interpretative Soziologie ein, obwohl diese zu jener Zeit noch längst nicht anerkannt waren. Finanziert durch Stipendien der Tempus-Stiftung und des DAAD hielt sich Jerzy Kaczmarek in den Jahren 1995 bis 1997 zunächst am Goethe-Institut in Mannheim und dann bei Grathoff an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld auf, um sich mit der phänomenologischen Soziologie und mit Methoden der qualitativen Sozialforschung auseinanderzusetzen. Sein sich immer stärker entwickelndes Interesse an der visuellen Soziologie konnte er in dieser Zeit auch in methodischer Hinsicht weiter ausbauen. Im Jahr 2000 wurde er dann an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań promoviert. In 2015 erhielt er dort auch die venia legendi für Soziologie, nachdem er sich spät dazu entschlossen hatte zu habilitieren.
Jerzy Kaczmareks Forschungsinteresse hatte sich in dieser Zeit schon längst von der Kunst- und der visuellen Soziologie auf die Raumsoziologie ausgeweitet. Er hatte damit begonnen, über sozio-räumliche Transformationen in deutsch-polnischen Grenzgebieten zu forschen. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeiten über das Leben in den Zwillingsstädten Guben und Gubin an der Neiße, die ihn auch an das IRS führten. Ab dem Jahr 2000 entspannen sich die ersten Kooperationen zwischen ihm und Wissenschaftlern am IRS. Obwohl schon damals ein Kooperationsvertrag zwischen dem IRS und dem Institut für Soziologie der AMU aufgesetzt worden war, waren die Kooperationsbeziehungen zu jener Zeit jedoch eher punktueller Natur. Im Jahr 2011 veröffentlichte Jerzy Kaczmarek dann sein Buch „Gubin i Guben – miasta na pograniczu. Socjologiczne studium sąsiedztwa” [Gubin und Guben – Städte an der Grenze. Soziologische Studie der Nachbarschaft]. Bekannt war er aber auch für seine Filme. Immer war er nämlich bestrebt, Ergebnisse seiner soziologischen Forschungen nicht nur auf dem Papier festzuhalten, sondern filmisch zu dokumentieren. Den soziologischen Film betrachtete er als eine eigene Publikationsform.
Kennengelernt habe ich Jerzy Kaczmarek im Jahr 2011, als ich bereits vier Jahre am IRS tätig war. Ich hatte gehört, dass er an der AMU in Poznań zusammen mit seinen Kollegen ein interessantes Projekt durchführte, das den Titel „The invisible city“ trug (Laufzeit 2009-2011; gefördert durch das Staatliches Komitee für wissenschaftliche Forschung in Polen). Dort ging es darum, die scheinbar „unscheinbaren” Raumaneignungen, das heißt die informellen Formen der Stadtgestaltung durch Stadtbürger und Kreative, visuell zu dokumentieren und zu interpretieren. Da ich zu jenem Zeitpunkt gerade mit meinem Team am IRS an einem Projekt über „Raumpioniere in Stadtquartieren” arbeitete, wurde ich neugierig. Unbedingt wollte ich mich mit Jerzy Kaczmarek austauschen, nicht zuletzt weil auch meine Kollegen am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin ihn mir als einen „sehr kreativen Soziologen“ empfohlen hatten. Dort kannte und schätzte man Jerzy nicht zuletzt wegen seiner filmsoziologischen Ansätze, die teilweise Überschneidungen zu den videographischen Verfahren des Berliner Soziologen Hubert Knoblauch hatten. Seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 2014, mit dem Titel „Zobaczyć społeczeństwo. Film i wideo w badaniach socjologicznych” [Die Gesellschaft sehen. Film und Video in der soziologischen Forschung], die im Wissenschaftsverlag der AMU erschienen ist, zeugt davon.
Als ich Jerzy dann zum ersten Mal traf, war ich überrascht, wie gut er deutsch sprechen konnte und wie hervorragend er über die deutsche Soziologie informiert war. Fasziniert war ich auch davon, wie Jerzy der Raumforschung mittels visueller Methoden nachging. In der Raumsoziologie war er in dieser Hinsicht einer der Pioniere. Seine Forschungen waren daher ausgesprochen originell und innovativ.
Seit 2011 verging dann kein Jahr, in dem wir uns nicht mehrmals trafen. Der Weg von Erkner nach Poznań war ja nicht weit. Der Austausch mit Jerzy wurde immer regelmäßiger und er stellte uns immer mehr Kollegen aus seinem Institut vor. Vor diesem Hintergrund haben wir im Herbst 2014 den bereits bestehenden Kooperationsvertrag zwischen dem IRS und der AMU erneuert. Die Unterschriften der damaligen IRS-Direktorin, Prof. Dr. Heiderose Kilper, und des einstigen Direktors des Instituts für Soziologie, Prof. Dr. Rafał Drozdowski, besiegelten den Vertrag. Seitdem wurden die Kooperationen mit Jerzy noch enger. Längst tauschten wir uns nicht mehr nur über qualitative Methoden in der sozialwissenschaftlichen Raumforschung, die visuelle Soziologie oder über Raumpioniere in Städten aus. Vielmehr arbeiteten wir systematisch an Projektanträgen, um künftig Forschungen in gemeinsam eingeworbenen Drittmittelprojekten durchführen zu können. Ende 2016 folgte Jerzy deshalb auch unserer Einladung zu einem Gastwissenschaftleraufenthalt am IRS, damit wir besser zusammenarbeiten können.
Gekrönt wurde unsere Kooperation, als wir die Bewilligung für unser gemeinsames Projekt „Socio-spatial Transformations in German-Polish ‚Interstices. Practices of Debordering and Rebordering (De-Re-Bord)“ erhielten. Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Narodowe Centrum Nauki (NCN) finanziert und bildete den perfekten Förderhintergrund für unsere deutsch-polnische Zusammenarbeit. In unseren regelmäßigen Projektsitzungen in den Jahren 2018 bis 2020, die wir abwechselnd in Poznań, Erkner und Słubice durchgeführt haben, hat sich einmal mehr gezeigt, wie angenehm es war, mit Jerzy Kaczmarek zusammenzuarbeiten. Nicht nur, weil er einen scharfen analytischen Verstand hatte und das soziologische Handwerkszeug in Theorien und Methoden so gut beherrschte, sondern weil er ein so freundliches Wesen hatte und die Dinge auch mit einem sehr trockenen Humor zu nehmen wusste. Als ein hervorragender Netzwerker hat er zudem immer Kontakte zu wichtigen Personen herstellen können. Dankbar sind wir Jerzy ferner dafür, dass er mit Dr. Łukasz Rogowski und Dr. Maciej Frąckowiak, aber auch mit Przemysław Rura so kluge Wissenschaftler in das Projekt mitgebracht hat. Zusammen mit den Wissenschaftlern am IRS, Dr. Vivien Sommer und Kamil Bembnista, hatten Jerzy und ich ein Projektteam, das eine intensive polnisch-deutsche Zusammenarbeit pflegte und auf eine ganz eigene Weise einen Beitrag zu Entgrenzungen im deutsch-polnischen Grenzraum beitrug.
Gerade noch im Dezember 2020 hat Jerzy Kaczmarek zusammen mit Dr. Ariane Sept vom IRS einen gemeinsamen Projektantrag (bei der DFG und NCN) zum Thema „Slowing down“ eingereicht, wo es um Entschleunigung als Entwicklungsstrategie in Kleinstädten ländlicher Regionen geht. So gerne hätten wir mit ihm gemeinsam daran gearbeitet. Dies ist nun nicht mehr möglich.
Jerzy Kaczmarek wird uns sehr fehlen. Wir werden seine Impulse und Ideen vermissen. In unserer Erinnerung wird er jedoch weiterleben.
Das IRS trauert um Jerzy Kaczmarek und übermittelt seinen nächsten Angehörigen sowie der Fakultät für Soziologie an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań sein aufrichtiges Beileid.
Prof. Dr. Gabriela Christmann ist Leiterin der Forschungsgruppe „Soziale Innovationen in ländlichen Räumen” am IRS und außerplanmäßige Professorin für Raum-, Wissens- und Kommunikationssoziologie an der Technischen Universität Berlin.
Foto: Adam-Mickiewicz-Universität Poznań