Main Content
Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen
Eine Expert*innenstudie über letzte Meile, Sharing-Konzepte und urbane Produktion, IRS Dialog 1 | 2020
Paketzustellungen und Lieferdienste gewinnen aufgrund des zunehmenden Online-Handels und zuletzt durch die Corona Pandemie an Bedeutung. Für Stadtquartiere bedeuten mehr Lieferungen einen Anstieg des Verkehrs, zunehmende Emissionen und Gefahrensituationen in beengten Verkehrsräumen. All das verträgt sich schlecht mit den Zielen einer nachhaltigen Stadtentwicklung, der es auch um die Vermeidung nachteiliger ökologischer Effekte durch die Stadtlogistik geht. Expert*innen entwickeln Lösungen und Strategien zur Entlastung von Stadtquartieren bei Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Stadtlogistik. Diese reichen von technikoptimistischen Lösungen wie Tunnellogistik und Flugdrohnen bis zu Forderungen nach einer ökologischen Wende im Verhalten der Stadtbewohner*innen. Die unterschiedlichen Positionen sind symptomatisch für eine Debatte, die von Unsicherheiten über zukünftige Entwicklungen geprägt ist.
Unsere Expert*innenstudie „Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen“ will dieser Unsicherheit entgegenwirken und Orientierungswissen liefern. Das Anliegen ist es, belastbare Expertenprognosen über aussichtsreiche Logistiklösungen bereitzustellen, welche den Zielen einer nachhaltigen Stadtentwicklung Rechnung tragen. Diese sind untersetzt durch Befunde über handlungsbezogene, regulatorische und planerische Bedingungen für die Etablierung dieser Lösungen. Hierzu haben wir bundesweit eine Delphi-Befragung unter mehr als 300 Expert*innen durchgeführt, die sich beruflich oder ehrenamtlich mit Stadtentwicklung, Logistik und Mobilität beschäftigen. Im Ergebnis liefert die Studie Prognosen zu drei zentralen Zukunftsfeldern urbaner Logistik und Mobilität: der Zustellung auf der letzten Meile, dem Teilen von Fahrzeugen und Gegenständen und der urbanen Produktion. Diese Studie ist Teil des BMBF-Projektes „Stadtquartier 4.0“, das parallel ein Pilotprojekt im Berliner Holzmarkt Areal durchgeführt hat. Unter dem Leitgedanken Transporte zu vermeiden, zu verlagern und verträglicher abzuwickeln, wurden in dem alternativen Kultur- und Gewerbehof neuartige Methoden der Ver- und Entsorgung erprobt.
Die Ergebnisse zeigen einen breiten Konsens unter den Expert*innen in der Beurteilung von verkehrs- und logistikbedingten Problemlagen in Stadtvierteln. Als Antwort wird ein radikaler ökologischer Wandel von Mobilitäts- und Konsumgewohnheiten sowie Investitionen in eine Verkehrs- und Logistikwende gefordert. Unter dem Schlagwort „Copenhagenize!“ wird das Ideal einer Stadt der kurzen Wege gezeichnet, in der umweltschonende Verkehrsmittel und das Teilen von Fahrzeugen Vorrang haben. Für den innerstädtischen Lieferverkehr richten sich große Erwartungen an den Einsatz von Lastenrädern. Da die Hinwendung
zu umweltverträglichen Verkehrsmitteln in begrenztem Verkehrsraum geschieht, geht die Förderung dieser Verkehrsmittel fast zwangsläufig mit Beschränkungen für andere Verkehrsmittel einher. Konkret zeigt sich eine fast schon radikale Abwendung vom motorisierten Individualverkehr als Träger urbaner Mobilität. Statt einer technikoptimistischen Sicht auf die Lösung des Nachhaltigkeitsproblems, wie sie andere Studien ermitteln, sieht die Mehrheit der befragten Expert*innen eine Lösung eher in der konsequenten Änderung von Mobilitäts- und Konsumgewohnheiten und in der Bereitschaft, bei Bequemlichkeit und Schnelligkeit auch Abstriche in Kauf zu nehmen. Mit dieser Sichtweise bewegt sich die Mehrheit der befragten Expert*innen im Fahrwasser des Degrowth- bzw. Postwachstumsparadigmas, demzufolge für das Erreichen ökologischer und sozialer Gerechtigkeit Einschränkungen im Verbrauch von Ressourcen erforderlich sind (D‘Alisa/Demaria/Kallis 2015; Kallis 2018). Neue Technologien und Effizienzsteigerungen, welche im Paradigma der ökologischen Modernisierung ebenfalls zu ökologischer Nachhaltigkeit führen (Mol/Sonnenfeld/Spaargaren 2009; Krüger 2013), werden vor diesem Hintergrund tendenziell als nicht ausreichend betrachtet.
Für die Etablierung nachhaltiger Logistiklösungen braucht es nach Ansicht der Expert*innen staatliche Regulierung und kommunale Unterstützung. Das Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte des Logistikmarktes ist gering ausgeprägt. Beispielsweise sollten aus Sicht vieler Befragter parallele Distributionsstrukturen auf der letzten Meile durch kommunale Plattformlösungen mit anbieteroffenen Paketstationen, Mikrodepots und emissionsfreier Zustellung z.B. per Lastenrad ersetzt werden. Für die Menschen im Stadtquartier seien Anreize für eine bewusstere Nutzung des Online-Einkaufs zu schaffen, darunter eine höhere Bepreisung von Haustürzustellungen und das Verbot kostenloser Retouren. Auf Seiten der Verbraucher*innen geht das einher mit der Bereitschaft zur Umstellung von Denk- und Verhaltensweisen durch die Nutzung von Paketstationen statt Haustürlieferungen, durch die Nutzung von Carsharing statt dem Besitz eines eigenen Autos oder durch den bewussten Konsum von regional hergestellten Waren. Anreize für eine solche Umstellung sind eine hohe Funktionalität und Praktikabilität sowie die Untersetzung der Lösungen mit Werten wie ökologische Nachhaltigkeit, handwerkliche Produktion und Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Günstige Preise sind wichtig, aber nicht der zentrale Anreiz für die Änderung von Denk- und Verhaltensweisen. Soziale Akzeptanz wird nachhaltigen Logistiklösungen in jungen und kreativen Milieus zugeschrieben, kaum aber in ärmeren Bevölkerungsschichten. Das hat vermutlich mit postmaterialistischen Werthaltungen zu tun, welche sich eher in jungen und kreativen Milieus und zum Teil auch in gut situierten Gruppen finden. Für eine breite Etablierung von nachhaltigen Logistiklösungen kommt es darauf an, diese Angebote auch für weniger privilegierte Bevölkerungsschichten attraktiv zu machen.