26. Juni | 2020

Handbuch Krisenforschung veröffentlicht

Unsere Wahrnehmung der Welt wird seit geraumer Zeit von Krisen und Krisendiagnosen geprägt. Hochkonjunktur für die Krisenforschung also – doch welche Art von Forschung ist gefragt? Keine Wissenschaftsdisziplin allein kann die komplexe Dynamik von Krisen beleuchten. Deshalb arbeitet der Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“, an dem auch das IRS mitwirkt, seit 2013 an interdisziplinären Ansätzen der Krisenforschung. Mit dem Handbuch Krisenforschung ist nun ein zentrales gemeinsames Produkt des Forschungsverbundes erschienen. Das IRS ist mit drei Beiträgen prominent in dem Sammelband vertreten.

Im Leibniz-Forschungsverbund "Krisen einer globalisierten Welt" arbeiten 24 Leibniz-Institute aus fast dem gesamten Disziplinenspektrum der Leibniz-Gemeinschaft zusammen, um inter- und transdisziplinär die Mechanismen und Dynamiken von Krisen und deren wechselseitige Interdependenzen besser zu verstehen. Das neu erschienene Handbuch Krisenforschung untersucht interdisziplinär einen Schlüsselbegriff der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es arbeitet für verschiedene Bereiche den Forschungsstand zu Krisen als politischen Handlungssituationen auf und betont zugleich die enge Verbindung zur politischen Praxis, die sich in der Verwendung des Krisenbegriffs beobachten lässt. Während die Erforschung einzelner Krisenereignisse und -phänomene in vielen Disziplinen zum Tagesgeschäft gehört, sind übergreifende konzeptionelle Überlegungen zu Krisen meist auf organisatorische Aspekte des Krisenmanagements oder auf Krisendiskurse beschränkt. An diese Forschungsstände anknüpfend, aber über sie hinausweisend, bearbeitet das Handbuch Krisenforschung aus verschiedenen konzeptionellen und methodischen Perspektiven und plädiert dabei für einen reflexiven Ansatz, der den Begriff der Krise selbst als zu beobachtenden Begriff versteht.

Herausgegeben wird der Band von Frank Bösch, Nicole Deitelhoff und Stefan Kroll. In seinem Einführungsbeitrag spricht Stefan Kroll sich für eine "reflexive Krisenforschung" aus: Sie soll die realen und als Fakten nicht zu leugnenden Bedrohnungen, die etwa in Umwelt- oder Wirtschaftskrisen zu zerstörerischer Entfaltung kommen, gemeinsam mit der Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung krisenhafter Ereignisse, sowie der Ebene des krisenbezogenen Handelns betrachten. Damit soll der Begriff der Krise weniger als eine objektive Kategorie für bestimmte Arten von Ereignissen dienen, denn als Beobachtungsfokus für die Art wie reale Gefahren und der Umgang mit ihnen sich auf eine typische - eben krisenhafte - Weise aufeinander beziehen. Die Organisation des Bandes gibt Aufschluss darüber, entlang welcher Dimensionen sich eine solche Beobachtung vollziehen kann. Teil I setzt sich mit Konzepten der Krise auseinander. Teil II beschäftigt sich mit der Zeitdimension, mit Verläufen und Tempi von Krisen. Betrachtet wird aber auch die Interdependenz verschiedener Dynamiken, sowie die Verbindung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit in Krisen. Teil III beleuchtet unterschiedliche Krisenfelder (etwa Demokratiekrisen, ökonomische Krisen) und ihre spezifischen Dynamiken. Teil IV schließlich beschäftigt sich mit Strukturen des Umgangs mit Krisen, beispielsweise Krisenmanagement.

Beiträge aus dem IRS tragen zu den Teilen II und IV des Bandes bei: Im Kapitel "Zur Räumlichkeit von Krisen" rücken Verena Brinks und Oliver Ibert den bislang eher stiefmütterlich behandelten Aspekt der Räumlichkeit von Krisen in den Vordergrund. Dabei gehen sie auf vier unterschiedliche, aber sich wechselseitig beeinflussende Perspetiven auf Räumlichkeit ein: Relationalität, Territorialität, Skalarität und Topologie. Ebenfalls in Teil II diskutiert Heiderose Kilper die Interdependenz von Krisen in einer globalisierten Welt. Während Krisen uns immer schmerzhaft an die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener Gesellschaftsbereiche erinnern, so ihre These, kommt in einer globalisierten Welt der Aspekt der Transnationalität dazu. In ihrem Kapitel zur Krisenberatung (Teil IV) diskutieren schließlich Verena Brinks und Oliver Ibert das Wechselspiel unterschiedlicher Arten von Expertenwissen in Krisen. Mit ihrer Unterscheidung in Experten in Krisen und Experten für Krisen machen sie deutlich, dass in Krisen auf sehr unterschiedliche Weisen Expertise mobilisiert wird, jede mit ihrer spezifischen Relevanz, aber auch Begrenztheit.

Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, Stefan (2020) (Hrsg.): Handbuch Krisenforschung. Springer VS, Wiesbaden

Prof. Dr. Frank Bösch ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) und Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff lehrt Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt und ist geschäftsführende Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Dr. Stefan Kroll ist Koordinator des Leibniz-Forschungsverbunds „Krisen einer globalisierten Welt“ und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Institutionen“ am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Dr. Verena Brinks ist Juniorprofessorin für Geographien sozialer Medien und digitaler Kulturen an der Universität Mainz und Alumna des IRS.

Prof. Dr. Oliver Ibert ist Direktor des IRS und Professor für raumbezogene Transformations- und Sozialforschung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.

Prof. Dr. Heiderose Kilper ist die ehemalige Direktorin des IRS und emeritierte Professorin für Stadt- und Regionalentwicklung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.