02. August | 2022

„Es gab hier ein vorausschauendes Agenda-Setting“

Interview mit der ehemaligen IRS-Abteilungsleiterin Heike Liebmann

Prof. Dr. Heike Liebmann ist Mitglied der Geschäftsführung der B.B.S.M. Brandenburgische Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung mbH, eine 1990 gegründete und auf die unabhängige Beratung öffentlicher Auftraggeber spezialisierte Gesellschaft mit Sitz in Potsdam. Am IRS war Heike Liebmann ab der Gründung im Jahr 1992 beschäftigt. Die IRS-Forschungsabteilung „Regenerierung von Städten“ leitete sie von 2007 bis 2012. Sie ist Honorarprofessorin am Institut für Stadtplanung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Im Interview spannt sie den Bogen von ihrer eigenen Forschungstätigkeit am IRS zu aktuellen Herausforderungen der Stadtentwicklungspraxis.

Welche Themen treiben Sie inzwischen um, nachdem Sie vor ziemlich genau zehn Jahren das IRS verließen?

Es geht in meiner Beratungsarbeit um ein Grundthema, das mich schon am IRS beschäftigt hat, um eine nachhaltige und integrierte Stadtentwicklung. Mein heutiges Wirkungsfeld ist die in Potsdam ansässige B.B.S.M., die Brandenburgische Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung. Hier leite ich in der Tat seit ziemlich genau zehn Jahren den Bereich Stadtentwicklung. Meine Tätigkeit umfasst ein recht breites Spektrum, es reicht von Gutachten und Expertisen über die Begleitung von Netzwerken wie dem Städteforum Brandenburg bis hin zur unmittelbaren kommunalen Beratung. Aktuell begleiten wir zum Beispiel den brandenburgweiten Wettbewerb für lebendige Innenstädte. Wir arbeiten in der B.B.S.M. auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen. Das reicht von der Bundes- und Landesebene bis hin zur Quartiersebene und zu Einzelobjekten.

Großwohnsiedlungen sind aktuell ein sehr bedeutendes Forschungsthema des IRS. Beschäftigen Sie sich auch damit?

Großwohnsiedlungen beschäftigen mich schon seit meiner Diplomarbeit im Jahr 1989. Man kommt im Diskurs über nachhaltige Szenarien der Raum- bzw. Stadtentwicklung im Land Brandenburg und auch auf überregionaler Ebene am Thema Großwohnsiedlungen nicht vorbei. Nach wie vor bin ich dazu aktiv in Forschungskontexte des IRS eingebunden, aktuell mit Matthias Bernt im Projekt StadtumMig (siehe Titelteil, Anm. d. Red.).

Gibt es gerade so etwas wie eine Renaissance im politischen Diskurs über Großwohnsiedlungen?

Das mag so sein. Gleichwohl gibt es die typische Großwohnsiedlung nicht. Gut sanierte Plattenbaubestände in Innenstadtnähe oder in schöner naturräumlicher Lage sind in der Regel stark nachgefragt. Anderswo finde ich Leerstand oder erkennbare bauliche und soziale Problemlagen. Es ist also nicht nur die Wohnform an sich, die gut oder schlecht ist. Vielmehr sind die Lage, die Anbindung an die Gesamtstadt und die infrastrukturelle Ausstattung wichtige Faktoren. Nicht zu unterschätzen sind aber auch die Belegungspolitik der Wohnungseigentümer, die grundsätzliche Angebots- und Nachfragesituation auf dem Wohnungsmarkt und auch das Image spielt eine Rolle. Ich würde die gegenwärtige Aufmerksamkeit, die große Wohnsiedlungen bekommen, aber nicht als Renaissance bezeichnen. Die Frage ist doch, welche Funktionen erfüllen Großwohnsiedlungen heute? Was nahezu alle Siedlungen eint: Es sind zumeist – im Verhältnis zur Zahl der Wohnräume – relativ kleine Wohnungen für die eher weniger zahlungskräftige Mieterklientel. Und ja, damit erfüllen diese Siedlungen nach wie vor eine ganz wichtige Funktion auf dem Wohnungsmarkt. Quasi über Nacht sind viele ostdeutsche Großwohnsiedlungen dann 2015 in einen neuen Blick geraten. Angesichts großer Zahlen geflüchteter Menschen, hatte man hier schnell und preisgünstig Wohnungen und Infrastrukturen verfügbar. Aber die Menschen, die ab 2015 kamen, haben sich diese sozialen Räume nicht ausgesucht und damit stellt sich die Frage nach der Bleibeperspektive.

Zurück zu Ihrer Karriere: Welche Ideen haben Sie aus dem IRS mitgenommen?

Entscheidender als einzelne Ideen ist für mich, wie sich analytisches und methodisches Wissen aus meiner 20-jährigen wissenschaftlichen Tätigkeit am IRS in Praxiskontexten weiterentwickeln ließ. Pfadabhängigkeiten, Governance, Handlungslogiken von Akteuren oder Peripherisierung und Schrumpfung – das waren Themen zu denen ich am IRS geforscht habe. Heute sind es die Gegenstände mit denen ich mich in meiner unmittelbaren kommunalen Beratung auseinandersetze. Wenn wir in den 2000er-Jahren am IRS  versucht haben, Pfadabhängigkeiten gut zu beschreiben und zu begründen, habe ich bereits in den ersten Tagen im neuen Job bei der B.B.S.M. gemerkt: Ich bin umgeben von Pfadabhängigkeiten und diese spielen eine zentrale Rolle im Handeln der Akteure. Dieses Verständnis von daraus folgenden Handlungslogiken ist für mich ein echter Schatz und erleichtert meine Beratungstätigkeit ungemein.

Welche Prägungen gab es im Nachhinein für Sie durch das IRS?

Zum einen waren es Prägungen in den 1990er-Jahren. Da haben wir am IRS unter der Leitung von Werner Rietdorf zu Großwohnsiedlungen geforscht. Ich erinnere mich sehr gut an unsere Pionierarbeiten im Bundes-Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ zum Thema „Weiterentwicklung großer Neubaugebiete“ – gemeint waren Großwohnsiedlungen – und an die recht kontroversen Diskussionen dazu im IRS. So gab es 1997 eine erste größere Veranstaltung am IRS zum Umgang mit Leerständen. Wir haben damals versucht, das Thema in die Fachdiskussion einzubringen, weil wir erkannt hatten, dass Problemlagen im Kontext von Schrumpfung ihre ganz eigenen Instrumente brauchen. Es gab da also diese Fachtagung, bei der sehr unterschiedliche Meinungen heftig aufeinander prallten. Aber wir haben eine Diskussion angeschoben. Dann etwa um die Jahrtausendwende die Neuaufstellung einer eigenen Forschungsabteilung unter dem Titel „Regenerierung schrumpfender Städte“. Das war ein Statement zu einem Zeitpunkt als das Thema Schrumpfung in der internationalen wissenschaftlichen Community noch nicht sehr präsent war. Unter dem damaligen Institutsdirektor Dieter Keim gab es hier ein vorausschauendes Agenda-Setting, das meine gesamte weitere berufliche Laufbahn stark geprägt hat. Das führte zum Beispiel dazu, dass ich 2004 die Bundestransferstelle Stadtumbau Ost am IRS aufbauen durfte, als fachliches Kompetenzzentrum für das gleichnamige Städtebauförderprogramm. Eine Aufgabe, die ich im Auftrag des BBSR bis heute ausübe, inzwischen für das neu aufgestellte Förderprogramm „Wachstum und nachhaltige Erneuerung“. Darüber und über viele weitere Stationen im IRS habe ich mein Handwerkszeug für den Wissenstransfer und die Politikberatung entwickelt. Ich bin dankbar, die Geburtsstunden des IRS miterlebt und mitgestaltet zu haben. Meine fachliche Reputation in der Beratung auf kommunaler, Landes- und Bundesebene verdanke ich zu großen Teilen meiner langen Tätigkeit am IRS.

Was wünschen Sie sich vom IRS?

In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder gerne mit dem IRS zusammengearbeitet. Die gegenseitige Wertschätzung ist eindeutig da. Was ich mir vom IRS wünsche ist, diese typische Balance beizubehalten, das heißt auch die Anwendungsbezüge in der Forschung immer weiter auszudifferenzieren und sich dabei an ganz konkreten gesellschaftlichen Bedarfen zu orientieren. Die Diskussion darüber, was anwendungsorientierte Forschung ist und was sie leisten kann und muss, ist immer wieder neu auszuhandeln. Ich wünsche mir, dass sich das IRS hier weiter in der Verantwortung sieht. Aus meiner Sicht muss das IRS konkrete gesellschaftliche Problemlagen aufgreifen und sich in gesellschaftliche Debatten einbringen. Die Zeit braucht das, finde ich. Was für ein Glück das ist, die Freiheit zu haben, darüber zu forschen, was man für wichtig und relevant hält, das ist mir richtig bewusst geworden, als ich in den letzten Jahren von außen auf das IRS geschaut habe.

Vielen Dank, Heike Liebmann!