15. Juni | 2022

Neue Ausgabe von IRS aktuell

Orte der Ankunft – Großwohnsiedlungen in Ostdeutschland

Anfang Juni 2022 erschien eine neue Ausgabe des Magazins für Raumbezogene Sozialforschung IRS aktuell. Mit dem Schwerpunktthema „Orte der Ankunft – Großwohnsiedlungen in Ostdeutschland“ widmet sich das IRS in dieser 98. Ausgabe den industriell errichteten Großwohnsiedlungen ostdeutscher Städte und ihrem bemerkenswerten Rollenwandel. Die Beiträge von Marcel Helbig (Wissenschaftszentrum Berlin), Matthias Bernt (IRS), Madlen Pilz (IRS), Stefanie Rösler und Katja Friedrich (Institut für ökologische Raumentwicklung) und ein abschließendes Interview mit dem Raumplaner Reinhard Huß beschreiben einen Transformationsprozess von attraktiven, modernen Wohngebieten zu medial stigmatisierten Orten des Wegzugs und von dort hin zu neuen Ankunftsorten der Migration. In dem Verbundprojekt „StadtumMig – Vom Stadtumbauschwerpunkt zum Einwandererquartier? Neue Perspektiven für periphere Großwohnsiedlungen“ hat das IRS gemeinsam mit Partnereinrichtungen in der Region die Hintergründe und praktischen Herausforderungen dieses Wandels erforscht. Die versammelten Beiträge thematisieren etwa den Wandel der kommunalen Integrationsarbeit, die Rolle der Wohnungswirtschaft und Anforderungen an die Freiraumplanung.

Deutliche Ost-West-Unterschiede

Großwohnsiedlungen gibt es im Osten wie im Westen Deutschlands, wie Marcel Helbig in seinem Beitrag einleitend hervorhebt. Doch ihre Ausgangslagen, ihre Entwicklungslinien und die soziale Zusammensetzung ihrer Einwohnerschaft unterscheiden sich in beiden Landesteilen deutlich. Waren Großwohnsiedlungen in Westdeutschland von Anfang an Schwerpunktorte der Zuwanderung und bewohnt von überwiegend einkommensschwachen Haushalten, so machten die sogenannten Plattenbaugebiete in Ostdeutschland einen dramatischeren Wandel durch. Sie haben sich von beliebten und sozial weitgehend homogenen Wohnquartieren zu Orten des Wegzugs und schließlich zu Zentren der Zuwanderung entwickelt. Die sozialräumliche Ungleichheit in ostdeutschen Städten überholte in diesem Wandlungsprozess inzwischen die in westdeutschen Städten.

Dominanz westlich geprägter Forschung

In der wissenschaftlichen Forschung zu Großwohnsiedlungen, so zeigt Matthias Bernt anschließend, dominiert bisher noch eine westliche Sicht. Die vor allem in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre überall in Europa errichteten Stadtteile gelten darin als Sonderfälle auf dem Wohnungsmarkt und als potenzielle soziale Brennpunkte. Aber die osteuropäische Realität ist aus Bernts Sicht eine andere. Hier sind Großwohnsiedlungen ein normales Phänomen. Gleichzeitig haben diese Viertel mit völlig anderen Problemen zu kämpfen als ihre westeuropäischen Pendants. In einem Projekt „Estates after Transition“ haben Forschende die osteuropäische Perspektive aufgegriffen und die Planungsherausforderungen osteuropäischer Großwohnsiedlungen beleuchtet, wie Bernt berichtet.

Großwohnsiedlungen als neue Zielorte internationaler Migration

Ostdeutsche Städte sind seit 2015 zunehmend zu neuen Zielorten internationaler Migration geworden, erklärt in ihrem Beitrag Madlen Pilz. Die Zuwanderung ist dabei mehrheitlich in die Großwohnsiedlungen erfolgt, die noch über größere Leerstände im Wohnungsbereich verfügten. Hier ist der Anteil der zugewanderten Bevölkerung stark angestiegen, was die Kommunen und städtischen Zivilgesellschaften heute vor große Herausforderungen stellt. Im Rahmen des Forschungsprojektes „StadtumMig“ hat das IRS die Neuausrichtung der kommunalen Integrationsarbeit ab 2015 untersucht. Die Forschung zeigte, dass die Kommunen schnell eigene Strukturen und Kooperationsnetzwerke etablieren konnten, deren Stabilisierung jedoch weiterhin schwierig ist.

Rolle der Wohnungswirtschaft

Matthias Bernt fragt in diesem Beitrag danach, welche Rolle wohnungswirtschaftliche Eigentumsverhältnisse bei der Entwicklung von Großwohnsiedlungen spielen und wie sie Sozialstrukturen und Entwicklungsperspektiven beeinflussen. Das IRS ging diesen Fragen unter anderem in der südlichen Neustadt in Halle (Saale) und auf dem Dreesch in Schwerin nach. Hier zeigte sich, dass ostdeutsche Großwohnsiedlungen in den letzten Jahren eine Umschichtung der Hauseigentümerstruktur erlebt haben. Kommerzielle Investoren erwarben erhebliche Teile der Wohnungsbestände und wurden neben kommunalen und genossenschaftlichen Eigentümern zu einer strukturbestimmenden Größe.

Mangel an geeigneten Orten für Begegnungen

Großwohnsiedlungen wurden ursprünglich mit eigenen Stadtteilzentren und viel Grün zwischen den Gebäuden geplant, wie Stefanie Rößler und Katja Friedrich in ihrem Beitrag aufzeigen. Im besagten Projekt „StadtumMig“ hat das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden die städtebaulichen Strukturen, Freiräume und Infrastrukturen ausgewählter ostdeutscher Großwohnsiedlungen daraufhin untersucht, ob sie auch heute noch Orte für Begegnungen, für Austausch und für das Kennenlernen bieten. Dabei zeigte sich, dass es an geeigneten Begegnungsorten mangelt. Gerade unter dem Eindruck eines erneuten Einwohnerwachstums durch Migration steht die Freiraumplanung in Großwohnsiedlungen deshalb vor großen Herausforderungen.

Ist „soziale Mischung“ der richtige Weg?

In seinem Positionsbeitrag nimmt Matthias Bernt Stellung zu der Frage, wie mit Häufungen von Armut in Großwohnsiedlungen umzugehen ist. In vielen Großwohnsiedlungen kommt es zu Zuzügen einkommensschwacher Haushalte. Weil diese anderswo keinen adäquaten Wohnraum finden, ziehen sie dorthin, wo er noch bezahlbar ist. In der Summe steigt dadurch in den Großwohnsiedlungen die Konzentration von Armut. Bernt fragt, welcher Handlungsauftrag daraus für die Politik folgt. Nach wie vor herrsche in der öffentlichen Debatte das Bild einer „sozialen Mischung“ vor, die durch eine gezielte Steuerung der Bewohnerstruktur von Großwohnsiedlungen aufrecht zu erhalten oder wiederherzustellen sei. Doch die wissenschaftliche Evidenz dafür sei eher dünn. Eine andere Größe ist für den IRS-Forscher wichtiger und leichter politisch zu beeinflussen: die Infrastrukturausstattung.

Interview mit Stadtplaner Reinhard Huß

Schwerin-Mueßer Holz ist eine von drei ostdeutschen Großwohnsiedlungen, die im „StadtumMig“- Projekt unter die Lupe genommen wurden. Der Stadtplaner Reinhard Huß hat seit den frühen 1990er-Jahren die Entwicklung des Quartiers begleitet. Im Interview blickt er zurück und äußert sich am Ende dieses Heftschwerpunktes zur Diskussion über Großwohnsiedlungen als Ankunftsquartiere. Das Interview wurde von Madlen Pilz geführt.

 

In dieser Ausgabe widmen wir uns speziell den industriell errichteten Großwohnsiedlungen ostdeutscher Städte und ihrem bemerkenswerten Rollenwandel: von attraktiven, modernen Wohngebieten zu medial stigmatisierten Orten des Wegzugs und von dort zu neuen Ankunftsorten der Migration. mehr Info

Projekt "StadtumMig"