02. Juni | 2021

Das Europa der Grenzregionen: Monographie zu grenzüberschreitender Kooperation und alltäglichen Grenzziehungen erschienen

Schon lange wird in Europa über Grenzen hinweg kooperiert. Die EU hat seit ihrem Bestehen zahlreiche grenzüberschreitende Kooperationen angestoßen. Doch werden solche formalen Kooperationsbeziehungen auch von der Bevölkerung vor Ort mit Leben erfüllt? Der Politikwissenschaftler Peter Ulrich hat diese Frage in seinem Promotionsprojekt anhand von vier europäischen Beispielregionen untersucht. Vor kurzem ist seine Dissertation als Buch erschienen.

Zusammenarbeit von Regionen über Grenzen hinweg hat eine lange europäische Tradition. Diese wurde durch europäische Institutionen unterstützt. Durch das Partnerschaftsprinzip, Ko-Kreation und Subsidiarität sind regionale bottom-up-Kooperationsnetzwerke entstanden, die die wirtschaftliche, soziale und territoriale Kohäsion in den Grenzräumen stärken sollen. Gleichzeitig haben zahlreiche Krisen in der EU – spätestens die Coronakrise – vermehrt zu Grenzziehungsprozessen zwischen Staaten, Regionen und Gesellschaften geführt.

In dem kürzlich erschienenen Buch „Participatory Governance in the Europe of Cross-Border Regions: Cooperation – Boundaries – Civil Society“ werden anhand eines konzeptualisierten Analysemodells verschiedene Grenzräume innerhalb der EU mit Blick auf zivilgesellschaftliche Partizipation in grenzüberschreitend-räumlichen Governance-Prozessen analysiert und verglichen. Die im Nomos-Verlag veröffentlichte Studie ist die editierte Version der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) 2019 verteidigten Dissertation des IRS-Wissenschaftlers Peter Ulrich.

Europa der Grenzregionen – Verflechtung und Grenzziehungsprozesse

Grenzräume innerhalb Europas sind stark verflochten. In Europa gibt es über 150 grenzüberschreitende Euroregionen und über 80 Europäische Verbünde für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ). Etwa 40 % des EU-Territoriums ist Grenzgebiet, in dem 30 % der gesamten EU-Bevölkerung lebt. Durch die aktive Förderung vom Zusammenhalt innereuropäischer Grenzregionen durch Europarat und EU hat sich sukzessive ein „Europa der Grenzregionen“ herausgebildet. Trotz der immensen Verflechtungsleistung grenzregionaler Peripherien bestehen aber weiterhin verschiedene grenzbezogene Barrieren, die aus politischen, rechtlichen, administrativen, historischen, sozioökonomischen und gesellschaftlichen Grenzziehungsprozessen resultieren können und die Kooperation und Zusammenhalt über Grenzen hinweg erschweren können.  

Politik und Zivilgesellschaft in grenzüberschreitenden Räumen

Vor allen Dingen die politisch-institutionellen Verflechtungen in grenzüberschreitenden Räumen haben sich seit den 1990er Jahren stark entwickelt. Euroregionale Kooperationen und Institutionen leiden aber immer noch an mangelnder Bürgerbeteiligung und -wahrnehmung sowie Einbindung von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Diese fehlende Verbindung ist der Ausgangspunkt der Studie. Darin argumentiert der Autor, dass Grenzregionen und grenzüberschreitende euroregionale Institutionen die Orte sind, wo europäische Integration auf regionaler und lokaler Ebene täglich gelebt und in der Politik umgesetzt werden. Sie sind die Orte, wo internationale Kooperation zwischen politischen Eliten und der Zivilgesellschaft praktiziert wird und wo eine Demokratisierung europäischen Regierens gestärkt werden kann – durch eine stärkere Einbindung der Bürger. Grenzregionen rücken daher von der Peripherie in das Zentrum des Interesses.  

Vergleichendes Analysemodell zur Untersuchung von partizipativer Governance in grenzüberschreitenden Regionen

Um zivilgesellschaftliche Partizipation in Regionen vergleichend zu bemessen, entwickelt Peter Ulrich in seiner Studie theoriegeleitet ein Analysemodell. Basierend auf der politikwissenschaftlichen Forschung zu EU, Integration, Demokratie und Governance sowie zu Grenzräumen und Regionen analysiert das Modell die Kausalbeziehungen zwischen den Bedingungen, dem Verlauf und den Effekten „partizipativer Governance“ in grenzüberschreitenden Räumen. Je durchlässiger die nationale Grenze in geopolitischer und soziokultureller Hinsicht ist, so Ulrichs Hypothese, desto wahrscheinlicher ist zivilgesellschaftliche und bürgerschaftliche Partizipation in grenzüberschreitenden regionalen und lokalen Räumen. Als Effekt partizipativer Governance in EU-Grenzregionen erwartet er eine verstärkte Legitimierung und Demokratisierung von EU-Politik auf regionaler Ebene.

Vier Grenzregionen und EVTZ im Vergleich

In der Studie werden vier grenzüberschreitend-euroregionale Räume an der deutsch-polnischen, deutsch-französischen, österreichisch-italienischen und spanisch-portugiesischen Grenze analysiert und verglichen. Konkret nimmt der Autor die sogenannten EU-Instrumente EVTZ als Institutionenrahmen in den Blick. Partizipative Governance wird in diesen grenzregionalen Institutionen vor allen Dingen über Prozesse und Strukturen (über Entwicklung von Handlungsplänen und Einbezug in Arbeitsgruppen) gewährleistet, in einer der Untersuchungsregionen auch in konkreten inhaltlichen Aspekten. Grundsätzlich ist eine Entwicklung von aktiver Bürgerbeteiligung zur Schaffung von grenzüberschreitenden Bürgerdiensten im Bereich der Daseinsvorsorge (z. B. Gesundheit, Bildung, Infrastrukturen) beobachtbar, die spätestens mit der Corona-Pandemie noch an Relevanz gewonnen hat.

Ausblick: Post-Corona und verflechtungssensible Maßnahmenräume des Pandemiemanagements und der Daseinsvorsorge?

Da das Buch vor der Corona-Pandemie entstanden ist, wird in dem Buch nur in einem Epilog-Kapitel auf die Grenzschließungen als Maßnahme der Eindämmung des Virus eingegangen. Das Buch kann daher lediglich als Grundlage verstanden werden, um Maßnahmen der grenzüberschreitenden Daseinsvorsorge, Pandemiemanagement und Einbezug der Zivilgesellschaft in Zeiten der Krise euroregional weiterzudenken. Wie eine grenzüberschreitende Daseinsvorsorge in Euroregionen Post-Corona aussehen soll, wird gerade in einem INTERREG-Projekt untersucht, das Peter Ulrich an der Europa-Universität Viadrina in Kooperation mit dem Collegium Polonicum koordiniert.