30. April | 2021

Standpunkt

Mietenregulierung oder Marktwirtschaft? Die Debatte um den Berliner Mietendeckel schießt zu kurz

Die Reaktionen auf das Mietendeckel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind zu schlicht. Sie ignorieren wesentliche Charakteristika des Mietwohnungsmarktes: Damit Angebots- und Nachfrageseite sich in diesem Markt auf Augenhöhe begegnen können und so tatsächlich Anreize für ein gutes Angebot an Mietwohnungen geschaffen werden, bedarf es eines starken gemeinwohlorientierten Gegengewichts zur Verwertungslogik der Anbieterseite.

Von Matthias Bernt

Als das Bundesverfassungsgericht am 15. April 2021 den Berliner Mietendeckel für unvereinbar mit der deutschen Verfassung und daher „nichtig“ erklärte, waren die Reaktionen entlang eines Links-Rechts Schemas vorhersehbar. Auf der Linken wurde (mit einigem Recht) auf die schwierige soziale Situation hingewiesen, in die die steigende Mietbelastung mittlerweile auch immer mehr Normalverdienende in den Metropolräumen bringt. Die Bundesregierung wurde entsprechend aufgefordert, endlich zu handeln: „Der Kampf geht weiter“. Unverhohlene Freude herrschte demgegenüber bei Konservativen, Liberalen und Wirtschaftsverbänden. Der Mietendeckel habe so für „Unsicherheit auf den Wohnungsmärkten gesorgt, Investitionen ausgebremst und keine einzige neue Wohnung geschaffen“ (Bundesbauminister Seehofer von der CSU). Mit ihm sei der Eindruck entstanden, dass der Staat immer mehr und immer stärker in die privatwirtschaftliche Gestaltungsfreiheit eingreife (Wirtschaftsminister Altmaier von der CDU). Mit der Entscheidung aus Karlsruhe gäbe es nun „wieder grünes Licht für Investitionen in mehr Neubau, Klimaschutz und generationengerechtes Wohnen“ (Maren Kern, Vorstand des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen).

Gemeinsam ist all diesen Positionen eine zu simple Gegenübersetzung von Regulierung und Markt. Sie führt argumentativ zu einer Pattsituation, in der wirtschaftsnahe Positionen immer darauf drängen werden, dass zu viel Regulierung „Gift“ für die Märkte sei – während mieternahe Positionen immer darauf hinweisen werden, dass „der Markt allein“ nicht in der Lage ist, ausreichend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Beide Positionen sind unterkomplex. Denn in der Realität sind Wohnungsmärkte überall Gegenstand von zahlreichen Regulierungen, ohne die sie überhaupt nicht funktionieren könnten. Deutschland ist in dieser Hinsicht nicht einmal besonders auffällig. Es geht also nicht um „Mehr Markt“ oder „Mehr Staat“, sondern um die Art und Weise wie beide miteinander verbunden werden. Aber welche Rolle spielt die Mietenregulierung in diesem Zusammenhang überhaupt? Warum gibt es – und übrigens in vielen Ländern und jüngst wieder zunehmend – Mietenregulierungen?

Dem Mietwohnungsmarkt fehlt das Gleichgewicht

Entgegen einer häufig von Marktliberalen geäußerten Ansicht besteht der Hauptzweck von Mietregulierungen nicht in „Wahlgeschenken“ oder „sozialen Wohltaten“. Er liegt vielmehr in fundamentalen Problemen des Wohnungsmarktes selbst begründet. Folgt man einer wohlfahrtsökonomischen Argumentation, kann wirtschaftliche Effizienz durch Märkte nur erreicht werden, wenn vier Standardkriterien erfüllt sind: perfekte Information, perfekter Wettbewerb, vollständige Märkte und kein Marktversagen. All diese Kriterien treffen auf Wohnungsmärkte in der Regel nicht zu. Insbesondere das Kriterium des vollkommenen Wettbewerbs, das verlangt, dass alle Akteure die gleiche Macht haben, ist auf dem Mietmarkt typischerweise nicht erfüllt. Da Wohnen zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehört, um den Wohnort herum vielzählige praktische und emotionale Netzwerke aufgebaut werden und ein Wohnungswechsel aufwendig, anstrengend und teuer ist, kommt es zu einem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Mieterseite und Vermieterseite. Die Vermieterseite erlangt eine größere Marktmacht, weil Mieterinnen und Mieter, die mit hohen Suchkosten konfrontiert sind, eher bereit sind, eine Miete zu akzeptieren, die höher als die Marktmiete ist. Dies begünstigt wiederum ein „rent seeking“, in dem Vermieter – ohne adäquate Leistung – Gewinn aus der Not der Wohnungssuchenden ziehen können. Eine staatliche Regulierung der Mietpreise kann in diesem Sinne ein besseres Kräftegleichgewicht zwischen den Parteien herstellen und damit Anreize für eine Verbesserung des Angebotes setzen.

Falls dies zu abstrakt erscheint, sei ein Blick nach London erlaubt. Dort unterliegen die Mieten im privaten Mietwohnungssektor seit 1988 dem freien Wettbewerb. Die Folge sind nicht nur exorbitante Mietsteigerungen und ein grassierender Wohnungsmangel, sondern auch ein – verglichen mit Deutschland – miserabler Instandhaltungszustand und eine schlechte Wohnqualität. Eine Situation, in der Vermieter es nicht nötig haben, um Mieter zu konkurrieren und Mieter sich kaum wehren können, führt hier offensichtlich nicht zu einem besseren Angebot der Ware Wohnung in ausreichender Zahl und in akzeptabler Qualität zu einem adäquaten Preis – sondern zu einem besonders ineffektiven Wohnungsmarkt, in dem das Gros der Nachfrager kaum eine Wahl hat und die Anbieter in leistungslosen Renten baden können.

Das deutsche Modell: „Integrated Rental Market“

All das ist nicht neu. Die Unfähigkeit des Marktes aus sich selbst heraus effektiv zu funktionieren hat seit der Entstehung moderner Gesellschaften immer wieder zu Wohnungskrisen geführt. In der Folge entstanden seit dem 1. Weltkrieg überall in Europa umfangreiche staatliche Regulierungssysteme, mit denen die Mietpreisentwicklung reguliert und beschränkt wurde.  Die Architektur dieser Systeme unterscheidet sich dabei im Ländervergleich allerdings erheblich: In Großbritannien wurde so einem kaum regulierten privaten Wohnungssektor ein öffentlicher Sektor zur Seite gestellt („council housing“), der die „Problemfälle“ des Wohnungsmarktes auffangen sollte. Nach vier Jahrzehnten neoliberaler Reformen ist von diesem Sektor allerdings nur noch wenig übrig. In Schweden, im Kontrast, wurde dem öffentlichen Sektor bis in die 1990er Jahre die Führungsrolle in der Wohnungsversorgung zugesprochen und die Konditionen im privaten Mietwohnungsbereich mussten sich nach diesem ausrichten. In südeuropäischen Ländern dominierten eher „familiale“ Wohnungsversorgungssysteme, in denen die Wohnungsversorgung eng an den Besitz und die Weitergabe von Eigentumswohnungen im Familienverband gebunden war.

Das deutsche System ist in dieser Hinsicht durchaus außergewöhnlich. In der vergleichenden Wohnungsforschung wird es als „integrated rental market“ bezeichnet, weil die Mehrzahl der Wohnungen zur Miete angeboten wird und weil öffentliche und private Anbieter im Prinzip denselben gesetzlichen Regelungen unterliegen. In Übereinstimmung mit den ordoliberalen Ansichten der Gründungsväter der Bundesrepublik Deutschland ist die deutsche Wohnungspolitik traditionell von der Grundüberzeugung geleitet, dass der Wohnungsmarkt zwar im Prinzip das beste Allokationsinstrument für Wohnraum darstelle – dieser aber gleichzeitig immer wieder von Funktionsstörungen betroffen sei. Der Staat habe deshalb die Aufgabe, in den Markt einzugreifen und durch eine Vorgabe von Preissteigerungskorridoren (Mietspiegel, Verbot von Wuchermieten), durch Förderung (Sozialer Wohnungsbau) und durch eigene Angebote (kommunale Wohnungsunternehmen) für sein effizientes und wohlfahrtsteigerndes Funktionieren zu sorgen.

Dass dieses Modell in der Vergangenheit einigermaßen funktionieren konnte, liegt vor allem an dem starken Einfluss öffentlicher und halböffentlicher Anbieter. Bis weit in die 1980er Jahre wurde ein erheblicher Teil der Wohnungen in Deutschland von preisgebundenen gemeinnützigen Vermietern angeboten, ein weiterer erheblicher Teil unterlag aufgrund der Förderung als sozialer Wohnungsbau mehrere Jahrzehnte dauernden Miet- und Belegungsbindungen. Da die Mieten dieser Wohnungen in die lokalen Mietspiegel eingingen, hatte das öffentliche Engagement auch einen preisbildenden Effekt auf den frei finanzierten Bereich. In Berlin, um ein Beispiel zu nennen, waren so 1990 bei einem Bestand von etwa 1,6 Millionen Mietwohnungen etwa eine halbe Millionen Wohnungen im Besitz gemeinnütziger kommunaler Vermieter. Rund 350.000 Wohnungen waren Sozialwohnungen, hinzukamen (je nach Zählweise) etwa 150 bis 200.000 in weiteren Programmen miet- und belegungsgebundene Wohnungen. Im Ergebnis wurde die Mietentwicklung stark durch öffentliche und quasi-öffentliche Anbieter geprägt.

Ausgleichsmechanismen wurden abgeschafft

Diese Situation ist heute Vergangenheit. Durch Verkäufe und Privatisierungen sank, wieder in Berlin, der Bestand der kommunalen Wohnungsunternehmen auf 322.000 Wohnungen (2019). Der Bestand von Sozialwohnungen wurde drastisch – um fast drei Viertel, auf 95.000 Wohnungen – reduziert. Hinzu kommt, dass auch kommunale Vermieter seit dem Ende der Gemeinnützigkeit 1990 deutlich marktorientierter agieren und ihre Preise (wenn auch mit Abstand) am Marktniveau orientieren. Die im deutschen Wohnungssystem vorgesehenen „Dämpfer“, die in der Vergangenheit ein Gegengewicht zu einer reinen Marktsteuerung des Mietenniveaus bildeten, wurden also stark geschwächt. Entsprechend gingen die Vergleichsmieten nach oben – in Berlin, allein im letzten Jahrzehnt um fast 30 Prozent. Noch stärker stiegen die Angebotsmieten. Sie lagen in Berlin im Jahr 2020 im Mittelwert um 50 Prozent über den Vergleichsmieten. Offensichtlich liegen diese Werte deutlich oberhalb der allgemeinen Einkommensentwicklung.

Über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hat die öffentliche Hand sich also aus dem Wohnungsmarkt zurückgezogen und in der Folge sind die im deutschen „housing system“ vorgesehenen Gegengewichte, die einer zu starken Ausnutzung der Machtposition der Vermieter entgegen wirken und einen effektiv arbeitenden Markt garantieren sollten, geschwächt worden. Wenig überraschend haben private Vermieter von dieser Entwicklung profitiert und ihre oben beschriebene Machtposition nutzen können, um überproportionale Einkommenszuwächse zu erzielen.

Die Deutsche Wohnen SE, mittlerweile größter Vermieter Berlins, ist hier nur ein schimmerndes Beispiel. Seit Börsengang stiegen sowohl der Kurs als auch die ausgezahlte Dividende der DW-Aktie kontinuierlich. Nach Berechnung des Berliner Mietervereins zahlt inzwischen jeder Mieterhaushalt mit seiner Miete im Durchschnitt 179,- Euro pro Monat direkt in das Portemonnaie der Aktionäre. Gleichzeitig steigen die Mieten, die Instandhaltung und der Service des Unternehmens sind mangelhaft und die Neubauaktivitäten vernachlässigbar. Offensichtlicher sind die Folgen der verschobenen Machtbalance kaum auszumachen. In dieser Situation war der Berliner Mietendeckel der Versuch einer Notbremse. Er war nötig, weil das Land weder die Möglichkeit hat, den Wohnungsbestand schnell auszuweiten, noch von heute auf morgen die preisgebundenen Bestände im notwendigen Maß erhöhen kann.

Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist diese Notbremse Geschichte und der „Mietenwahnsinn“ fährt mit hohem Tempo weiter. Die Aufgabe, eine effiziente Mietenregulierung zu finden, ist damit aber nicht passé, sondern nur an die Bundesregierung weitergegeben. Leider bietet das nur wenig Anlass zu Hoffnung. Denn bislang hat die Bundespolitik eine Verschiebung des oben beschriebenen Gleichgewichtes auf dem Wohnungsmarkt nicht nur sehenden Auges hingenommen, sondern teilweise sogar beschleunigt. Mit der Schuldenbremse und der Föderalismusreform hat sich der Bund so weitgehend aus der direkten Wohnungsbauförderung zurückgezogen. Gleichzeitig hat die Bundespolitik seit den 2000er Jahren renditeorientierten Investoren mit dem Verkauf von öffentlichen Beständen, der Einführung von Real-Estate-Investment-Trusts und dem unterlassenen Verbot von Share Deals spekulativen Investoren Tür und Tor geöffnet. Die im Gegenzug im Jahr 2015 eingeführte Mietpreisbremse ist ineffektiv. Sie wird von kaum einem Vermieter angewandt. Die Herabsetzung der Modernisierungsumlage auf 9 Prozent und die Ausweitung der Berechnungsgrundlage für die Vergleichsmiete von vier auf sechs Jahre sind bestenfalls ein Reförmchen.

Ohne ein entschiedeneres Handeln der Bundespolitik droht die Balance des deutschen „integrated rental market“ damit in Zukunft immer stärker in eine Schieflage zu geraten. Ob das Gegensteuern gegen diese Entwicklung durch mehr Regulierung, oder mehr Förderung, oder durch eigenen Wohnungsbau, oder durch alles zusammen, geschieht ist im Prinzip zweitrangig. Ohne strengere Regeln und/oder ein starkes gemeinwirtschaftliches Gegengewicht ist vorauszusehen, dass private Vermieter ihre überlegene Machtposition auch in Zukunft nutzen werden, um auf Kosten ihrer Mieter hohe Profite einzufahren. Die wahrscheinliche Folge ist – wie das Beispiel London zeigt - nicht unbedingt eine ausgeglichener Wohnungsmarkt und einer leistbare Mietenentwicklung. „Windfall profits“ sind im Bestand viel anstrengungsloser zu erreichen.