19. September | 2019

Freiwilliger Flugverzicht für den Klimaschutz: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IRS beteiligen sich an Aktion zum globalen Klimastreik am 20. September

Zahlreiche Forscherinnen und Forscher an sieben Berlin-Brandenburger Wissenschaftsinstitutionen verpflichten sich, auf Kurzstrecken nicht mehr zu fliegen. Sie wollen damit einen Beitrag zu einem besseren Klimaschutz leisten. Am IRS beteiligt sich rund die Hälfte der Beschäftigten an der Aktion, die an der Technischen Universität Berlin ihren Ausgang nahm und über das Netzwerk Scientists4Future organisiert wurde. Auf diesem Weg soll auch eine vertiefte Diskussion über Nachhaltigkeit in der Forschung angestoßen werden. Denn die Wissenschaft braucht Austausch und Begegnung, Mobilität und Flexibilität. Die Frage ist, wie sie bewerkstelligt und organisiert werden.
 

Freiwilliger Verzicht: Hälfte der Beschäftigten des IRS schließt sich an

Mobilität ist für die Wissenschaft unverzichtbar. Forschungsreisen gehören ebenso zu Arbeit und Leben von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie Konferenzbesuche und Gastaufenthalte an Forschungsinstitutionen im Ausland. Aber muss für diese Zwecke immer geflogen werden? Die Wissenschaft gehört zu den lautesten Mahnern für eine entschiedene Klimapolitik und ein klimabewussteres Handeln der Gesellschaft. Zugleich wird in der Forschung mit großer Selbstverständlichkeit das Flugzeug als Verkehrsmittel über lange, aber auch über kurze Distanzen benutzt – ein Umstand, der von Forschenden selbst zunehmend kritisiert wird.

In Vorbereitung auf den globalen Klimastreik am 20. September 2019 haben sich nun zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an sieben Berliner und Brandenburger Universitäten und Instituten (neben dem IRS die drei großen Berliner Universitäten, die Beuth-Hochschule, die Universität Potsdam und die Hochschule Potsdam) zu einem anderen Flugverhalten verpflichtet. Konkret verpflichten sie sich, künftig bei Kurzstrecken – also bei Entfernungen unter 1.000 Kilometern oder bei Reisezeiten unter 12 Stunden mit der Bahn – auf das Fliegen zu verzichten und auf klimafreundliche Verkehrsmittel wie die Bahn umzusteigen. Am IRS haben sich bisher insgesamt 42 von 84 Beschäftigten der Selbstverpflichtung angeschlossen, darunter 29 von 55 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und 13 von 29 Beschäftigten im unterstützenden Bereich. An allen beteiligten Einrichtungen zeichnen sich Beteiligungsraten von mindestens 10% ab. Insgesamt wurden rund 1.700 Selbstverpflichtungen gesammelt.

Dienstliche Kurzstreckenflüge ersetzen

Initiiert wurde die Aktion von Martina Schäfer, Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Zentrums Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Über das Netzwerk Scientists4Future fand sie Mitstreiter. Schäfer hält wissenschaftliche Dienstreisen für einen kritischen Faktor für die Nachhaltigkeit des Forschungssystems insgesamt. Sie erklärt: „Dienstreisen führen zu bedeutsamen Treibhausgasemissionen. Beispielsweise hat die ETH Zürich festgestellt, dass praktisch die Hälfte ihrer CO2-Emissionen von dienstlich bedingten Flügen stammen. Wegen der sogenannten Höhenwirkung schätzt das Umweltbundesamt die klimaschädigende Wirkung des Fliegens als etwa 2-5-mal so groß ein, wie es durch den reinen CO2-Ausstoss zu erwarten wäre. In Deutschland dürfte ca. 10 % der Klimaschädigung durch das Fliegen verursacht sein. Obwohl Kurzstreckenflüge nicht das Gros der dienstlichen Flüge ausmachen, lassen sie sich am ehesten mit Bahnfahrten ersetzen.“

Am IRS ist Timmo Krüger, Postdoc in der ehemaligen Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“, bei Scientists4Future aktiv. Er warb für die Selbstverpflichtung. Krüger sagt: „Ich möchte einen eigenen Beitrag zum Klimaschutz leisten, und da ist der Verzicht aufs Fliegen nun mal die größte Stellschraube. Darüber hinaus sehe ich die Stärke der Initiative darin, öffentliche Debatten anzuregen. Unsere Selbstverpflichtungen sind nur der erste Schritt. Das Wissenschaftssystem muss sich grundsätzlich ändern, wenn es die sozialökologische Krise wirklich ernst nehmen will.“

IRS-Leitung begrüßt offene Diskussion

Das IRS erforscht soziale Transformationen und Innovationen – zu den Forschungsthemen zählen unter anderem die Energiewende, der Kohleausstieg, veränderte Verkehrsleitbilder und neue Entwicklungen bei Klimaschutz und -anpassung. Die Frage, wie Flugreisen in der Praxis ersetzt oder ausgeglichen werden können, wird im IRS auch vor diesem Hintergrund mit großer Offenheit diskutiert. Zur Sprache kommen dabei allerdings auch die Grenzen der individuellen Entscheidungsfreiheit. Wichtige Größen sind etwa das Reisekostenrecht, das Dienstreisende auf wirtschaftliche Entscheidungen verpflichtet, und die weit verbreitete Orientierung an Billigflügen bei der Kalkulation von Projekten und Reisekosten, etwa durch Drittmittelgeber. Hinzu kommt das oft starke Engagement der Forscherinnen und Forscher in verschiedenen Netzwerken, Gremien und Projekten, welches ihnen ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität abverlangt.

Oliver Ibert, Direktor des IRS sagt dazu: „Ich begrüße ausdrücklich, dass diese Diskussion geführt wird, auch im IRS. Ich unterstütze die Bemühungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihren Klimafußabdruck zu verringern. Für mich ist jedoch klar, dass Mobilität, auch schnelle und flexible Mobilität, für die Wissenschaft unverzichtbar ist. Wir müssen an vielen Stellschrauben arbeiten, um die Nachhaltigkeit von Forschungsaktivitäten zu verbessern: dem Reisekostenrecht, der Förderpraxis von Drittmittelgebern, der Nutzung von Videokonferenzen und vielem mehr. Als sehr viel zentraler als organisatorische und institutionelle Hürden scheint mir aber die insgesamt begrenzte zeitliche Verfügbarkeit von Personen zu sein. Das ist nicht nur eine Frage voller Terminkalender, sondern auch und vor allem eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Insofern muss wohl jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler für sich die Umsetzbarkeit eines Flugverzichts individuell prüfen.“

Flugverzicht schon länger praktiziert

Unter denjenigen, die sich am IRS zu einem Flugverzicht verpflichten, sind auch zwei von insgesamt fünf Abteilungsleitungen des IRS: Christoph Bernhardt, Leiter der ehemaligen Historischen Forschungsstelle des IRS und Ludger Gailing, kommissarischer Leiter der ehemaligen Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“. Gailing erklärt: „Ich halte einen Flugverzicht aus Klimaschutzgründen für richtig und auch für umsetzbar. Innerhalb von Europa fliege ich generell nicht zu Konferenzen und Forschungsaufenthalten, sondern fahre Bahn. Ich hatte noch nie Probleme mit der Kostenerstattung. Meiner Erfahrung nach sind Bahnreisen auch nicht generell teurer als Flugreisen, wenn sie zeitig gebucht werden. In Hochgeschwindigkeitszügen kann ich außerdem sehr gut arbeiten; es gibt überall W-LAN und Ruheabteile. Die Stunden auf der Reise sind oft meine produktivsten.“

Kristine Kern, Leiterin zweier Drittmittelprojekte zu städtischer Klimapolitik, ergänzt: „Das Bundesreisekostengesetz stammt noch aus einer Zeit, als Flüge teurer waren als Bahmreisen. Daher geht das Gesetz davon aus, dass der Dienstreisende grundsätzlich die Bahn nimmt. Die Flugreise ist die Ausnahme und muss eigentlich begründet werden. Das Reisekostenrecht ist deshalb kein Hindernis. Ich praktiziere diese Selbstverpflichtung schon seit längerer Zeit und habe auch schon diverse Auslandsdienstreisen mit dem Zug gemacht, beispielsweise nach Brüssel. Eigentlich müsste man schon beim Beantragen von Drittmitteln darauf achten, dass diese Selbstverpflichtung berücksichtigt wird. Die Freiheit, die man rein rechtlich hat, nützt nicht viel, wenn man mit Billigflügen kalkuliert hat."

Die Ergebnisse der Gesamtaktion wurden auf der zentralen Kundgebung zum Klimastreik am 20. September 2019 vor dem Brandenburger Tor in Berlin vorgestellt.