19. Juni | 2018

Raumbezogene Forschung in Zeiten von digitalen Welten und Virtual Reality

Spitzenforscher und Nachwuchswissenschaftler auf der IRS Spring Academy 2018

Die dynamische Entwicklung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere das Internet, hat enorme Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Räumen und auf das raumbezogene Handeln eines großen Teils der Weltbevölkerung. Dies findet in neuen Praktiken der Arbeit (ortsungebundene, digitale Arbeit), der Forschung und Entwicklung (Wissensteilung auf Online-Plattformen, Crowdfunding, Virtuelle Labore) oder im Alltag (synchrone und asynchrone Kommunikation, neue raumbezogene Identitäten) ihren Ausdruck. Die hohe gesellschaftliche Relevanz dieser Entwicklung und die große Bedeutung für die raumbezogene Forschung war für das IRS der Anlass, die zweite „IRS Spring Academy“ diesem Thema zu widmen und gemeinsam mit renommierten Wissenschaftler/-innen und Nachwuchsforscher/-innen aus aller Welt dem sich rasant verändernden Verhältnis von sozio-materiellen und virtuellen Räumen konzeptionell, methodisch und empirisch zu nähern.

Die IRS Spring Academies sind eine Veranstaltungsreihe, die das IRS im Jahr 2017 gestartet hat, um jungen Wissenschaftler/-innen die Möglichkeit zu geben, aktuelle methodische und konzeptionelle Trends in der raumbezogenen Forschung gemeinsam mit renommierten Forscher/-innen aus dem IRS und von anderen Institutionen zu rezipieren und zu diskutieren. Die erste Veranstaltung im Jahr 2017 widmete sich den wandelnden Zusammenhängen von Raum und Zeit. Für die zweite Veranstaltung, vom 22. bis zum 25. Mai 2018, lautete das Thema „Virtuality and Socio-Materiality“. Drei Abendvorträge von Matthew Zook (Professor für Information and Economic Geography an der University of Kentucky), Samuel Kinsley (Lecturer für Geographie an der University of Exeter) und Gertraud Koch (Professorin für Ethnologie und Kulturanthropologie an der Universität Hamburg) führten aus unterschiedlichen Perspektiven in die Thematik ein. Dabei wurde deutlich, dass es schon in den Begrifflichkeiten „digital“ und „virtuell“ Diskussionsbedarf gibt: Koch deutete beispielsweise an, dass „das Digitale“ – verstanden als Nutzung von Zeichensystemen mit einer begrenzten Anzahl von Symbolen – bereits sehr lange die menschliche Kommunikation prägt. Auch Virtualität ist kein grundsätzlich neues Phänomen, „kollektiv halluzinierte Realitäten“ (Shields) durch geschickte Täuschungen unserer Sinnesorgane weisen ebenfalls eine lange Historie auf. Nicht zuletzt ist auch die Prägung der Kommunikation durch Medien bereit sehr etabliert, sowohl das Auftreten neuer Medien als auch der Wandel existierender Medien (vom gemalten Bild zur Fotografie oder vom Brief zum Telefax) ist seit Generationen beobachtbar. All diese Vorgänge beeinflussen also schon lange die Raumwahrnehmung und das Raumverhalten von Menschen und können jeweils für sich betrachtet nicht die Dramatik des aktuell sich vollziehenden Wandels erklären.

Vielmehr erscheinen vor allem die Erhöhte Dynamik der jeweiligen Prozesse und ihr intensiviertes Zusammenwirken als wichtigste Ursachen für den radikalen Wandel, der derzeit unter der Chiffre „Digitalisierung“ diskutiert wird. Digitale Technologie ermöglicht die Entwicklung neuer Medien in hoher Geschwindigkeit und verwischt die zuvor noch klare Grenze zwischen „Konkretem“ und „Virtuellem“. Zudem führt die quasi ubiquitäre Verfügbarkeit dieser Technologien zu einer enormen Reichweite dieser Prozesse und zu Auswirkungen auf das raumbezogene Handeln der Menschen. Streamingdienste für Musik, digitale Kommunikationsplattformen, „Augmented Reality“-Spiele, aber auch Maschine-Maschine-Kommunikationen, Algorithmen und Codes schaffen eine neue Qualität in den Prozessen der Mediatisierung, Digitalisierung und Virtualisierung. Matthew Zook illustrierte die raum- und handlungsprägende Kraft von Codes in seinem Vortrag anhand von Communities von Code-Hackern, die sich Lücken in den Bonusmeilen-Algorithmen von Fluggesellschaften zunutze machen. Die Kontrolle von Code sei eine nicht zu unterschätzende Machtposition in der modernen, digitalisierten und kapitalisierten globalen Gesellschaft geworden.

Samuel Kinsley griff in seinem Vortrag die unscharfen Begrifflichkeiten auf, die für die veränderten Räumlichkeiten durch die Konvergenz von Digitalisierung, Mediatisierung und Virtualisierung gefunden wurden. An der Frage, was genau sich hinter der Metapher „Cyberspace“ aus kultursoziologischer und anthropologischer Sicht verbirgt, leitete er beispielsweise Implikationen für die Raumtheorie ab. Das Vordringen in Welten, in denen das Konkrete und das Virtuelle nicht klar zu unterscheiden sind, verglich er mit dem Vordringen altweltlicher Siedler in den Westen der USA – ein ständiges Verschieben von Grenzen, von Neudefinition von Bekanntem und Unbekanntem sowie von der gegenseitigen Befruchtung von Metaphorischem und exakt Definiertem. Ähnlich wie Matthew Zook bereits in den 1990er Jahren für eine „Geographie des Internets“ plädierte, machte er sich für Konzeptualisierung und Theoretisierung von digitalen Geographien stark.

Die 26 Teilnehmer/-innen der Spring Academy 2018 haben ihre eigenen Forschungsarbeiten, zumeist Promotionsprojekte, in Paper Pitch-Sessions vorgestellt und in den Kontext dieser Entwicklungen gestellt. Dabei wurde deutlich, für welch umfangreiche Palette empirischer Handlungsfelder die Digitalisierung raumbezogenen Handelns relevant sein kann. Die drei IRS-Doktorand/-innen Tim Rottleb, Anna Oechslen und Marc Schulze präsentieren beispielsweise Forschungen zum Wandel von Arbeits- und Wissensteilungsprozessen durch International Branch Campuses (IBCs) auf der einen Seite und global operierende Online-Plattformen auf der anderen Seite. Es sei zu erwarten, dass sich die Globalisierung der Wissensökonomie, die sich in den IBCs manifestiert, fundamentale räumliche Auswirkungen auf die Orte und die Mobilität der Personen und des Wissens haben wird. Auch Plattformen wie soziale Medien oder Fachdienste hätten maßgeblichen Einfluss darauf, wie der Wert von Arbeit transnational und transkulturell verhandelt werde.

Ein zweiter Fokus wurde in mehreren Promotionsprojekten deutlich, die sich mit dem Spannungsfeld aus Sicherheit und Überwachung unter Einsatz digitaler Technologien befassten. Viola Mari und Azadeh Akbari stellten ihre Forschungen vor, die vor allem darauf abzielen, die mit Räumen assoziierten Wahrnehmungen von Sicherheit und Unsicherheit zu ergründen. Dabei geht es sowohl um materiell-physische Räume wie Städte und Stadtquartiere als auch um digitale Räume: Akbari untersucht beispielsweise, wie Überwachungskameras in iranischen Universitäten auf die Studentenbewegung des Landes rückwirken und wie staatliche Stellen über Kreditkarten einen enormen Datenbestand über ökonomisches Verhalten gewonnen haben, der unter anderem für die Kontrolle von Sozialleistungen verwendet wird. Hoffnungen auf mehr Sicherheit verknüpfen sich ebenso wie Befürchtungen über mehr Überwachung an die neuen technologischen Möglichkeiten.

Der Gedanke, dass „Big Data“ maßgeblichen Einfluss auf sozio-räumliche Prozesse haben kann, fand sich auch in mehreren Paper Pitches wieder, die smart cities, smart urban growth oder smart agriculture thematisierten. Ignacio Pérez Karich versucht in seinem Promotionsvorhaben an der University of Oxford beispielsweise zu analysieren, wie sich big data und institutioneller Wandel in Stadtverwaltungen in Santiago de Chile und Barcelona gegenseitig bedingen und formen. Die Zirkulation von raumbezogenen Daten, die durch deren digitale Natur ermöglicht wird, hat maßgeblichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse, vermutet Karich. Er versucht daher nachzuvollziehen, wie und wo diese Daten zirkulieren und welche Praktiken sich aus ihrer Verfügbarkeit und Nutzung ergeben.

Anders als im Themenfeld Überwachung und Sicherheit zeigten einige Präsentationen auch ein Potenzial von Digitalisierungsprozessen auf, sozialräumlichen Marginalisierungen entgegenzuwirken. Am Beispiel ländlicher Regionen und Klein- und Mittelstädten zeigten Reto Bürgin und Madeleine Wagner, dass die Digitalisierung von Arbeits- und Planungsprozessen eine Chance für die Regionalentwicklung sein kann, indem sie bestimmte Mechanismen wie Stadt-Land-Wanderung aufgrund mangelhafter Infrastruktur aushebeln kann. Bürgin stellte eine Schweizer Initiative vor, die durch eine umfassende Breitbandausstattung abgelegener ländlicher Räume die Grundlage für Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in peripherisierten Regionen schaffen möchte.

Diese und viele weitere Themenfelder – von Katastrophen- und Resilienzforschung bis zu Musikfestivals und Kreativitätsforschung – trugen zur einer facettenreichen und tiefgehenden Debatte um zentrale Fragen um die Soziomaterialität virtueller Räume bei: Wo genau liegt die Grenze zwischen „konkret“ und „virtuell“? Wie überlagern und bedingen sich materielle und medial vermittelte Räume? Wie lässt sich virtuelles Handeln methodisch erfassen? Wie kann ein Umgang mit Twitter- oder Facebook-Daten aussehen? Die IRS Spring Academy 2018 hat gezeigt, dass es möglich ist, einen stimulierenden Rahmen für den interdisziplinären, internationalen, konzeptionell und methodisch informierten Austausch zu schaffen. Noch viel mehr aber haben die Doktorand/innen bewiesen, wie dieser Rahmen durch ihr Engagement, ihre Kreativität und Neugier gefüllt werden muss.