23. April | 2020

Krise als Gelegenheit: IRS-Forschung während der Corona-Pandemie

In der Corona-Krise sind wir gezwungen, unsere Alltagsroutinen zu ändern. Digitale Kommunikation und Remote-Arbeit werden wichtiger, neue Umgangsformen etablieren sich, etwa im Einzelhandel. Und selten stand die Leistungsfähigkeit von Infrastrukturen – in diesem Fall die des Gesundheitssystems – so im Zentrum der Aufmerksamkeit wie jetzt. Diese Krise ist damit auch eine Gelegenheit für die raumbezogene Sozialforschung, ganz neue Erkenntnisse zu generieren und, als Seismograph und Impulsgeber, der Gesellschaft bei der Bewältigung der Krise zu helfen. Das IRS justiert seine Forschung kurzfristig neu, um dieser Herausforderung zu begegnen.

Auf der Website des Leibniz-Forschungsverbundes „Krisen einer globalisierten Welt“ heißt es: „In einer globalisierten Welt nehmen Krisen eine neue Qualität an: Als fundamentale Funktionsstörungen ökonomischer, sozialer, politischer oder ökologischer Systeme wirken sie weit über nationale Grenzen hinaus. Unterschiedliche Krisenlagen sind dabei häufig komplex miteinander verflochten. Ihnen zu begegnen, stellt immer höhere Anforderungen an koordiniertes Handeln“. Es liest sich wie eine Vorwegnahme der aktuellen Weltlage. Der Forschungsverbund widmet sich den Fragen, wie Krisen entstehen und wie sie verlaufen, wie sie sich wechselseitig beeinflussen, wie sie wahrgenommen und verarbeitet werden, und schließlich, welche Reaktionsweisen und Lerneffekte aus ihnen resultieren. All diese Fragen sind für die Öffentlichkeit in der aktuellen Krise von großem Interesse. Das IRS ist Teil des Verbundes und wird sich an kommenden Forschungen zur Corona-Krise beteiligen.

In seiner eigenen Krisenforschung hat das IRS sich mit der Frage von Lerndynamiken und Expertenwissen in Krisen beschäftigt. Das von Institutsdirektor Oliver Ibert geleitete Projekt „Resilienter Krisen-Umgang (RESKIU)“ geht der Frage auf den Grund, wie Krisen typischerweise ablaufen, wie sie von den beteiligten Akteuren erlebt und reflektiert werden, und inwiefern Krisen damit als Lerngelegenheiten dienen können. Ein besonderes Augenmerk legt das Projekt auf die Rolle von Beratern und Experten. Auf der Basis dieser Erkenntnisse jetzt hat sich das Institut bereits mehrfach zur Corona-Krise zu Wort gemeldet. In „Crisis Calls“ etwa, dem Videopodcast zur Corona-Krise, diskutiert Ibert das Missverhältnis zwischen einer definitionsgemäß globalen Pandemie und der Dominanz nationaler Lösungsstrategien. In einem Interview mit Leibniz-Transfer erklärt er, wie Experten in Krisen handeln und wie wissenschaftliche Expertise in Krisen am besten wirksam wird – nämlich durch den Mut zur Zuspitzung.

Auch andere Abteilungen des IRS haben in ihren Forschungsprojekte teils enge Bezüge zur aktuellen Krise und nehmen sich des Themas an. Unter der Leitung von Ludger Gailing beschäftigt sich die ehemalige Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“ in ihrem Leitprojekt mit kritischen Infrastrukturen. Konkret geht es dabei um die Frage, wie Infrastrukturnetze zu der Kennzeichnung „kritisch“ kommen – also welche Begründungsmuster im politischen Raum bemüht werden, um Infrastrukturen besonders zu schützen oder zu finanzieren. Geht es um Bedrohungen durch Terroristen oder Cyberwar, um technische Defekte, oder eher um Bedrohungen durch Naturkatastrophen, insbesondere in Folge des Klimawandels? Welche Infrastrukturen stehen im Fokus – Energie, Verkehr, Versorgung? Ergänzend untersucht Felicitas Klemp In ihrem Dissertationsprojekt speziell die kommunalen Diskurse um kritische Infrastrukturen. Kommunen stehen vor der besonderen Herausforderung, dass ihre Infrastrukturen – Wassernetze und Kreiskrankenhäuser etwa – für sie durchaus überlebenswichtig sind, aber meist zu klein sind, um formell als „kritische Infrastrukturen“ anerkannt zu werden. Die aktuellen Entwicklungen, die besonders das Gesundheitssystem ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, werden nun in die laufende Datenerhebung einbezogen. Bereits jetzt ist absehbar, dass die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was als kritische Infrastruktur zu gelten hat, deutlich verschoben haben.

Ein weiteres, sehr nahe liegendes Thema ist die Frage sozialer Innovationen. Das von Gabriela Christmann geleitete Leitprojekt „Smart Villagers“ der ehemaligen Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdynamiken im Raum“ untersucht, wie peripher gelegene Dörfer zu digitalen Lösungen für ihre Probleme kommen – wie etwa mit Hilfe von neuen Apps und mobilen Diensten Versorgungs- und Erreichbarkeitsprobleme angegangen werden. Welche Rolle spielen solche Lösungen für den Umgang mit der aktuellen Krise? Auch auf dem Land gelten die von den Landesregierungen verordneten Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren, und gerade in peripher gelegenen Dörfern können sie zu spezifischen Problemlagen führen. Möglicherweise helfen „digital unterstützte Soziale Innovationen“, wie die neuen digitalen Lösungen im Projekt genannt werden, auch beim Umgang mit der Pandemie. Das Projektteam bezieht diesen Aspekt nun in die aktuelle Forschung ein.