04. April | 2020

„Copenhagenize!"

…lautet eine der Forderungen der im Rahmen des BMBF-Projektes „Stadtquartier 4.0“ befragten Expertinnen und Experten. Die Zunahme von Lieferdiensten ist ein Treiber für Verkehr und Emissionen und führt zum Ruf nach einer ökologischen Wende in der Stadtlogistik. Das IRS erforschte die handlungsbezogenen, regulatorischen und planerischen Bedingungen, unter denen eine nachhaltige Stadtlogistik möglich wird.

Viele Stadtquartiere verzeichnen durch eine prosperierende Stadtlogistik zunehmenden Verkehr und steigende Emissionen. Der Aufstieg von Lieferdiensten und Paketzustellern infolge des boomenden Online-Handels und jüngst der Corona-Pandemie verschärfen den Konflikt um knappen Verkehrsraum. All das verträgt sich schlecht mit den Zielen einer nachhaltigen Stadtentwicklung in Zeiten des Klimawandels, die externe Effekte der Stadtlogistik vermeiden will. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte und nun abgeschlossene Projekt Stadtquartier 4.0 hat sich vor diesem Hintergrund mit der Frage beschäftigt, wie neuartige Logistiklösungen zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen und etabliert werden können. Das in der ehemaligen IRS-Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdynamiken im Raum“ angesiedelte Teilprojekt interessierte sich dabei besonders für die Rahmenbedingungen, unter denen aus eher technischen Logistiklösungen soziale Innovationen werden. Dieses Forschungsinteresse trägt der Beobachtung Rechnung, dass es zwar viele Studien zu technischen Lösungen und regulatorischen Rahmenbedingungen gibt, dabei aber Fragen nach sozialer Akzeptanz und geänderten Denk- und Verhaltensweisen der Menschen im Stadtquartier zumeist außen vor bleiben.

Stadtquartier 4.0 bestand aus zwei Projektbausteinen, einem am Berliner „Holzmarkt“ – einem auf nachhaltige Stadtentwicklung ausgerichteten alternativen Wohn- und Gewerbeprojekt – realisierten Pilotprojekt und einer projektbegleitenden Sozialforschung. Entsprechend dem programmatischen Leitgedanken Transporte zu vermeiden, zu verlagern und verträglicher abzuwickeln, ging es im Pilotprojekt darum, die Ver- und Entsorgung des Holzmarktareals mit seinen rund 250 kreativ, künstlerisch und handwerklich Tätigen ökologisch nachhaltig zu organisieren. Dies sollte durch den Einsatz einer Paketstation mit Mikrodepot (verträglich abwickeln), das Teilen von Fahrzeugen und Gegenständen (verlagern) sowie verschiedene Formen urbaner Produktion gelingen (vermeiden). Die IRS-Begleitforschung untersuchte mit einer Kombination aus qualitativen und quantitativen Methoden die soziale Akzeptanz der neuartigen Logistiklösungen, die Partizipation von Stakeholdern im Realisierungsprozess und die Rahmenbedingungen für eine Veränderung von Denk- und Verhaltensweisen der Nutzerinnen und Nutzer als Grundlage für eine nachhaltige Etablierung der Lösungen.

Die vielleicht auffälligste Erkenntnis ist, dass neuartige Logistiklösungen große soziale Akzeptanz in jungen und kreativen Milieus erfahren, kaum aber in ärmeren Bevölkerungsschichten. Das ist insofern unerwartet, als beispielsweise Angebote zum Teilen von Fahrzeugen und Gegenständen im Vergleich zur individuellen Anschaffung und Unterhaltung Kosten sparen können. Insbesondere Praktiken des Teilens, so schließen wir daraus, sind mit postmaterialistischen Werthaltungen verbunden, die sich eher in jungen, kreativen Milieus finden als in ärmeren Bevölkerungsschichten. Für eine breite Etablierung von Sharing-Angeboten, anbieteroffenen Paketstationen und urbaner Produktion kommt es darauf an, diese Angebote auch für weniger privilegierte Bevölkerungsschichten attraktiv zu machen.

Auch bei den individuellen Denk- und Verhaltensänderungen fand das Projektteam, dass das Sparen von Kosten bislang kaum ein Motiv für die Nutzung neuartiger Logistiklösungen ist. Ausschlaggebend für die Integration der Lösungen in Alltagspraktiken sind vielmehr eine gute Funktionalität und Praktikabilität sowie die Verbindung der Lösungen mit Werten wie ökologische Nachhaltigkeit, handwerkliche Produktion und Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Am Beispiel des Holzmarktes zeigte sich die Wichtigkeit der Faktoren Funktionalität und Praktikabilität für Erfolg und Misserfolg der dort installierten Paketstation-Mikrodepot-Kombination. Während die Paketstation als Zwischenlager für Paketdienstleister eine hohe Praktikabilität hat und rege genutzt wird, ist die Paketstation für die Holzmarkt-Beschäftigten wenig praktikabel, da dies die Auseinandersetzung mit technischen Zugangsprozeduren erfordert und mit der Abholung von Paketen am Empfang des Holzmarktareals eine gern genutzte Alternative zur Verfügung steht. Wertbezogene Motive kommen zum Tragen, wenn im Sinne einer Unterstützung lokaler, ökologischer und handwerklicher Produktion Backwaren in der am Holzmarkt ansässigen Backstube erworben werden, obwohl diese preislich über den Waren in Bäckereiketten und Supermärkten liegen.

Für die breite Etablierung nachhaltiger Logistiklösungen müssen diese aus Sicht der befragten Expertinnen und Experten regulatorisch flankiert werden. Statt der heute üblichen parallelen Distributionsnetze mit dem entsprechenden Verkehrsaufkommen müssten Kommunen auf der letzten Meile eine Bündelung der Lieferwege durch anbieteroffene Paketstationen, Mikrodepots und die emissionsfreie Zustellung per Lastenrad durchsetzen. Mit der Forderung „Copenhagenize!“ wird die Verkehrswende von der autogerechten Stadt zur fahrradfreundlichen und emissionsarmen Kommune auch für den Logistiksektor gefordert. Auf der Nutzerseite sollte etwa nach Ansicht der Befragten Anreize für eine bewusstere Nutzung des Online-Einkaufs geschaffen werden, darunter eine höhere Bepreisung von Haustürzustellungen und das Verbot kostenloser Retouren. Das Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte des Logistikmarktes ist bei den Fachleuten indes sehr gering. Die Etablierung einer nachhaltigen Stadtlogistik ist ohne staatliche Regulierung und kommunale Unterstützung nicht zu erwarten.

Am IRS wurde das Projekt durch Gabriela Christmann, Thorsten Heimann, Ralph Richter sowie die studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräfte Catharina Hemzal, Theresa Kim, Laura Pfirter und Max Söding realisiert.