16. Februar | 2022

Wissenschaftliche Sammlungen: Karte aus dem Jahr 1987 liefert Erkenntnisse zur Binnenwanderung in der DDR

Eine kürzlich (wieder-)entdeckte Karte aus dem Fundus der Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS zeigt deutlich das Ausmaß der Binnenwanderungen in der DDR. Das Kartogramm stammt sehr wahrscheinlich aus der Forschungsleitstelle für Territorialplanung der Staatlichen Plankommission der DDR. Nach deren Abwicklung dürfte sie von deren Mitarbeiterin Gisela Lindenau (1935–1998) mitgenommen worden sein, die ab 1992 einige Jahre am IRS tätig war.

Das seinerzeit wohl unveröffentlichte und nur für den Dienstgebrauch bestimmte Kartogramm „Migration der Bevölkerung über die Kreisgrenzen im Zeitraum 1981–1985“ wurde 1987 vom Institut für Geographie und Geoökologie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Forschungsleitstelle angefertigt. Als Bearbeiter seitens des Akademieinstituts wird Dr. Hans Neumann („H. Neumann“) genannt, der zur Binnenmigration forschte.

Die Karte veranschaulicht die Wanderungsbewegungen innerhalb der DDR in der ersten Hälfte der 1980er Jahre hinsichtlich ihrer Größenordnungen und wesentlichen Richtungen, indem für die Ebene der Landkreise durch verschiedene Einfärbungen kenntlich gemacht wird, wie stark ungefähr die Bevölkerung jeweils wuchs oder abnahm. Ergänzt wird die Darstellung durch Pfeile, mit denen die Hauptrichtungen der wichtigsten Wanderungsbewegungen veranschaulicht werden.

Das Kartogramm zeigt deutlich, dass es in Ostdeutschland schon in der späten DDR-Zeit eine erhebliche Binnenmigration gab. Die Bevölkerung schrumpfte in einigen Regionen stark, ganz besonders in den Nordbezirken, also dem heutigen Mecklenburg-Vorpommern und im östlichen Sachsen. Die wichtigsten Großstädte, die im Wesentlichen den Bezirkshauptstädten entsprachen, verzeichneten hingegen einen Bevölkerungszuwachs. Dabei ragte (Ost-)Berlin, wie in der Karte die vielen Pfeile verdeutlichen, offensichtlich heraus. Die Schwankungsbreite reichte laut der Legende je nach Landkreis von über 8 Promille jährlicher Ab- bis zu über 8 Promille Zunahme der Bevölkerung.

Dass es innerhalb eines Staatsgebiets regionale Gefälle und Wanderungsbewegungen gibt und Menschen aus ländlichen Gegenden in Städte ziehen, verwundert zunächst einmal nicht, und die reinen Zahlen klingen auf den ersten Blick nicht allzu dramatisch. Tatsächlich ist es aber durchaus erheblich, wenn etwa Berlin als DDR-Hauptstadt in den 1980er Jahren fast 1 % Bevölkerung pro Jahr hinzugewann. Wie die Demographin Juliane Roloff 1986 auf einer Tagung ausführte, hatte (Ost-)Berlin damals etwas über 1,2 Millionen Einwohner – bei einem Wanderungsgewinn von jährlich über 10.000 Menschen. Laut ihrer seinerzeitigen Prognose würde noch 25 Jahre später, also 2011, mit einem Zuwachs von ca. 9.000 Menschen pro Jahr zu rechnen sein. Was einer Bevölkerungszunahme von bis dahin mindestens 225.000 Personen entsprochen hätte.

Bekanntermaßen hatte der nicht vorauszuahnende Umbruch ab 1989/90 eine andere Dynamik zur Folge, wobei auch Berlin zunächst Einwohnerinnen und Einwohner in größerer Zahl verlor, ehe seit einigen Jahren das Wachstum in der Stadt und ihrer Umgebung wieder stark nach oben weist und entsprechende Herausforderungen mit sich bringt. Bemerkenswert ist aber, dass die heute vielfach als Problem wahrgenommene Ausdünnung ganzer Landstriche in Ostdeutschland schon in den 1980er-Jahren in einem nennenswerten Umfang einsetzte.

Als wesentlichen Grund für die zunehmende Konzentration der Bevölkerung in den Großstädten und zumal in Berlin nennt der Stadt- und Regionalsoziologe Siegfried Grundmann das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm der DDR, das in deren Spätzeit noch einmal stärker auf Berlin fokussiert war. Viele Menschen entschieden sich schlicht für einen Umzug, teils auch über größere Distanzen, weil sie eine moderne Wohnung wollten.

Wer sich im Hinblick auf die DDR-Geschichte eingehender für raumsoziologische und -planerische, demographische und verwandte statistische Fragen und Erkenntnisse interessiert, findet in den Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS an verschiedenen Stellen reichlich Material. Hierzu gehören an umfangreichen Beständen der Nachlass des besagten Soziologen Siegfried Grundmann (Bestand C 85) und die Vor- bzw. Nachlässe mehrerer Territorialplanerinnen und -planer (wie sie in der DDR genannt wurden), darunter die schon erwähnte Gisela Lindenau (C 32), Olaf Gloger (C 36) und Konrad Scherf (C 37). Hinzukommen die leitfadengestützten Interviews, die Ingrid Apolinarski und Edith Lotzmann 2003/04 mit 40 Akteuren der DDR-Territorialplanung geführt haben (E 3.1). Zur Frage der DDR-Binnenmigration gibt es in Grundmanns Nachlass ergiebige Unterlagen aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Er hat die hier vorgestellte Karte auch in seinem 1998 erschienenen Buch über die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland fast unverändert abgedruckt (auf Seite 106).

Auf ihrer eigenen Internetpräsenz berichten die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS unter der Überschrift „Fund des Monats“ regelmäßig über ein besonderes Objekt oder Dokument aus Ihrem Bestand. Das Kartogramm „Migration der Bevölkerung über die Kreisgrenzen im Zeitraum 1981–1985“ wurde als Fund des Monats für Januar/Februar 2022 vorgestellt.

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